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Es geht nicht nur um die Polizei

Auch die Politik in Nigeria ist bei den Protesten gegen eine Sondereinheit in die Kritik geraten, berichtet der Aktivist Aj Dagga Tolar

Interview: Paul Dziedzic

Eine Frau hält bei einer Demonstration ein Schild hoch, auf dem "End Police Brutality" steht und hebt die Faust
Bei Protesten gegen die Polizeieinheit SARS gingen im Oktober Zehntausende in Nigeria auf die Straße. Foto: Kaizenify / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

In Nigeria fordern Aktivist*innen schon seit Jahren die Abschaffung der Polizei-Sondereinheit SARS (Special Anti Robbery Squad), weil diese vor allem junge Menschen erpresst, inhaftiert und ermordet. Nachdem im Oktober ein Video viral ging, das den Tod eines jungen Mannes durch die Hand der Polizei zeigte, wuchsen landesweit die Proteste unter dem Hashtag #EndSARS an.

Die Bilder der Anti-SARS-Proteste gingen um die Welt. Was ist der Hintergrund?

Aj Dagga Tolar: Nigeria ist einer der größten Ölproduzenten der Welt. Das wäre eigentlich eine gute Grundlage für die Entwicklung der Produktionsmittel und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Die Produktionsmittel sind nicht entwickelt, die Arbeitslosenquote ist hoch; wir haben mehr als 21,7 Millionen arbeitslose Jugendliche. Die arbeitenden Menschen leiden enorm unter der Unterentwicklung der Wirtschaft. In dieser Situation der Massenarbeitslosigkeit und Armut haben wir eine Polizei, die ihre Waffen einsetzt, um unschuldige Menschen zu erpressen. Die Polizisten halten den Menschen Waffen an den Kopf, gehen mit ihnen zum Geldautomaten und fordern, dass sie Geld abheben als »Kaution« dafür, dass die Polizisten sie wieder laufen lassen. Andere werden wahllos getötet; junge Frauen werden verhaftet und vergewaltigt und dadurch zum Schweigen gebracht, dass ihre Familienangehörigen bedroht werden. Während der EndSARS-Kundgebung in Ajegunle erzählte uns ein Rentner von einem Vorfall vor fünf Jahren. Beamte parkten den Eingang zu seinem Haus zu, woraufhin sein Sohn Eric sie fragte, ob sie ihre Fahrzeuge umparken könnten. Die Beamten malträtierten Eric mit Faust- und Gewehrkolbenschlägen, zwangen ihn schließlich in ihr Fahrzeug und fuhren weg. Der Junge kehrte nie nach Hause zurück. Alle Versuche der Familie, seinen Aufenthaltsort herauszufinden, hatten bis heute keinen Erfolg. Es ist offenkundig, dass er getötet wurde. Viele Familien können von solchen Vorfällen berichten. Daraus wächst die große Wut, die den Anti-SARS-Protest nährt.

Was waren die Forderungen der Demonstranten, und wie haben sie sich im Laufe der Zeit verändert?

Die Hauptforderung war die Auflösung der Sondereinheit SARS. Die Regierung behauptete, diese Forderung erfüllt zu haben. Doch dann kündigte sie eine neue Einheit namens SWAT, Special Weapon Tactical Team, an. Die Demonstranten wiesen darauf hin, dass die Namensänderung das Problem nicht lösen wird. Die Proteste erreichten irgendwann das Niveau eines Generalstreiks, weil die meisten Arbeitsstätten, Schulen und Büros geschlossen wurden, und die Protestierenden formulierten weitergehende Forderungen. Beispielsweise ein Ende der Erhöhung von Brennstoff- und Strompreisen und die Kürzung der enormen Gehälter von Beamten. Zu diesem Zeitpunkt rückte die Regierung mit Soldaten an, und eine zweistellige Zahl von Demonstranten wurde am Lekki-Mautstellentor in Lagos erschossen, wobei die Leichen von den Soldaten abtransportiert wurden, so dass es schwierig ist, die tatsächliche Zahl der Toten zu bestimmen. Augenzeugen berichten jedoch von 15 bis 25 Opfern. Dieses Ereignis ging als der Schwarze Dienstag in die Geschichte der Massenbewegungen im Land ein.

