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Gespaltene Linke

Jean-Luc Mélenchon möchte die Aufständischen in Frankreich nicht zur Ordnung rufen – das gefällt der übrigen parlamentarischen Linken nicht

Von Thomas Waimer

Ein brennendes Auto steht auf einem Parkplatz, dahinter ein Supermarkt mit weißem Schild, um das Auto stehen Jugendliche
Bilder, von denen sich die reformistische Linke abgrenzen möchte. Jugendliche in Besançon treffen sich nachts vor einem Supermarkt. Foto: Toufik-de-Planoise / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Am 28. Juli, dem Tag nach der Tötung von Nahel M. durch einen französischen Polizisten im Pariser Vorort Nanterre, twitterte der Gründer der linkspopulistischen Partei La France Insoumise (LFI) und ehemalige Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon: »Die Wachhunde befehlen uns, zur Ruhe aufzurufen. Wir rufen zur Gerechtigkeit auf. Ziehen Sie das Gerichtsverfahren gegen den armen Nahel zurück. Entlassen Sie den mörderischen Polizisten und seinen Komplizen, der ihm befohlen hat zu schießen.« Er weigerte sich, die Aufständischen zur republikanischen Ordnung anzuhalten, wie sonst alle anderen Parteien und Vertreter*innen der Staates taten. Mélenchon forderte lediglich, dass Schulen, Bibliotheken und Gymnasien nicht beschädigt werden dürfen und hob zugleich hervor, dass es sich um einen Aufstand der Armen handle.

Diese Revolte der Armen weitete sich indes immer weiter aus. Bis zum 3. Juli wurden nach Angaben des französischen Innenministeriums knapp 1.000 Gebäude niedergebrannt, beschädigt oder geplündert. Zahlreiche Symbole des französischen Staates wie Rathäuser, Schulen sowie rund 250 Polizeistationen wurden attackiert. Zudem gerieten mehr als 5.000 Fahrzeuge in Brand. Außerdem kam es wohl zu mindestens einem weiteren Toten durch Polizeigewalt in Marseille.

Die Premierministerin Elisabeth Borne griff Mélenchon und seine Anhänger *innen scharf an und exkommunizierte sie aus dem republikanischen Lager.

Angesichts dieser wohl größten sozialen Unruhen seit den Aufständen von 2005 befürworten laut einer Umfrage des IFOP-Instituts vom 3. Juli 69 Prozent der französischen Bevölkerung die Einführung des Ausnahmezustandes, ein ebenso großer Anteil »verurteilt die Gewalt« und noch knapp 60 Prozent der Befragten haben eine positive Meinung zu den Ordnungskräfte.

Die Vorsitzenden der sozialistischen, kommunistischen und grünen Parteien, die Teil der Neuen Ökologischen und Sozialen Volksunion (NUPES) sind, der linken Koalition unter Führung von Mélenchon, reagierten auf diese Umfragewerte sowie die Schadensbilanz der Unruhen und gingen auf Distanz zu ihrem Fraktionsvorsitzenden.

Eine eigene Fraktion

Der Nationalsekretär der Parti Communiste Français (PCF) brach am 4. Juli im französischen Fernsehen öffentlich mit Mélenchon: »Ich distanziere mich vollständig von den Äußerungen von Jean-Luc Mélenchon und einigen seiner Abgeordneten, die sich weigerten, zur Ruhe aufzurufen, und die diese Gewalt legitimierten, indem sie sagten:  ›Das ist normal, das ist eine Revolte‹.« Es existiere ein Bedürfnis nach Ordnung, Gerechtigkeit und Respekt, dem man nachkommen müsse, so der Funktionär der PCF weiter. Man müsse vor allem den Bürgermeister*innen zuhören, »die sich darüber beschweren, dass bei ihnen eine Polizeistation geschlossen wurde und die Zahl der Polizisten in ihrem Bereich, einschließlich der Gendarmerie, verringert wurde. Wir fordern eine bürgernahe Polizei, wir müssen die Polizei mit den Menschen in diesen Vierteln versöhnen.« Es sei zudem nötig, die Arbeit wieder in den Mittelpunkt zu rücken und die soziale Segregation zu bekämpfen, um diese »schwere Krise« zu bekämpfen.

Währenddessen betonte der sozialistische Politiker und ehemalige französische Präsident, François Hollande auf dem Sommertreffen der Parti Socialiste (PS) in Lyon, dass in einer Zeit, in der »der Zusammenhalt und das Ansehen« des Landes bedroht seien, »der Aufruf zu Ruhe und Einheit« Vorrang hat.

Die Premierministerin Elisabeth Borne griff unterdessen ebenfalls Mélenchon und seine Anhänger*innen scharf an und exkommunizierte sie aus dem republikanischen Lager. Sie zeige sich »sehr schockiert über die Äußerungen von La France Insoumise, die sich weigert, die Gewalt zu verurteilen«, was nur »ein weiterer Beweis« dafür sei, dass diese Partei »sich nicht im republikanischen Feld positioniert«. LFI instrumentalisiere dieses schreckliche Drama und habe den Weg der »ständigen Entschuldigung der Gewalt« gewählt. Laut der linksliberalen Tageszeitung Le Monde weist die Premierministerin damit auf einen eklatanten Widerspruch innerhalb der Linken hin: »auf die Unvereinbarkeit zwischen einer aufständischen Linken, die auf die Zunahme von Gewalt setzt und diese fördert, um zu versuchen, das Regime zu stürzen, und einer Regierungslinken, die einen Wandel durch die Wahlurnen anstrebt.«

Wiederholte Abgrenzung

Diese Befehle der Wachhunde, sich der Partei der Ordnung anzuschließen, machen sich innerhalb der französischen Linken bereits spaltend bemerkbar. Ein erstes Zeichen ist möglicherweise die Bildung einer linken pluralistischen Liste von PCF, PS und Grünen für die Pariser Senatswahlen im September, die ohne die LFI von Mélenchon auskommt. Außerdem planen Umweltschützer*innen, Kommunist*innen und immer mehr Sozialist*innen eigene Listen für die Europawahl im kommenden Jahr. Laut dem Nationalsekretär der PCF gibt es mindestens zwei Linke: eine Linke der Ordnung und die Linke von Jean-Luc Mélenchon, die sich den Rufen nach Recht und Ordnung verweigere.

Dass die französischen Kommunist*innen die bürgerliche Ordnung bevorzugen, haben sie längst unter Beweis gestellt, als sie sich während des Pariser Mai 1968 für die Beendigung der Streiks und Fabrikbesetzungen einsetzten. Eine nennenswerte Linke, die sich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen unterschiedlichen Krisen den Rufen nach Recht, Ordnung und nationaler Einheit verweigert, muss sich erst noch konstituieren. Sie hat es gegenwärtig nicht leicht.

Thomas Waimer

lebt in Berlin und ist Redakteur des Onlinemagazins Communaut.