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Frauen in der ersten Reihe

Feministische Gruppierungen spielen beim Aufstand in Chile eine zentrale Rolle

Von Juliana María Rivas Gómez und Eleonora Roldán Mendívil

Performance des feministischen Kollektivs Las Tesis am 25. November in Santiago de Chile. Foto: Youtube (Screenshot)

Mitte Oktober kündigte die chilenische Regierung von Sebastián Piñera eine Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel an. Die 30 Pesos (0,03 Euro) Preiserhöhung waren der Auslöser für Schüler*innen dazu aufzurufen, die U-Bahn der Hauptstadt Santiago zu blockieren. Es blieb nicht bei den Blockaden: Schnell entwickelte sich eine kraftvolle Bewegung. Die Bevölkerung protestierte nicht nur gegen den Anstieg der Transportpreise, sondern gegen das gesamte neoliberale System in Chile, das seit dem Beginn der Diktatur 1973 errichtet worden war. Der Aufstand richtet sich unter anderem gegen prekäre Gehälter, miserable Renten, ein mangelhaftes Gesundheitssystem und unbezahlbare Bildung. Jeden Tag gehen weiterhin Tausende auf die Straße. Am 12. November fand der größte Generalstreik seit dem Ende der Militärdiktatur statt. Am 25. und 26. November zeigten auch die Beschäftigen von Schlüsselsektoren, wie die Hafenarbeiter, dass eine große Mehrheit im Land sagt: Genug ist genug! Nun werden feministische Forderungen nicht mehr außerhalb dieses Rahmens verhandelt.

Gewalt und Femizide in Chile

Wie auf der ganzen Welt sind Femizide, Morde an Frauen durch Partner oder Ex-Partner, integraler Bestandteil der kapitalistischen Moderne Chiles. Das Ministerium für Frauen und Geschlechtergerechtigkeit des Landes zählte dieses Jahr bereits 99 vereitelte und 41 vollzogene Femizide allein bis zum 27. November 2019. Einer der beunruhigendsten Fälle ist der brutale Mord an Albertina Martínez Burgos. Die 38-jährige Journalistin wurde am 22. November in ihrer Wohnung in der Innenstadt von Santiago erstochen aufgefunden. Martínez Burgos dokumentierte Polizeigewalt gegen die Presse und insbesondere gegen Frauen. Ihre Familie erklärte, dass sich weder Martinez Burgos‘ Computer noch ihre Kamera in ihrer Wohnung befanden. Ni Una Menos Chile und Aktivist*innen sind sich sicher, dass Albertina Martínez Burgos von denselben Polizist*innen ermordet wurde, über die sie recherchierte – möglicherweise die gleichen, die nun mit den Mordermittlungen befasst sind.

Das chilenische Nationalinstitut für Menschenrechte zählt im Zusammenhang mit dem Aufstand bis zum 21. November 26 Tote, 2.300 Verletzte, 287 Menschen mit schwerem Augenverletzungen (von gezielten Schüssen in Augenhöhe mit Gummigeschossen und Tränengaskartuschen), 1.100 Folterfälle und 70 Fälle von sexuellem Missbrauch von Frauen durch die Repressionsorgane. Auf Seiten wie La Izquierda Diario Chile, unter der Rubrik Geschlechter und Sexualitäten, ist das brutale Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Queers sichtbar.

Feminismus und Massenaufstand

In Chile hat das hohe Niveau feministischer Organisierung die Forderungen nach einer radikalen Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesondere für arme Frauen und Queers, mit Leben gefüllt. Seit einigen Jahren stehen feministische Kämpfe als soziale und populäre Bewegung im Mittelpunkt des politischen Lebens in Chile. Die riesigen Märsche am 8. März sind Beispiele dafür, wie diese Bewegung kämpft, um Frauenrechte in die öffentlichen Debatte einzubringen. Heute spielen Frauen und Queers eine führende Rolle in der öffentlichen Diskussion, zum Beispiel über sexuelle und reproduktive Rechte. Gleichzeitig haben konservative moralische Positionen, wie sie etwa rechte Politiker*innen und die Kirche vertreten, immer noch großen Einfluss, beispielsweise wenn es um die öffentliche Gesundheitsversorgung geht. Weite Teile des chilenischen Gesundheitssystems sind privatisiert, der Zugang zu legaler, sicherer und freier Abtreibung ist eingeschränkt, ebenso der zu Verhütungsmitteln. Gleichzeitig belegt Chile einen der oberen Plätze im Ranking der OECD-Länder in Sachen Geschlechterdifferenz. Auch nach lebenslanger Arbeit haben Frauen keinen Zugang zu Rentenzahlungen, ein Arbeitsschutz für bezahlte Reproduktionsarbeit existiert quasi nicht: Frauen, die in Privathaushalten arbeiten, haben meist keine Arbeitsverträge, 60-Stunden-Wochen ohne Ruhetage sind für sie keine Seltenheit. Darüber hinaus gibt es brutale Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt. Hier mangelt es auch an journalistischer Professionalität. Frauenmorde werden oft als Verbrechen »aus Leidenschaft« oder Eifersucht dargestellt, der Täter in Schutz genommen und die Opfer für die Taten verantwortlich gemacht.

Vor diesem Hintergrund machen Frauen und Queers unmissverständlich klar, dass sie sich nicht länger in die zweite Reihe verbannen lassen, sondern für ihre Forderungen nach Emanzipation und für eine gerechtere Gesellschaft kämpfen werden. In den Cabildos, den Versammlungen, die es inzwischen überall in Chile gibt, werden feministische Forderungen als Teil der allgemeinen Forderungen verhandelt, auf den Demos gibt es Blöcke von Frauen und Queers, die sexualisierte Gewalt gegen verhaftete Frauen hat überall in Chile zu erneuten Protesten geführt.

»Der Vergewaltiger bist du«

Als Reaktion auf diese systematische sexualisierte Gewalt gegen die Protestierenden ging am 25. November, dem internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, ein Video des feministischen Kollektivs Las Tesis schnell viral; zunächst in den sozialen Netzwerken in Chile, dann in Lateinamerika, bald auch weltweit. In einer Choreografie singt eine Gruppe von Frauen und Queers »Der Vergewaltiger bist du« an verschiedenen Orten staatlicher Macht in der Hauptstadt Santiago de Chile. Der Text spricht über die sexualisierte Gewalt des Staates und seiner Institutionen, wie Polizei und Justiz, und unterstreicht ihre patriarchale Komplizenschaft. Am 29. November rief das Kollektiv dazu auf, dass dieser Flashmob an allen möglichen Orten durchgeführt werden solle. In Deutschland wurde die Choreografie an emblematischen politischen Orten wie vor dem Brandenburger Tor und der US-Botschaft performt. Von ganz Lateinamerika bis Europa schlossen sich Frauen und Queers zusammen, um Solidarität mit dem Massenaufstand in Chile zu zeigen und gleichzeitig die materiellen Folgen des patriarchalen Kapitalismus aufzuzeigen, der Frauen und Queers jeden Tag auf der ganzen Welt misshandelt, vergewaltigt und ermordet.

Juliana María Rivas Gómez

Juliana María Rivas Gómez ist Soziologin und Mitglied des Bloque Latinoamericano Berlín.

Eleonora Roldán Mendívil

ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Politische Bildnerin. Sie promoviert an der Universität Kassel zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und »Rasse« aus marxistischer Perspektive. Sie lebt in Berlin.