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Mali vor dem Umbruch

Die Bewegung 5. Juni mobilisiert seit Wochen massiv gegen die Regierung. Gründe dafür gibt es genug

Von Bernard Schmid

Eingang zum Parlamentsgebäude mit den Lettern Assemblee Nationale du Mali, die Lettern und die Glasfront sind beschädigt. Davor ein brennendes Auto und lose Blätter
Bei den massiven Demonstrationen zwischen dem 10. und 12. Juli zündeten Protestierende das Parlamentsgebäude an. Foto: Screenshot YouTube

Am 11. August folgte die Bevölkerung in Mali erneut den Aufrufen zu Massendemonstrationen. Bisher gab es eine vorübergehende Pause, um den 17 bis 20 Toten der letzten Proteste zu gedenken und das muslimische Opferfest zu begehen.

Seit dem ersten Tag des letzten Protestzyklus am 5. Juni dieses Jahres häufen sich die Demonstrationen und Kundgebungen gegen den amtierenden Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta, allgemein »IBK« genannt. Das heterogene Oppositionsbündnis hinter den Protesten nennt sich deswegen auch »Bewegung des 5. Juni – Sammlung der patriotischen Kräfte« (M5-RPF). Mittlerweile ruft es zum offenen zivilen Ungehorsam im Land auf. Ziel ist es, Staatspräsident »IBK« zum Rücktritt zu drängen.

Auslöser waren die Parlamentswahlen

Ein wichtiger Auslöser für das Lautwerden von Unmut bildeten die Parlamentswahlen, die die Staatsführung unter »IBK« am 29. März im ersten und am 19. April dieses Jahres im zweiten Wahlgang, also mitten in der Corona-Krise, abhalten ließ. Zugleich ergriff die Regierung Maßnahmen, die weitgehend eine Kopie der bei der Ex-Kolonialmacht Frankreich verfügten Ausgangsbeschränkungen darstellten und auch nahezu zeitgleich mit dem französischen Lockdown gelockert wurden. Entsprechend gering fiel der Enthusiasmus in der Bevölkerung aus, wo vielfach spöttisch von der Wahl von »Corona-Abgeordneten« gesprochen wurde. Die Wahlbeteiligung fiel niedrig aus; ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Beobachtergruppen bezifferte sie auf 23 Prozent.

Als die offiziellen Wahlergebnisse vom 19. April verkündet wurden, wies sich die Präsidentenpartei RPM (Sammlung des malischen Volkes) plötzlich eine zweistellige Zahl von Sitzen zusätzlich zu denen zu, die die Zahlen des Innenministeriums angekündigt hatten. Die Sitzverteilung und die offiziellen Wahlresultate wurden beim – nicht unbedingt als regierungsunabhängig geltenden – Verfassungsgericht von der Opposition angefochten, jedoch ohne Erfolg. Umgekehrt gab das Verfassungsgericht jedoch Klagen aus dem Regierungslager, das seinerseits juristisch gegen die Wahl von Abgeordneten der Opposition vorging, Recht. Prompt gründeten mehrere, durch den mutmaßlichen Wahlbetrug verhinderte Parlamentsmitglieder ein »Kollektiv der vom Volk gewählten und vom Verfassungsgericht bestohlenen Abgeordneten«. Daraufhin kam es zu ersten Protesten. Mittlerweile ist das Verfassungsgericht auf Druck der Opposition neu besetzt worden.

Seitdem ist eine heterogene Koalition entstanden, die die Bevölkerung mobilisiert. Mehrere Zehntausend Menschen demonstrierten erstmals am 5. Juni dieses Jahres nach dem Freitagsgebet auf dem »Platz der Unabhängigkeit« im Zentrum der Hauptstadt Bamako. Sie alle einten politische, aber für die meisten Beteiligten auch soziale Anliegen wie die dramatische Unterfinanzierung von Schulen und Krankenhäusern, die häufigen Unterbrechungen der Stromversorgung, fehlende Arbeitsmöglichkeiten für die auf den Arbeitsmarkt drängende Jugend. Die grassierende, quasi um Regierungssystem verankerte Korruption anzuprangern, gehörte und gehört zum Allgemeinkonsens.

Eine breite Bewegung ist entstanden

Die zwei Hauptredner am 5. Juni zählten zu ziemlich unterschiedlichen Lagern. Einer von beiden, der Imam Mahmoud Dicko, war bis 2017 einer der engsten Verbündeten von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta. Letzterer wurde im August 2013 erstmals gewählt und 2018 im Amt bestätigt.

Bei seiner ersten Wahl verhalf Dicko ihm zu viel Zulauf von Stimmberechtigten aus dem religiösen oder sozial konservativen Lager. Damals stand er dem »Hohen Islam-Rat« (HCI) vor, einer Vertretung des in die staatlichen Institutionen eingebundenen Klerus. Im April 2019 trat er – wahrscheinlich aufgrund der wachsenden Unbeliebtheit der Regierung – von diesem Amt zurück. Im darauffolgenden September gründete er eine neue Organisation, die CMAS (»Koordination der Bewegungen, Vereinigungen und Sympathisanten«), mit der er gegen die Regierung opponiert. Einen Versuch der Regierung, ihn in der Nacht vom 10. zum 11. Juli zu verhaften, konnten Anwesende verhindern.