Aj Dagga Tolar

ist ein nigerianischer Dichter, Autor und Aktivist. Er ist Sprecher der Bewegung für eine sozialistische Alternative.

Portrait Aj Dagga Tolar
Aj Dagga Tolar. Foto: Privat

Hat dieser Vorfall die Dynamik der Proteste verstärkt?

Ja. Als die Menschen von den Morden bei der Mautstelle erfuhren, machte sich ein Zustand von Trauer und Erschütterung breit. Einige Figuren – sie werden als »Ganoven« bezeichnet – reagierten mit Wut und Gewalt und brannten Polizeistationen nieder. Andere begaben sich zu den Lagerhäusern, wo die herrschenden Eliten mit öffentlichen Geldern beschaffte Hilfslieferungen horteten, die eigentlich zur Verteilung an die Bevölkerung gedacht waren. Die jungen Leute begannen, die Nahrungsmittel in Besitz zu nehmen. So ging es die nächsten Tage weiter. Die Basis der Polizei ging unbewusst in den Streik und lehnte den Befehl der Führungsebene ab, ihren Dienst wieder aufzunehmen. Inzwischen hat sich die Situation normalisiert. Das bedeutet aber nicht, dass junge Leute und Arbeiter diesen Vorfall vergessen werden. Er lieferte wichtige Lehren für die Organisation von Bewegungen in der kommenden Zeit. Vor allem darüber, dass der Staat keine neutrale Organisation ist, sondern bewaffnete Gruppen kommandiert, die die Interessen der herrschenden Eliten verteidigen. Als diese sahen, dass der Protest immer größere Teile der Gesellschaft nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen das Versagen ihrer Staatsführung mobilisierte, wurde ihnen das Ausmaß der Gefahr bewusst. Also setzten sie ihre Soldaten ein und wendeten Zwangsgewalt und ihre militärische Macht gegen friedliche Demonstranten an.

Du bist seit einiger Zeit in sozialen Bewegungen in Nigeria aktiv. Was zeichnet EndSARS aus?

Die Proteste zeichnet unter anderem aus, dass es ihnen gelingt, mit der Vorstellung aufzuräumen, eine revolutionäre Massenbewegung sei in Nigeria nicht möglich, weil Arbeiter durch Religion, ethnische Nationalitäten oder Sprache gespalten seien. Wir können an dieser Bewegung sehen, dass die Arbeiter und die Jugend durch ihr gemeinsames Leid trotz dieser Unterschiede vereint sind. Es gibt Menschen in diesem Land, die sich mehr als 4.000 Prozent des Durchschnittslohns eines Arbeiters bezahlen lassen, der monatlich 30.000 Naira verdient. Ein Parlamentarier geht mit etwa 14 Millionen Naira im Jahr nach Hause. Viele Bundesstaaten haben noch nicht mit der Einführung des Mindestlohns von 30.000 Naira begonnen. Es werden keine Maßnahmen ergriffen, den Mindestlohn durchzusetzen. Unterdessen wurde ein Staatshaushalt für 2021 in Höhe von 13 Billionen Naira angekündigt: Die Regierung wird fast 90 Prozent der Einnahmen des Landes für die Schuldentilgung ausgeben. Das wären 3,1 Billionen Naira bei erwarteten Einnahmen aus Öl- und anderen Geschäften von 3,5 Billionen Naira. Und dann wird sie sich 4,38 Billionen Naira vom IWF und der Weltbank leihen. 4,2 Billionen Naira daraus sind für die Regierungsführung vorgesehen, unter anderem, um die dicken Gehälter der Eliten zu finanzieren, die nicht einmal ein Prozent der 206 Millionen Einwohner des Landes ausmachen.

In diesem Jahr gab es überall auf der Welt Diskussionen über die Reform der Polizei. Es scheint unterschiedliche Vorstellungen darüber zu geben.

