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|ak 671 | Feminismus

Interventionen in die Alltäglichkeit

In Deutschland kommt das Thema Feminizide zu kurz, ein neues Netzwerk will das ändern

Interview: Paul Dziedzic

Eine Frau schaut sich auf einer Wäscheleine aufgehängte Blätter an.
Aktion zur Einweihung des Widerstandsplatzes (Nettelbeckplatz) am 22.Januar in Berlin. Foto: privat

Inspiriert von weltweiten feministischen Bewegungen gründeten Gemeinsam Kämpfen Berlin, Women Defend Rojava Berlin und Dest Dan das Netzwerk gegen Feminizide – Wir wollen uns lebend. Schnell sind weitere Organisationen, wie Ni Una Menos Berlin und KALI feminists dazu gestoßen. Zusammen formulieren sie eine Reihe von Forderungen, sammeln Daten, analysieren und sensibilisieren.

Wie kam euer Netzwerk zustande?

Erica Adel: An anderen Orten, wie in Lateinamerika oder der Türkei, ist das Thema Feminizid schon aufgegriffen worden, aber in Deutschland bleibt es eine Leerstelle, obwohl es hier jeden dritten Tag einen Feminizid gibt. Es heißt, Deutschland sei für Frauen sicher, von der Sicherheit von Menschen anderer Geschlechter ist nicht einmal die Rede. Deshalb haben wir entschieden, dass wir zu Feminiziden arbeiten und außerdem die feministischen Gruppen zu diesem Thema stärker vernetzen möchten. Uns war wichtig, dass wir gemeinsam diskutieren, was es im feministischen Kampf in Berlin braucht – und nicht allein in den drei Initiativgruppen. Menschen sollen sich eingeladen fühlen mitzugestalten.

Sophie Obinger: Viele unterschätzen das Thema Gewalt gegen Frauen, inter, trans und nicht-binäre Menschen in Deutschland. Jeden Tag versucht ein Partner, Ex-Partner oder Liebhaber, die Partnerin umzubringen. Und jede vierte Frau in Deutschland erfährt im Laufe ihres Lebens körperliche Gewalt.

Patricia Machmutoff: Es geht uns auch darum aufzuzeigen, dass Feminizide keine Einzelfälle sind, sondern Ausdruck von Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen, die sich durch die Gesellschaft ziehen.

Foto: privat

Die Interviewpartnerinnen

Erica Adel ist bei Gemeinsam Kämpfen Berlin aktiv. Gemeinsam Kämpfen ist eine internationalistische, feministische Kampagne, die für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie eintritt, inspiriert vom kurdischen Frauenbefreiungskampf. Patricia Machmutoff ist Teil von Ni una Menos Berlin. Das feministische Kollektiv mit antikolonialer und migrantischer Perspektive hat seinen Ursprung in Argentinien und kämpft gegen Feminizide und patriarchale Gewalt. Sophie Obinger ist bei Kali Feminists aktiv (kollektiv, antirassistisch, leidenschaftlich, internationalistisch). Kali entstand 2018 aus dem Streik der studentischen Beschäftigten für einen neuen Tarifvertrag in Berlin und initiierte unter anderem die Kampagne §218 und §219a wegstreiken. Mehr Informationen zum Netzwerk gegen Feminizide gibt es auf netzwerkgegenfeminizide.tk.

Bei der Analyse von Feminiziden habt ihr auch den Staat im Blick.

Sophie: Wir verwenden den Begriff Feminizid, weil wir auch die staatliche Rolle bei einem Mord auf Grund des Geschlechts thematisieren wollen. Feministische Bewegungen überall zeigen seit Langem auf, dass wir in einem patriarchalen System leben, das ein Interesse daran hat, die Ungleichheit auf Grund von Geschlecht aufrecht zu erhalten. In der Praxis zeigt sich das zum Beispiel darin, dass es in Deutschland zu wenig Geld für Frauenhäuser gibt. Diese sind unterbesetzt, das Personal dort arbeitet prekär, obwohl es enorm wichtige Arbeit leistet. Die Hilfehotline BIG e.V. in Berlin hat zum Beispiel nur zwei Leitungen, und wenn die belegt sind, was dann? In Brandenburg verschulden sich Frauen, wenn sie in ein Frauenhaus gehen, weil sie den Aufenthalt selbst bezahlen müssen. Wer trotz nachgewiesenen Bedarfs keine Ressourcen für Gewaltprävention- und Schutz bereitstellt, trägt eine Mitschuld – auch an Feminiziden, die die Spitze der patriarchalen Gewalt sind.

Patricia: In der Berichterstattung werden Feminizide oft entweder für rassistische Erzählungen instrumentalisiert, wenn der Täter Migrant oder PoC ist, oder aber es heißt, es sei Mord aus Liebe, ein Eifersuchts- oder Familiendrama. Ein Begriff wie Feminizid wird hingegen selten gebraucht. Dabei würde es helfen, das Problem ernst zu nehmen. Im Mai haben wir eine Aktion geplant, bei der wir mit Journalistinnen gesprochen haben, die aus feministischer Perspektive schreiben und uns einen Einblick in die Redaktionen geben können. Gibt es Schulungen zu einem gendersensiblen Umgang mit solchen Themen? Haben Journalistinnen selbst digitale Gewalt erlebt, wenn sie über solche Themen berichten? Die Antworten auf diese Fragen teilen wir bei Instagram.

