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War Lenin ein Campist?

Nicht einmal der Urheber des Konzepts selbst wusste, was sein »revolutionärer Defätismus« eigentlich bedeuten sollte – er ließ es fallen, und das sollten wir auch tun

Von Alex Stout

Schwarzweißfoto von Lenin, der auf einem Holzpodest stehend auf einem Platz eine Rede hält, Hunderte Männer, viele in Uniform, hören zu
Lenin änderte seine Position zum Krieg zwischen 1914 und 1918 mehrfach. Zum Zeitpunkt dieser Rede im Mai 1920 in Moskau war der sowjetisch-polnische Krieg in vollem Gange. Grigory Petrovich Goldstein, Public domain, via Wikimedia Commons

Lenin wird heute oft zustimmend zitiert, um »campistische« Positionen in der US-Linken zu unterstützen: Positionen, die versuchen, den US-Imperialismus wirksamer zu bekämpfen, indem sie die Verbrechen der Regime, die sich ihm widersetzen, herunterspielen oder ignorieren. Dieses geopolitische Lagerdenken kann sich darin ausdrücken, imperialistisches Handeln solcher Regierungen zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, oder einfach Kritik an solchen Regimen nicht zu äußern, um dem US-Imperialismus nicht »in die Hände zu spielen«. Campism taucht in der Linken immer dann auf, wenn ein Regime in einen Konflikt mit dem US-Imperialismus verwickelt ist, insbesondere wenn die betreffende Partei oder Regierung behauptet, den Kampf für Sozialismus in ihrem Land zu vertreten. Campisten mögen viele verschiedene Gründe für ihre jeweiligen Positionen haben, aber sie landen am Ende bei der Verteidigung jenes Lagers, das gegen den US-Imperialismus steht. Ist das wirklich die Position, die wir als Antiimperialist*innen einnehmen sollten?

Lenin schlug während des Ersten Weltkrieges den Marxist*innen in den imperialistischen Ländern, die sich im Krieg miteinander befanden, vor, die militärischen Niederlage eben dieser Länder zu fordern. Daraus scheint sich zu ergeben, dass er der Meinung war, wir sollten uns in einem Krieg auf die jeweils andere Seite stellen, selbst wenn es sich dabei ebenfalls um eine imperialistische Macht handelt. »Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nicht anders als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen«, schrieb Lenin 1915, ein Jahr nach dem Eintritt des zaristischen Russlands in den Krieg. »Niederlage« bezog sich hier eindeutig auf eine militärische Niederlage. Gleichzeitig wusste Lenin, dass ein Eintreten für den Sieg irgendeiner herrschenden Klasse bedeuten würde, keine klare Position für die Arbeiter*innenklasse einzunehmen. Seine wechselnden Formulierungen im Laufe der folgenden Jahre waren das Ergebnis seines Ringens mit diesem Widerspruch.

Trotz einiger Unklarheiten in seinen Formulierungen stand Lenins Ansatz allerdings in fundamentalem Widerspruch zu dem, was wir heute als Campism bezeichnen.

Opposition zum Chauvinismus

Lenin war politisch kein sanftmütiger Mensch und hatte gewiss keine Geduld für Chauvinismus, also kriegstreiberischen Nationalismus. Er brachte ein Problem routinemäßig auf den Punkt, stellte fest, »was zu tun ist«, um den Kampf für Sozialismus voranzubringen, und bezog eine dann manchmal über-korrigierende Gegenposition, um die Bolschewiki, seine politische Strömung innerhalb der Arbeiter*innenbewegung, zu der aus seiner Sicht notwendigen Haltung zu bringen.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, knickten die meisten sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien der Zweiten Internationale unter dem Druck ein. Sie verrieten die sozialistische Bewegung und stellten sich zur Verteidigung ihrer jeweiligen Länder hinter »ihre« Kapitalistenklasse. Lenin war angewidert: Dieser Sozialchauvinismus (sozialdemokratisch in Worten, chauvinistisch im Inhalt) war eine tödliche Krankheit, die die Bewegung für Sozialismus völlig zerriss, der nur auf einer internationalistischen Basis, gegen den imperialistischen Krieg, erkämpft werden konnte. Selbst Karl Kautsky und das so genannte »marxistische Zentrum« der deutschen Sozialdemokratie versanken in Passivität und krümmten sich unter dem Druck der Kriegspropaganda. In den meisten Ländern bejubelten die sozialistischen Parteien nun die nationalistischen und chauvinistischen Parolen vom »Sieg« der herrschenden Klassen in dem zwischenimperialistischen Krieg.

