analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 714 | International

»Frauen führen diesen Kampf an«

Ein Gespräch mit der Aktivistin Dur Bibi über die Geschichte des belutschischen Widerstands

Interview: Hêlîn Dirik

Frauen demonstrieren mit verschiedenen Postern auf Urdu und Englisch, auf denen Gerechtigkeit für Karima Baloch gefordert wird.
Belutschische Frauen demonstrieren 2020, um Gerechtigkeit für die Aktivistin Karima Baloch zu fordern, die im Exil unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden wurde. Foto: Voice of America / Wikimedia Commons, Public Domain

Vor 77 Jahren annektierte Pakistan Belutschistan. Seit Jahrzehnten kämpfen Belutsch*innen, die auch in Teilen Afghanistans und Irans leben, gegen staatliche Unterdrückung und für Selbstbestimmung. Um den Jahrestag der Annektierung herum wurden dieses Jahr führende Aktivist*innen der belutschischen Bewegung festgenommen. Über den Widerstand gegen staatliche Gewalt in Belutschistan und die Rolle der Frauen darin spricht die Aktivistin Dur Bibi.

Der 27. März ist ein wichtiger Gedenk- und Aktionstag in der belutschischen Bewegung – woran wird an diesem Tag erinnert?

Dur Bibi: Der 27. März 1948 markiert den Tag der illegalen Annexion Belutschistans durch Pakistan, nur wenige Monate nachdem Belutschistan am 11. August 1947 seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft erklärt hatte. Die Annexion erfolgte durch militärischen und politischen Zwang. Der Khan des Fürstenstaats Kalat wurde genötigt, das Abkommen zum Anschluss an Pakistan zu unterschreiben, ohne dass die Zustimmung des belutschischen Volkes eingeholt wurde. Seitdem sind Belutsch*innen in Pakistan systematischer Unterdrückung ausgesetzt. Die Region ist reich an Ressourcen, Gas, Gold und Mineralien, doch unsere Leute leben in Armut. Bildung ist unterfinanziert, die Gesundheitsversorgung wird vernachlässigt, und Militärstützpunkte bestimmen den Alltag.

Die Reaktion des Staates auf jede Form von selbst friedlichem Dissens ist brutal. Tausende wurden von Sicherheitskräften und Geheimdiensten gewaltsam verschleppt. Viele wurden tot aufgefunden, man entdeckte Massengräber. Wieder andere kehrten nie zurück und gelten als vermisst. Zudem wurden die Bevölkerungen ganzer Dörfer durch Militäroperationen vertrieben. Noch heute gibt es Regionen, in denen das Militär willkürlich operiert. Außergerichtliche Hinrichtungen, das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen und psychologische Kriegsführung sind in Belutschistan zur gängigen Praxis geworden. Doch die Bevölkerung hat diesen Zustand nie akzeptiert. Deshalb begehen wir den 27. März nicht nur als Tag der Trauer, sondern auch als Tag des Widerstands und der erneuten Verpflichtung zu unserem Befreiungskampf.

Wie hat dieser Befreiungskampf in den letzten Jahrzehnten ausgesehen?

Gekämpft wurde auf unterschiedlichen Ebenen, sowohl bewaffnet als auch zivilgesellschaftlich und parteipolitisch. Es gab fünf nennenswerte Aufstände in Belutschistan. Kurz nach der Annektierung führte Prinz Abdul Karim von Kalat, der jüngere Bruder des Khans von Kalat, den ersten bewaffneten Aufstand an. Darauf folgten zwei weitere 1958–59 und 1963–69. Unter der Führung von Sher Muhammad Marri begann die Belutschische Volksbefreiungsfront (BPLF) in den 1960er Jahren einen Guerillakrieg gegen Pakistan. Der vierte Aufstand 1973–77 gilt als weiterer großer Widerstand gegen das pakistanische Militär. Und der fünfte Aufstand ab den 2000er Jahren ist der bisher längste und intensivste Kampf gegen die pakistanische Besatzung.

In der letzteren Phase führten militante Gruppen wie die Belutschische Befreiungsarmee (BLA), die Belutschische Befreiungsfront (BLF) und die Belutschischen Republikanischen Garden (BRG) den bewaffneten Kampf an. Pakistan reagierte mit massiver Militarisierung, Verschleppungen und außergerichtlichen Hinrichtungen, um den Widerstand zu unterdrücken. Die Ermordung des belutschischen politischen Anführers Nawab Akbar Bugti durch das pakistanische Militär im Jahr 2006 war ein wichtiger Wendepunkt und löste große Wut aus. Danach wurde der Widerstand stärker und intensiver.

2018 kam es mit der Gründung der BRAS (Baloch Raaji Aajoi Sangar) – einer Koalition bewaffneter belutschischer Gruppen, darunter BLA, BLF und BRG – zu einer bedeutenden Entwicklung. Die BRAS wurde gegründet, um koordinierter gegen das gewaltsame Vorgehen des pakistanischen Staates Widerstand zu leisten, insbesondere als Reaktion auf Projekte wie den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), der zu einem großen Teil durch Belutschistan verläuft, aber die lokale Bevölkerung ausschließt.