Sophie: Wir haben außerdem im Netzwerk besprochen, welche Arten von Gewalt es gibt und was die Begriffe sind, die diese erklären können. Beim Fall von Kasia Lenhardt beispielsweise haben wir das Konzept des suicidio feminicida, also des feminizidalen Suizids benutzt, das insbesondere von Ni una Menos aus Lateinamerika geprägt worden ist. Lenhardts Ex-Freund, Jérôme Boateng, hatte der reaktionären Bild-Zeitung ein Interview gegeben und behauptet, sie wollte ihn zerstören, er wollte die Beziehung gar nicht, er sei dazu gezwungen worden. Wir fanden es wichtig, da zu intervenieren und zu sagen, dass Boateng, Bild und die männlichen User durch Hatespeech und Cybermobbing Lenhardt in den Tod getrieben haben.

In euren Forderungen werden viele verschiedene Ebenen angesprochen.

Sophie: Unsere Forderungen sind weitreichend, weil die Gewalt alle Bereiche des Lebens durchdringt. Wir wollen letztendlich auch die materiellen gesellschaftlichen Bedingungen so ändern, dass der Gewalt gegen uns die Grundlage entzogen wird.

Strukturen, die wir auf Basis unserer kollektiven Erfahrungen aufbauen, sind Strukturen, auf die ich mich verlassen kann.

Erica Adel

Erica: Wenn wir uns das Beispiel der Frauenhäuser ansehen, erkennen wir, wie wichtig es ist, diese Komplexität an Lebensbereichen und Themen anzusprechen. Menschen ohne sicheren Aufenthalt oder Sozialleistungen etwa erhalten oft keinen Zugang zu Frauenhäusern. Es gibt immer wieder auch Frauen, die abgewiesen werden, weil sie kein Deutsch sprechen. Und obwohl Frauenhäuser aus der feministischen Bewegung hervorgingen, sind sie heute streng staatlich überwacht und reguliert. Sie müssen für ihre Finanzierung so viel bürokratische Arbeit leisten, die die Ressourcen von der eigentlichen Arbeit abziehen. Ein Teil unserer Forderungen ist deshalb eine bedingungslose Finanzierung von Beratungsstellen und Zufluchtsorten. Außerdem wissen wir, dass der Staat kein Interesse daran hat, sich selbst und die Verhältnisse grundlegend so zu verändern, dass sie für alle Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Deshalb wollen wir Selbstorganisierung stärken. Dazu gehört auch, dass Betroffene von sexualisierter und patriarchaler Gewalt ihre Bedarfe selbst bestimmen. Eine solche Veränderung muss von unten kommen, denn Strukturen, die wir selbst auf Basis unserer kollektiven Erfahrungen aufbauen, sind die Strukturen, auf die ich mich verlassen kann. Eine weitere Ebene, auf der unsere Forderungen ansetzen, ist die Präventionsarbeit: ich kann aus meiner eigenen Erfahrung berichten, wie schlecht sexuelle Bildung an der Schule funktioniert. Es fehlt eine Auseinandersetzung mit dem Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, und das Bewusstsein darüber ist enorm wichtig zur Prävention von sexualisierter Gewalt. Menschen, die als Frauen groß werden, wissen nicht, wie ihr Körper aussieht, funktioniert oder dass ihr Körper ihnen allein gehört, und Menschen, die als Männer groß werden, lernen nicht, das zu respektieren. Auch Weiterbildungen für Erwachsene gibt es kaum, was ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Es braucht Interventionen in die Alltäglichkeit, einen besseren Umgang in Arbeitsstätten und in Ämtern.

Gibt es trotz allem Aspekte, auf die ihr euch besonders konzentriert?

Sophie: Da wir uns erst gegründet haben, machen wir gerade alles; Öffentlichkeitsarbeit, Kundgebungen, Workshops und so weiter. Unsere taktische und strategische Ausrichtung bauen wir grade noch aus.

Patricia: Einmal wirkt das Netzwerk nach außen, aber es wirkt auch nach innen; ich habe das Gefühl, wir haben einen sehr solidarischen Umgang miteinander, weil es eine große Pluralität gibt und wir aufeinander eingehen; es gibt kein Machtgefälle oder Hierarchien. Und es ist schön, neue Genoss*innen kennen zu lernen, zusammen auf Demos zu gehen und daraus Kraft zu schöpfen.

Ihr betont, dass ihr internationalistisch seid. Was bedeutet das für euch?

Erica: Die drei Gruppen, die das Netzwerk gestartet haben, haben einen engen Bezug zur kurdischen Befreiungsbewegung, und dort spielt die Befreiung der Geschlechter bekanntlich eine zentrale Rolle. Internationalistisch sein heißt für mich zum Beispiel, dass Kämpfe, die wir hier führen, von Kämpfen anderswo inspiriert sind und wir wiederum Kämpfe anderswo inspirieren. Der Begriff Feminizid wurde von den Erfahrungen der Frauen in Mexiko geprägt, die seit langer Zeit eine Auseinandersetzung gegen den mexikanischen Staat führen, um zu überleben. Wir kriegen das mit, lernen davon und arbeiten damit. Dafür denken wir Besonderheiten der Verhältnisse hier mit, und das wiederum prägt vielleicht Kämpfe anderswo. Wir sehen einander, und wenn es möglich ist, unterstützen wir einander auf unterschiedlichen Ebenen – international eben.