Vor diesem Hintergrund sind Lenins Äußerungen zu verstehen. Er sagte: Nun denn, wir sind für die entgegengesetzte Position: Wir sind für die NIEDERLAGE unserer eigenen Länder!

Diese Idee, die später als »revolutionärer Defätismus« bezeichnet wurde, war ein guter Instinkt, aber eine schlechte Formulierung. Wie Hal Draper 1953/54 in seinem Artikel »The Myth of Lenin’s ›Revolutionary Defeatism‹« herausarbeitete, war sich Lenin selbst zwischen 1914 und 1916 nicht ganz sicher, was sie genau bedeutete; stattdessen führte er vier verschiedene Formulierungen ein, die er abwechselnd verwendete, wobei jede eine andere Bedeutung hatte und einer marxistischen Kritik kaum stand hielt.

Draper fasste sie so zusammen:

»Nr. 1: Die spezifische russische Position: Die Niederlage Russlands gegen Deutschland ist das ›kleinere Übel‹. Nr. 2: Die objektive Feststellung, dass ›eine Niederlage die Revolution erleichtert‹. Nr. 3: Die Parole: Wünscht die Niederlage in jedem Land. Nr. 4: Nicht vor dem Risiko einer Niederlage zurückschrecken. Dies sind vier verschiedene politische Ideen. Nur drei von ihnen sind für die internationale Bewegung von Bedeutung. Nur zwei von ihnen beinhalten den Wunsch nach einer Niederlage (1 und 3). Nur eine von ihnen kann tatsächlich als ›Losung‹ formuliert werden (3). Welche Bedeutung hat Lenins Position, wenn man annimmt, dass alle Formulierungen zusammen einen in sich konsistenten Sinn ergeben? Die Wahrheit ist, dass Lenin von diesem Punkt an mit allen vier Formulierungen und Bedeutungen jonglierte, je nach Ziel seiner Polemik und Zweckmäßigkeit.«

Lenin suchte nach einer Möglichkeit, die internationalistische Position deutlich von der sozialchauvinistischen Position abzugrenzen, und er war der Meinung, dass dieser Unterschied in irgendeiner Weise mit der Losung der »Niederlage« verbunden sein müsse.

Im Grunde war dies ein Versuch, die modernen Bedingungen der imperialistischen Phase des Kapitalismus mit den alten marxistischen Methoden des 19. Jahrhunderts in Einklang zu bringen. Was ist damit gemeint? Im 19. Jahrhundert, als der aufstrebende Kapitalismus noch gegen mächtige Überreste des reaktionären Feudalismus kämpfte, konnten Marxist*innen in Kriegen zwischen konkurrierenden herrschenden Klassen oft die fortschrittlichere Seite ausmachen und die internationale Arbeiter*innenklasse dazu aufrufen, sich mit den fortschrittlicheren Kapitalisten zusammenzutun, die Niederlage des reaktionäreren Regimes zu unterstützen und so den Weg für erweiterte demokratische Rechte freizumachen, die Arbeiter*innen in ihrem Kampf für den Sozialismus nutzen konnten. So unterstützte Karl Marx etwa im amerikanischen Bürgerkrieg den kapitalistischen Norden gegen die Sklavenhalter im Süden.

Mit dem Ersten Weltkrieg waren die einstmals fortschrittlichen Merkmale der frühen Kapitalistenklasse jedoch in den führenden imperialistischen Ländern verschwunden. Die Welt war zwischen verschiedenen kapitalistischen Mächten aufgeteilt, was bedeutete, dass jeder Versuch, den Zugang zu Märkten, Arbeitskräften und Rohstoffen zu verändern, zu Konflikten führte, auch zu militärischen Auseinandersetzungen in Form von Stellvertreterkriegen und zwischenimperialistischen Kriegen. Der Erste Weltkrieg war Ausdruck dieses neuen imperialistischen Stadiums des Kapitalismus, ein Versuch, eine bereits vollständig vernetzte und von den großen kapitalistischen Mächten beherrschte Welt neu aufzuteilen.

