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|ak 657 | Soziale Kämpfe

Maulwurfsarbeit statt hilfloser Appelle

Müssen sich die Gewerkschaften nur mehr trauen und zu politischen Streiks aufrufen? So einfach ist es nicht

Von Kalle Kunkel und Daniel Weidmann

Seit einigen Jahren wird in den sozialen Bewegungen wieder vermehrt über die Möglichkeit des politischen Streiks diskutiert. Zunächst vor allem angeregt durch die großen feministischen (Streik-)Mobilisierungen zum 8. März in Spanien und Lateinamerika, hat die Diskussion mit dem globalen Klimastreikaufruf für den 20. September 2019 noch einmal an Schwung gewonnen. Kurz (leider zu kurz) vor diesen beiden Anlässen wurden auch die Gewerkschaften aufgefordert, zum politischen Streik aufzurufen, und später wegen ihrer weitgehenden Passivität heftig kritisiert.

Daran hat sich eine wichtige und potenziell fruchtbare Debatte entwickelt, die unbedingt fortgesetzt werden muss. Einige Verkürzungen, die zu einer Verhärtung der bestehenden Positionen beizutragen drohen, gilt es dabei aber zu vermeiden.

Die leidige Juristerei

Das betrifft zunächst die juristische Dimension der Auseinandersetzung. Dass es in Deutschland gar kein ausdrückliches gesetzliches Verbot des wilden oder politischen Streiks gibt und die Streikrechtslage bis heute im Wesentlichen durch Urteile vormaliger NS-Richter aus den 1950er Jahren bestimmt ist, hat Uwe Fuhrmann in ak 651 bereits zutreffend herausgearbeitet. (1) Ebenfalls richtig ist sein Hinweis darauf, dass die im Grundsatz bis heute herrschende Interpretation des Artikels 9 Abs. 3 Grundgesetz, nach der zum Streik erstens nur »echte« Gewerkschaften als zweitens letztes Mittel in der Auseinandersetzung gegen einen Arbeitgeber(verband) zur Durchsetzung drittens eines Tarifvertrags aufrufen dürfen, keineswegs zwingend und auch unter Jurist*innen nicht unumstritten ist. Die völker- und europarechtlichen Vorgaben der ILO-Übereinkünfte, der Europäischen Sozialcharta, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta sehen keine dieser drei Beschränkungen des Streikrechts vor. Die Hoffnung, dass ein deutsches Gericht die bisherige Arbeitskampfrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit einer europa- und völkerrechtskonformen Auslegung des insoweit völlig unspezifischen Wortlauts des Art. 9 Abs. 3 GG bereits in naher Zukunft grundlegend in Frage stellt, ist daher keineswegs utopisch. Gewiss ist das aber leider auch nicht. Auch ein Beharren der deutschen Gerichte auf den tradierten Grundsätzen des Bundesarbeitsgerichts ist durchaus vorstellbar. 

Daher muss die Sorge der Gewerkschaften, wegen eines Aufrufs zu einem Streik, mit dem nicht der Abschluss eines bestimmten Tarifvertrags mit einem bestimmten Arbeitgeber(verband), sondern allgemeinere politische Forderungen (z.B. Kohleausstieg, sozialversicherungsrechtliche Absicherung von Haus- und Sorgearbeit) in existentielle Schwierigkeiten zu geraten, leider durchaus ernst genommen werden. Denn wird ein solcher Streikaufruf später durch ein Gericht als rechtswidrig bewertet, ist die Gewerkschaft den vom Streik betroffenen Arbeitgeber*innen zum Ersatz des entstandenen Schadens verpflichtet. Da das Anrichten von wirtschaftlichen Schäden gerade Sinn und Zweck eines jeden Arbeitskampfs ist, können solche Schadenersatzforderungen je nach Branche und Streikumfang schnell mehrere Millionen Euro umfassen – auch bei einem Streikaufruf, der nicht gleich an alle circa 40 Millionen Beschäftigten der Republik gerichtet ist. 

Eine Veränderung des geltenden Richterrechts lässt sich nur über den mühseligen Marsch durch die gerichtlichen Instanzen bewerkstelligen. Bis zu einer rechtskräftigen Klärung einer solchen zermürbenden Auseinandersetzung müssten sich die streikbeteiligten Belegschaften zunächst über mindestens zwei bis drei Jahre gerichtlich gegen ihre Abmahnungen oder sogar Kündigungen wehren. Die zum Streik aufrufende Gewerkschaft müsste während dieses Zeitraums erhebliche finanzielle Rücklagen für etwaige Schadenersatzforderungen bilden. Erst in letzter Instanz stünden die Chancen für eine Erweiterung des Streikrechts dann – abhängig vom genauen Anlass und Verlauf des Streiks – allerdings gegebenenfalls gar nicht so schlecht. 