Neben dem bewaffneten Widerstand gibt es zivile Gruppen wie die Belutschische Nationalbewegung (BNM) und die Belutschische Studierendenorganisation Azad (BSO-A). Sie setzen sich für die Rechte und Selbstbestimmung der Belutsch*innen ein, protestieren gegen Menschenrechtsverletzungen und dokumentieren diese. Das Baloch Yakjehti Committee (BYC) ist heute die bekannteste zivile Widerstandsbewegung. Sie wird hauptsächlich von Frauen, von Studierenden und den Familien von Verschwundenen angeführt. Die Bewegung organisiert friedliche Protestmärsche, Sit-ins und Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung. Trotzdem wird sie vom Staat angefeindet.

Dur Bibi

ist belutschische Aktivistin und beschäftigt sich mit der dortigen Widerstandsbewegung.

Das gewaltsame Vorgehen der Polizei bei einem friedlichen Sit-in für die Freilassung des BYC-Vorstandsmitglieds Bebarg Baloch und weiteren Aktivist*innen am 21. März löste eine neue Protestwelle in Belutschistan aus. In den letzten Wochen wurden führende BYC-Aktivist*innen festgenommen. Kannst du mehr darüber erzählen?

Unter den Verhafteten ist Dr. Mahrang Baloch, eine Ärztin und sehr bekannte Aktivistin des BYC, die viele Menschen, insbesondere Frauen, in Belutschistan mit ihrem Kampf inspiriert hat. Sie organisierte das Sit-in und sprach sich gegen die Gräueltaten des Staates aus, darunter die »Kill and Dump«-Politik und das Verschwindenlassen von Menschen. Ihre Arbeit ist auch international anerkannt, sie steht unter anderem in der »100 Next«-Liste des Time Magazines und wurde sogar für den Friedensnobelpreis nominiert. Sammi Deen Baloch, eine weitere führende BYC-Aktivistin und Menschenrechtlerin, wurde ebenfalls festgenommen und nach Protesten wieder freigelassen. Ihr Vater, Deen Mohammad Baloch, wurde vor 16 Jahren von pakistanischen Streitkräften verschleppt und gilt bis heute als vermisst. Heute ist sie eine wichtige Stimme gegen die staatliche Praxis des Verschwindenlassens. Im Zuge der letzten Festnahmen wurden darüber hinaus auch Familienmitglieder von Aktivist*innen zur Zielscheibe. So wurden beispielsweise jeweils die Väter der Aktivistinnen Sabiha Baloch und Beebow Baloch verschleppt. Hunderte Menschen wurden in den letzten Wochen in Belutschistan festgenommen oder verschleppt. Einige wurden tot aufgefunden und vermutlich extralegal hingerichtet.

Besonders viele Frauen sind von den Repressionen betroffen. Welche Rolle spielen sie in der Bewegung?

Die letzten Ereignisse haben gezeigt, dass organisierter ziviler Widerstand vom Staat gefürchtet wird, vielleicht sogar noch mehr als bewaffneter. Frauen nehmen an diesem Widerstand nicht nur teil, sie führen ihn an. Den moralischen und emotionalen Kern des belutschischen Kampfes prägten Persönlichkeiten wie Mahrang, Sammi, Sabiha, Gulzadi, Saira, Seema, Mahzeb, Shakar Bibi und Karima Baloch. Letztere war eine führende Aktivistin bei BSO-Azad und eine der ersten Frauen, die eine öffentliche politische Rolle übernahm. Aufgrund von Drohungen musste Karima Baloch ins kanadische Exil und wurde dort 2020 unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden.

Tausende Mütter, Schwestern, Ehefrauen und Töchter von Verschwundenen betreten heute die Öffentlichkeit und kämpfen für Gerechtigkeit. Sie weigern sich, zu schweigen und fordern Antworten von Gerichten, von der Armee, vom Geheimdienst und den Medien. Sie werden gezielt ins Visier genommen, verhaftet, schikaniert und diffamiert, um eine klare Botschaft zu senden: Schweigt, bleibt an eurem Platz. Aber diese Frauen haben mit ihrer Präsenz im Befreiungskampf die Regeln neu geschrieben.

Was muss geschehen, damit in Belutschistan Frieden und Gerechtigkeit hergestellt werden?

Europäische Gelder fließen indirekt unter dem Deckmantel der »Entwicklungshilfe« in Regionen wie Belutschistan – doch ohne menschenrechtliche Verantwortung unterstützen diese Gelder die Militarisierung der Region und die Vertreibung der belutschischen Gemeinschaft. Was die Bewegung fordert, sind keine Entwicklungshilfen und Almosen von Staaten. Wir fordern Verantwortungsübernahme und internationale Solidarität.

Das Militär muss sich zurückziehen, die systematische Praxis des Verschwindenlassens muss ein Ende haben. Die Militäroperationen müssen beendet werden. Massengräber müssen untersucht werden. Die Verantwortlichen für jahrzehntelange Gewalt müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Aber das Wichtigste ist: Den Belutsch*innen muss endlich das Recht eingeräumt werden, selbst über ihre Zukunft zu bestimmen – in Form von Autonomie oder Unabhängigkeit. Unsere Bewegung baut nicht auf Hass, sondern auf Hoffnung auf. Wir wollen ein Belutschistan, in dem Kinder ohne Angst leben können, in dem unsere Mütter an Kontrollpunkten nicht weinen, in dem das Land den Menschen gehört – und nicht denen, die es mit Waffengewalt plündern. Bis dahin wird der Widerstand weitergehen – in den Bergen, in den Städten, in den Stimmen unserer Frauen und Jugendlichen.

Hêlîn Dirik

ist Redakteurin bei ak.