In der imperialistischen Ära sind die Bedingungen des modernen Kapitalismus grundlegend andere als zuvor, und ein klassenbasierter Ansatz erfordert eine andere Methode als noch im 19. Jahrhundert. In einem Konflikt zwischen imperialistischen Mächten gibt es keine fortschrittliche Seite, egal ob er durch Stellvertreter oder direkt ausgetragen wird. Es gibt nur die Verheerungen des Krieges, unabhängig davon, welcher Teil der herrschenden Klasse als Sieger hervorgeht.

Weder Sieg noch Niederlage

Die Alternative, für die Marxist*innen wie Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki seit Beginn des Ersten Weltkriegs eintraten, war das Versprechen eines Sozialismus, der durch einen revolutionären Kampf der internationalen Arbeiter*innenklasse gegen das gesamte kapitalistische System errungen wird.

Luxemburg und Trotzki sagten: Der beste Weg, den Ersten Weltkrieg zu beenden, bestehe darin, den imperialistischen Krieg in einen Aufstand der Arbeiter *innenklasse zu verwandeln; den Konflikt entlang der Klassenlinien statt der nationalen Linien neu auszurichten.

Sie sagten: Der beste Weg, den Ersten Weltkrieg zu beenden, bestehe darin, den imperialistischen Krieg in einen Aufstand der Arbeiter*innenklasse zu verwandeln; den Konflikt entlang der Klassenlinien statt der nationalen Linien neu auszurichten. Es stimmt, dass »der Hauptfeind im eigenen Land steht«, weil wir in unseren Heimatländern mehr Einfluss haben als anderswo. Aber unsere Fähigkeit, der Kapitalistenklasse wirksam entgegenzutreten, wird durch jedes Versäumnis untergraben, die Dinge so zu beschreiben, wie sie tatsächlich sind – auch durch jeden Versuch, die herrschende Klasse irgendeiner Nation zu unterstützen. Anstatt sich im militärischen Krieg zwischen reaktionären Kräften für eine Seite zu entscheiden, plädierten Luxemburg und Trotzki für einen revolutionären Kampf gegen den Krieg und gegen alle Bedingungen, die ihn hervorgebracht haben.

Wenn wir uns zusätzlich zu »unserer eigenen« nicht auch gegen die herrschende Klasse eines anderen Regimes stellen oder wenn wir zur »Niederlage« unserer eigenen herrschenden Klasse durch die andere aufrufen, verschleiern wir die Klassenlinien des Konflikts (ganz zu schweigen davon, dass eine solche Position uns von der breiteren Arbeiter*innenklasse »zu Hause« entfremdet).

Wie Draper sorgfältig nachgezeichnet hat, ging Lenin im russisch-japanischen Krieg 1904–1905 von der direkten Anwendung der überholten Methode und der Einnahme einer campistischen (pro-japanischen) Position zum Versuch über, zwischen 1914–1916 eine nicht-campistische, aber dennoch »defätistische« Position zu finden, indem er mehrere widersprüchliche Formulierungen der Idee des »revolutionären Defätismus« verwendete, bis er die Idee 1917 ganz fallen ließ. Lenin übernahm schließlich vollständig den Ansatz von Luxemburg und Trotzki, die nie die Notwendigkeit gesehen hatten, sich an defätistische Parolen zu binden, um prinzipientreue Internationalist*innen zu sein. Die ganze Zeit über schafften sie es, für das zu sein, was Lenin für unmöglich erklärt hatte (bevor er es selbst unterstützte): einen konsequenten kriegsgegnerischen, nicht-defätistischen Sozialismus.

Landesverteidigung von unten

Angesichts der Sehnsucht der Massen in Russland im Jahr 1917 nach Frieden und einer Verteidigung gegen die Bedrohung durch die siegreiche deutsche Armee, die große Teile des Landes besetzt hielt, entdeckte Lenin einen neuen Ansatz. Die Verteidigung des Landes, wie sie von den Arbeiter*innen in wirklich defensiver Weise zum Ausdruck gebracht wird, steht im Gegensatz zu allen Sozialchauvinist*innen, die ihr Land in einem imperialistischen Krieg unterstützen.

Anstatt der nationalistischen, chauvinistischen »Vaterlandsverteidigung« einen »Defätismus« entgegenzusetzen, setzte Lenin dem »Verteidigungskampf« von oben, von den Kapitalisten und ihren sozialchauvinistischen Unterstützer*innen, nun einen »Verteidigungskampf« von unten entgegen: einen Verteidigungskampf, der den Wunsch nach Frieden ohne Annexionen mit der sozialistischen Revolution verband und für beide Ziele organisierte.

In seiner Rede auf dem Außerordentlichen Vierten Allrussischen Sowjetkongress im März 1918 sagte Lenin, dass eine solche von den Arbeiter*innen angeführte Verteidigung die »Taktik der Verteidigung des Vaterlandes anzuwenden hätte – aber nicht des Vaterlandes der Romanows (des Zaren und seiner Familie), der Kerenskys (des Führers der prokapitalistischen russischen Provisorischen Regierung zwischen Juli und Oktober 1917) oder Tschernows (eines Führers des rechten Flügels der Sozialrevolutionäre), eines Vaterlandes mit Geheimverträgen, eines Vaterlandes der verräterischen Bourgeoisie – nicht dieses Vaterlands, sondern des Vaterlands der arbeitenden Menschen.« Selbst in einer solchen Situation kann man immer noch mit Recht behaupten, dass »der Hauptfeind im eigenen Land steht«. Aber man muss nicht für die militärische Niederlage einer Seite in einem reaktionären Krieg eintreten – das zu tun, kann sogar zu einem unnötigen Hindernis für den Sozialismus werden.

Das bedeutet nicht, dass wir Lenins Gedanken vom März 1918 einfach auf jeden beliebigen Krieg heute übertragen können. Der Krieg in der Ukraine zum Beispiel hat zwei widerstreitende Merkmale: Ganz offensichtlich kämpft die Bevölkerung der Ukraine für Selbstbestimmung gegen die russische imperialistische Invasion. Gleichzeitig ist der Krieg auch ein Konflikt zwischen dem (viel stärkeren) westlichen imperialistischen Block und seinem russischen imperialistischen Rivalen. Beide Dimensionen dieses Krieges müssen ernst genommen werden, wenn wir eine marxistische Position finden wollen.

Der bewaffnete Widerstand des ukrainischen Volkes gegen die russische Invasion ist gerechtfertigt. Wenn jedoch die USA und andere imperialistische Länder wie Deutschland Waffen an die Ukraine schicken und offen die Kriegsziele mitbestimmen wollen, können wir den imperialistischen Charakter dieses Eingreifens nicht ignorieren. Sie unterstützen eine korrupte, Nato-freundliche, kapitalistische Regierung in der Ukraine und verfolgen damit natürlich eigene (imperialistische) Interessen, auch dann, wenn sie diesen Krieg nicht gewollt haben.

Die »defätistische« Haltung hilft uns nicht weiter und lenkt bestenfalls von dem ab, was wir wirklich sagen wollen: Die Niederlage Russlands durch die Nato-Selenskyj-Achse würde das aggressivste Militärbündnis auf diesem Planeten ermutigen; andererseits bedeuten die Niederlage der Nato-Selenskyj-Achse und ein Sieg Russlands die Unterdrückung des ukrainischen Volkes. Keine der beiden »defätistischen« Positionen sollte von einer Bewegung der Arbeiter*innenklasse unterstützt werden, und es macht auch keinen Sinn, beide gleichzeitig zu unterstützen. Andererseits sollten wir die ukrainische Bevölkerung bei ihrer Verteidigung gegen die russische Invasion unterstützen wollen! Eine »defätistische« Position ist völlig ungeeignet, um zu klären, wie wir die ukrainische Arbeiter*innenklasse unterstützen und gleichzeitig den Imperialismus bekämpfen können.

Es führt uns in eine Sackgasse, die alte Idee des »revolutionären Defätismus« wiederzubeleben, ganz so, als ob Lenin sich nie mit neuen Ideen hätte auseinandersetzen müssen und immer unfehlbar gewesen wäre. In Wirklichkeit war diese Position schon immer das Ergebnis mangelnder theoretischer Klarheit und führt auch heute zu nichts Gutem.

Es ist an der Zeit, dass wir aus Lenins Entwicklung in dieser Frage unsere Schlussfolgerungen ziehen und uns von den wenig hilfreichen Dogmen verabschieden, die echter internationaler Solidarität im Wege stehen.

Alex Stout

ist Mitglied von DSA (Democratic Socialists of America) und des Reform & Revolution Caucus. They ist Vorsitzende*r des DSA-Komitees für Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit in Phoenix.

Übersetzung: ak