Wir müssen für die Basis der Polizei eine Gewerkschaft ermöglichen, damit sie bessere Löhne für sich aushandeln kann. So vermeiden sie auch, wegen Hochverrats verhaftet zu werden, wenn sie zu einem Streik für bessere Löhne aufrufen. Das ist vor einigen Jahren passiert. Doch allein die Forderung nach einer Polizeigewerkschaft reicht nicht aus. Die Polizei sollte einer demokratischen Kontrolle innerhalb der Gemeinschaften, denen sie dient, unterworfen werden. Arbeiter, Jugendliche und Frauen sollten über ihre demokratischen Organisationen Vertreter wählen, die sie in jeder Polizeidienststelle vertreten. Das ist die einzige Möglichkeit, so etwas wie Community Policing umzusetzen. Aber die Frage der demokratischen Kontrolle ist letztlich immer an die Gesellschaftform gebunden, in der wir leben. In dieser Gesellschaft werden die Arbeiter keine Polizei haben, die ihre Interessen verteidigt. Das ist nur mit einer gesellschaftlichen Transformation möglich. Wenn Arbeiter streiken, ist die anrückende Polizei automatisch auf der Seite der Betriebsleitung und verhaftet streikende Arbeiter und ihre Anführer. Aber warum glauben Polizisten, sie seien etwas besseres als Arbeiter? Ihre Löhne sind es jedenfalls nicht. Sie könnten sich mit Arbeitern identifizieren. Und das wiederum würde es den Arbeitern ermöglichen, in Aktion zu treten und Forderungen an ihre Unternehmen zu richten. Das ist ein demokratisches Recht, das wir einfordern und schützen müssen. Als Sozialisten ist es also auch unsere Aufgabe, das Bewusstsein innerhalb der Polizei und der einfachen Soldaten zu schärfen, damit sie sich mit den arbeitenden Menschen auf der Welt verbünden.

Wir müssen für die Basis der Polizei eine Gewerkschaft ermöglichen.

Aj Dagga Tolar

Wie siehst du die Aussichten für künftige Bewegungen? Die EndSARS-Proteste sind erstmal zu Ende. Andererseits befinden wir uns mitten in einer Pandemie, auf die eine Wirtschaftskrise folgen wird.

In Nigeria steuern wir auf die Wahlen im Jahr 2023 zu. Wir müssen zusehen, dass wir die Millionen Jugendlichen aus der Arbeiterklasse, die in die Arena des Kampfes getreten sind, einbinden. Es gibt einen Hunger nach der Gründung einer neuen politischen Partei für und von jungen Menschen hier in Nigeria. Noch wichtiger ist, dass diese jungen Menschen ein Programm der arbeitenden Menschen formulieren, das darauf abzielt, die Armut zu beenden und der Kontrolle des Reichtums des Landes durch einige wenige ein Ende zu setzen. Das einzige Programm, das dies erfolgreich tun kann, ist das Programm des Sozialismus: Es schlägt die Verstaatlichung von Schlüsselsektoren wie Banken, Öl- und Bauunternehmen vor, damit sie von der Profitgier der Mitglieder des Milliardärsclubs befreit werden. Diese Ressourcen können dann für die Entwicklung der Produktionsmittel und die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Menschen, für den Bau von Häusern, Schulen und Krankenhäusern verwendet werden – moderne Gesundheitseinrichtungen, die beim Kampf gegen Leid und Krankheit helfen. Heute fliegen wohlhabende Menschen ins Ausland, wenn sie krank sind, um die beste Behandlung zu erhalten, und zeigen damit ihre mangelnde Bereitschaft, die Ressourcen der Gesellschaft einzusetzen, um die besten Gesundheitseinrichtungen hier im Land zur Verfügung zu stellen. Wir haben gesehen, wie die jungen Leute die Warenhäuser stürmten und Lebensmittel enteigneten. Es ist eine Warnung an die herrschenden Elite, dass es Hunger und Armut im Land gibt – gleichzeitig aber ist es auch die schöne Musik der Zukunft.