Experimente auf dem Weg zum politischen Streik

All das macht deutlich, dass diese juristische Auseinandersetzung nicht anhand eines deutschlandweiten Generalstreikaufrufs geführt werden sollte. Dass die Gewerkschaften, hier sehr zurückhaltend reagieren, ist angesichts der existenzbedrohenden Schadenersatzforderungen und der Kündigungen, die ihren streikenden Mitgliedern im Ernstfall drohen, nicht einfach nur Ausdruck einer konservativen Haltung.

Für die offensive Nutzung des Streikrechts bietet es sich viel eher an, Auseinandersetzungen um betriebliche Konflikte mit begrenzter wirtschaftlicher Bedeutung konsequent juristisch zu führen. Dies steht auch viel mehr im Einklang mit den Vorgaben der EU-Grundrechtecharta, die immerhin einen konkreten Bezug der Arbeitskampfforderungen zu den Arbeitsverhältnissen der Streikenden fordert.

Wie schwer selbst so ein Manöver fallen kann, zeigt das Beispiel der juristischen Aufarbeitung des wilden Streiks gegen den Einsatz von Werkverträgen im Bremer Daimler-Werk im Dezember 2014. Damals hatten sich 32 der insgesamt 761 betroffenen Beschäftigten mithilfe einer Gruppe linker Anwält*innen gegen die wegen der Streikbeteiligung ausgesprochenen Abmahnungen gerichtlich zur Wehr gesetzt und dabei mit einiger Verve die europa- und völkerrechtliche Flanke des Rechtsstreits bespielt. Da der Mercedes-Konzern schlussendlich aber alle Abmahnungen zurückzog, konnte das Bremer Landesarbeitsgericht eine Entscheidung in der Sache vermeiden. So blieb die Streikrechtsfrage wiederum ungeklärt, allem Engagement auf Klägerseite zum Trotz.

Welche Hegemonie?

Eine linke Diskussion dieser juristischen Fragen kommt nicht ohne den grundsätzlich zutreffenden Hinweis aus, dass derlei Rechtsfragen am Ende des Tages immer auch gesellschaftliche Machtfragen sind. Tatsächlich belegen zahlreiche Beispiele wilder und politischer Streiks in Deutschland, dass es die Kapitalseite vorzieht, wilde Streikforderungen zu erfüllen und die Streikenden nicht juristisch anzugreifen, wenn dies die Befriedung einer potenziell explosiven Auseinandersetzung verspricht.

Daraus aber zu folgern, dass die Gewerkschaften sich letztlich einfach nur einmal trauen müssten, zu einem Klimastreik oder zum feministischen Streik aufzurufen, weil eine hegemoniale Forderung und die damit einhergehende gesellschaftliche Mobilisierung den Streikenden ohnehin einen stärkeren Schutz biete, als es das Arbeitsrecht je vermögen könnte, halten wir aus verschiedenen Gründen für einen Kurzschluss.

Zunächst spricht vieles dafür, dass diese Forderungen in den Betrieben gar nicht so hegemonial sind, wie es in einigen linken Diskussionen unterstellt wird. Anzeichen dafür, dass sich hierzu eine eigensinnige Dynamik in den Belegschaften entfaltet, gibt es bislang keine. Der vorerst gescheiterte Versuch, die Betrieb(srät)e der Republik während der Klimastreikwoche im November 2019 dazu aufzurufen (2), während der Arbeitszeit wenigstens (!) zu einer völlig legalen Betriebsversammlung zum Thema Klimaschutz einzuladen, illustriert, wie weit der Weg zu einer hegemonialen Position in den Betrieben jedenfalls in dieser Frage noch ist. 

Der Vorwurf, dass all das an der fehlenden Mobilisierung der Gewerkschaften liege, läuft gleich in zweierlei Richtungen ins Leere: Zum einen haben sich die wilden Streiks der Vergangenheit stets aus der Eigendynamik im Streikbetrieb entwickelt. Dabei haben zwar oft gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte eine tragende Rolle gespielt. Die Streiks folgten aber gerade nicht einer offiziellen Agitation der Gewerkschaftsapparate. Dass nun eben eine solche Agitation eingefordert wird, um eine solche Bewegung in den Betrieben überhaupt in Gang zu bringen, deutet nicht gerade darauf hin, dass wir es hier mit einer gesellschaftlichen Eigendynamik zu tun haben, in der rechtsstrategische Erwägungen irrelevant werden, weil sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bereits zu verschieben beginnen.

In den vergangenen Jahrzehnten kam es zu einer weitgehenden Entkoppelung der neuen sozialen Bewegungen von betrieblichen Auseinandersetzungen.