Der andere Hauptredner, Clément Dembélé, ist ein 46-jähriger Hochschullehrer. Bekannt wurde er vor allem als Anti-Korruptions-Aktivist. Er appelliert an die Zivilgesellschaft und ihren steigenden Unmut. Aufgrund seiner lauten Kritik wurde er schon am 9. Mai auf außergesetzliche Weise durch die Generaldirektion für Staatssicherheit (DGSE) – einen Inlandsnachrichtendienst – vierzehn Tage lang verhört und am 23. Mai wieder freigelassen. Dieses »Kidnapping«, wie viele es nennen, löste seinerseits Protest aus.

Hinter beiden und den zahllosen anderen Protestierenden der Bewegung des 5. Juni steht eine breite Koalition von Oppositionskräften, unter ihnen unterschiedliche parlamentarische Parteien, NGOs und religiöse Gruppen. Ihr gehören unter anderem die CMAS, aber auch das oppositionelle Parteienbündnis »Front für die Rettung der Demokratie« (FSD) oder die bürgerinitiativenähnliche Vereinigung »Espoir Mali Koura« (Hoffnung neues Mali) an. Aber auch die früher maoistische, heute eher linksnationalistische Partei SADI zählt dazu, auch wenn es – anscheinend infolge interner Umorientierungsdebatten – um ihren Vorsitzenden Oumar Mariko in jüngerer Zeit etwas stiller wurde.

Einen vorläufigen Höhepunkt erfuhren die Proteste in dem westafrikanischen Land zwischen dem 10. und 12. Juli, als Protestierende das Parlamentsgebäude anzündeten und das staatliche Fernsehen attackierten. Im selben Zeitraum ging auch eine »Anti-Terror«-Eliteeinheit der Polizei gegen die Menge vor, mit zum Teil tödlicher Gewalt. Telefon- und Internetverbindungen waren durch die Behörden vielfach unterbrochen worden. Zum wiederholten Male fanden am 10. Juli massive Demonstrationen in der Hauptstadt Bamako und – in geringerem Ausmaß – in weiteren Städten wie Kayes im Westen, Mopti im Zentrum und Sikasso im Südosten statt.

Unterdessen scheiterte ein Vermittlungsversuch der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO). Fünf ihrer Staatspräsidenten aus den Mitgliedsstaaten Senegal, Côte d’Ivoire, Ghana, Niger und Nigeria reisten am 16. Juli in die malische Hauptstadt Bamako, um dort als Vermittler aufzutreten. Am 19. Juli hatten sie ihre Kompromissvorschläge vorgelegt, die unter anderem auf die Bildung einer Einheitsregierung aus Regierungslager und Oppositionskräften hinausliefen. Doch am folgenden Tag reisten sie unverrichteter Dinge wieder ab.

Mahmoud Dicko als Verhandlungspartner

Internationale Akteure setzen allem Anschein nach darauf, vor allem Mahmoud Dicko in Verhandlungen einzubinden. Ihn trafen Vertreter*innen der Afrikanischen Union, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft CEDEAO sowie der UN-Truppe für Mali, MINUSMA, am 8. Juni dieses Jahres – drei Tage nach den ersten Massenprotesten – offiziell. Im Juli sprach der französische Strategieforscher Serge Michailof in der Tageszeitung Le Monde davon, Mahmoud Dicko drohe einerseits, Frankreichs Einfluss in der Region – eventuell zugunsten Russlands und Chinas – zurückzudrängen, biete der französischen Armee andererseits jedoch die Perspektive, den Konflikt mit den noch immer im Norden Malis bewaffnet kämpfenden, teilweise die Bevölkerung terrorisierenden dschihadistischen Milizen beilegen zu können. Dies erlaube der Armee Frankreichs eventuell, über eine Exit-Perspektive zu verfügen, fügte Michailof hinzu.

Die Proteste dürften weitergehen, wobei die so genannte internationale Gemeinschaft darauf zu setzen scheint, die Einbindung einer Person wie Mahmoud Dicko könne die Lage stabilisieren. Sollte er jedoch an die Macht kommen, dürfte er auf stärkere Distanz zur politisch im Land ziemlich präsenten früheren Kolonialmacht gehen, sich auf die Golfstaaten und eventuell auch direkt oder indirekt auf Wladimir Putin und Russland stützen.

Wie oft in solchen Fällen, versuchen islamistische Kräfte sich dabei zugleich als Protestkraft gegen das Bestehende, aber auch als Partei der Ordnung zu profilieren. Das erklärt die Manöver von Mahmoud Dicko, der die übrigen Protestierenden eher bremst und sich »verantwortungsbewusst« zu zeigen versucht. Auch nach der bisher heftigsten Protestwelle rief Dicko am 12. Juli seine Anhängerschaft erneut zur Ruhe auf. Sein Einfluss im Augenblick dürfte nicht zu unterschätzen sein, dennoch repräsentiert er sicherlich nicht alle Protestierenden, und ihre Forderungen könnten zum gegebenen Zeitpunkt auch in Widerspruch zu seiner Strategie oder seinen Machtambitionen geraten. Derzeit ist es noch nicht so weit. Dickos Popularität wächst durch die Repression gegen ihn eher.

Bernard Schmid

ist Anwalt und Publizist in Paris.