Zum anderen überschätzt die Vorstellung schlicht die gewerkschaftliche Mobilisierungsfähigkeit. Den Gewerkschaften fällt es meist schwer genug, die Belegschaften zu den genuin betrieblichen Brot-und-Butter-Themen wie Lohn, Arbeitszeit u.ä. zu mobilisieren. (3) Selbst die großen Flächenauseinandersetzungen in den größten Dienstleistungssektoren geschehen oft mit recht geringer Streikbeteiligung – jedenfalls gemessen an den Beschäftigtenzahlen. Und dort, wo es erfolgreiche Arbeitskampfbewegungen gibt, sind sie in aller Regel das Ergebnis langfristiger und kleinteiliger Aufbauarbeit mit zahlreichen Zwischenschritten, Belastungstests und kollektiven Mutproben. Yanira Wolf hat im Express aus Anlass des letzten Frauenstreikaufrufs dargestellt, dass ein lapidarer Appell zur Streikbeteiligung diese kleinteilige Mobilisierungsarbeit in den Betrieben nicht ersetzen kann, und konkrete Vorschläge für eine Kampagne zur Einbindung der Gewerkschaften in die Streikaktivitäten zum 8. März unterbreitet. (4)

Wir glauben nicht, dass die politische Mobilisierung in den Betrieben am Unwillen der Gewerkschaften scheitert. Als hauptursächlich sehen wir vielmehr die allgemeine Entpolitisierung der Belegschaften im Zuge des neoliberalen Durchmarschs der letzten vier Jahrzehnte. Dies war nicht zuletzt auch verbunden mit einer weitgehenden Entkoppelung der neuen sozialen Bewegungen von betrieblichen Auseinandersetzungen.

Viele kleine Schritte

Das neu artikulierte Interesse der feministischen und ökologischen Bewegungen am Arbeitskampf ist ein wichtiger erster Schritt, der so entstandenen Entfremdung entgegenzuwirken. Als nächster Schritt müssen diese gesellschaftlichen Fragen überhaupt wieder zum Gegenstand von Diskussionen am Arbeitsplatz gemacht werden – sei es mit klassischen gewerkschaftlichen Aktionsformen wie Flugblättern, mit »aktiven Mittagspausen« oder mit dem Organizing-Werkzeugkasten des Social Movement Unionism. Die inhaltliche Herausforderung besteht dabei darin, nach Verbindungen zwischen den Realitäten am Arbeitsplatz und den genannten gesellschaftlichen Fragen zu suchen. Im Sinne von Frigga Haugs 4:1-Perspektive könnte zum Beispiel nach dem Zusammenhang der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung gefragt werden. Damit lassen sich auch wachstumskritische Perspektiven zusammendenken, wie ein Blick in die Diskussionen etwa aus den autokritischen gewerkschaftlichen Basisgruppen der Automobilindustrie (Plakat-Gruppe, Gewerkschafter ohne Grenzen) in den 1980er Jahren veranschaulicht. Mit diesem Rüstzeug können auch unter den bestehenden Kräfteverhältnissen Ermächtigungshandlungen und Grenzverschiebungen organisiert werden.

Eine erste praktische Zielperspektive und Test für die Mobilisierungsfähigkeit könnten dabei tatsachlich die bereits angesprochenen Betriebsversammlungen sein, an der alle Beschäftigten während der Arbeitszeit teilnehmen dürfen. Diese müssen zwar ohnehin vier Mal im Jahr durchgeführt werden. Viele Betriebsräte überfordert das aber bereits. Solange sich ein Bezug zum Betrieb herstellen lässt, ist die Diskussion gesellschaftlicher Themen ausdrücklich gestattet. Externe Redner*innen können als »Expert*innen« geladen werden. Und wenn der Zeitpunkt für die Versammlung geschickt gewählt ist, kann die Belegschaft von dort aus geschlossen zu Protestkundgebungen fahren. Das mag legalistisch und langweilig klingen, würde jedoch in vielen Betrieben für eine Menge Unruhe sorgen. Neben dem materiellen Arbeitsausfall wäre auch die damit einhergehende (Re-)Politisierung der Betriebsratsarbeit vielen Unternehmern ein Dorn im Auge. Die Belegschaft würde darüber lebhaft diskutieren. Der Betriebsrat und die ihn unterstützende Gewerkschaft müssten sich daher zwingend positionieren. Im besten Fall würden die Kolleg*innen Geschmack finden an dieser Möglichkeit, sich in die politische Debatte einzubringen, und solche Versammlungen künftig selbst einfordern. Dies würde auch die Spielregeln für die Diskussionen um den politischen Streik nachhaltig verändern.

Eine Strategie, die in diesem Sinne auf eine allmähliche Grenzverschiebung setzt, erscheint uns allemal fruchtbarer als das Wechselspiel von (kurzfristigen) Streikaufrufen und anschließender Enttäuschung und Kritik, die die bisherige Dynamik prägen.

Kalle Kunkel

ist aktiv in der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen.

Daniel Weidmann

Daniel Weidmann arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin.