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|ak 669 | Feminismus

Diese Welle ist ein Tsunami

Die Pandemie traf auf eine neue transnationale feministische Bewegung, die nun noch stärker wird

Von Carolin Wiedemann

Demonstrationsplakat mit einer gezeichneten Person, die ni una menos ruft.
Die feministische Bewegung #niunamenos (deutsch: Keine weniger) richtet sich gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Sie entstand 2015 in Argentinien und verbreitete sich von dort über ganz Lateinamerika. Foto: Javierosh / Flickr, CC BY 2.0

Der 8. März 2021: Nach einem Jahr Corona ist offenkundiger als zuvor, wie sexistisch unsere Gesellschaft noch immer strukturiert ist. Dass es vor allem Frauen und Queers sind, die Kinder versorgen und Kranke pflegen, unter- oder unbezahlt, dass sie in prekäreren Positionen als Männer arbeiten, dass sie während der Krise häufiger ihre Jobs verloren und deutlich öfter zur Kurzarbeit verpflichtet wurden. Und dass der vermeintlich sichere private Raum, in den Corona zwingt, für Frauen und Queers gefährlich ist. Bei der Beratungsstelle für Opfer häuslicher Gewalt Weißer Ring gingen 2020 fast doppelt so viele Meldungen ein wie jeweils in den Jahren zuvor.

Aber diese Offenbarungen bringen keinen Backlash, wie manche fürchten – im Gegenteil. Denn die Pandemie trifft auf eine neue transnationale feministische Bewegung, die schon vor Corona aufbegehrte und die durch die Erfahrungen der Krise nur stärker wird. Auf eine neue Generation von Feminist*innen, die längst die fehlende gesellschaftliche Wertschätzung der Care-Arbeit genau wie die (häusliche) Gewalt gegen Frauen und Queers in den Blick nehmen und erkannt haben, dass beide Ergebnisse desselben Problems sind: des Patriarchats. Nach Jahrzehnten des neoliberalen Post- und Popfeminismus hat diese Bewegung eine neue Welle der Kritik ins Rollen gebracht, die Zusammenhänge von Sexismus, Kapitalismus und Nationalismus wie nie zuvor in ihrer Verwobenheit angreift.

Wenn wir streiken, steht die Welt still

Diese neue, transnational vernetzte feministische Mobilisierung fand gleichermaßen Antrieb und Ausdruck in #metoo und den Streiks der Frauen und Queers, aber auch schon zuvor in den Protesten um #niunamenos. Letztere richteten sich 2015 in Mexiko gegen Feminizide, die krasseste Form patriarchaler Gewalt, und erweiterten dann den Fokus und erfassten schließlich mit Demonstrationen gegen alle Formen von sexualisierter und sexistischer Gewalt ganz Amerika und auch Europa. In Rom brachte Non Una Di Meno 2016 gleich zur ersten Demonstration 250.000 Menschen auf die Straße. Ein Jahr später gingen in den USA am Frauenkampftag 2017 über zwei Millionen Menschen unter dem Slogan A Day without Women demonstrieren. In Europa wuchs der Frauen*streik zum 8. März ebenso an, Spanien brach 2018 den Rekord: »Wenn wir streiken, steht die Welt still«, riefen über fünf Millionen Frauen und Queers und legten die Arbeit nieder, um auf patriarchale Abwertung in der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft aufmerksam zu machen, um auf die Handlungsfähigkeit der Unterdrückten zu verweisen, und die Ökonomien der privaten Haushalte und die darin eingeschriebenen Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse zu skandalisieren. Ende 2019 skandierten schließlich Tausende Frauen und Queers gleichzeitig in Istanbul, Jerusalem und Santiago de Chile die Performance von Las Tesis: »Das Patriarchat ist ein Richter, der uns verurteilt von Geburt«. Sie brüllten ihre Wut über die permanenten sexistischen Erfahrungen, die sie machen, heraus — und die Einsicht, dass Männer, die Gewalt gegen sie verüben, keine Einzeltäter sind, sondern Teil einer patriarchalen Struktur. »Rache am Patriarchat. Gegen jeden Sexismus auf der Straße und privat«, riefen schließlich gerade erst trotz klirrender Kälte und Corona-Beschränkungen 2.000 Frauen und Queers am 14. Februar in Berlin.

Diese antipatriarchale Mobilisierung schafft es, viele frühere Spaltungen feministischer Kämpfe zu überwinden.

In all diesen Verwendungen ist der Begriff des Patriarchats vom universalisierenden Charakter befreit, dessentwegen er einst in den 1980er Jahren in die Kritik geraten war. In den neuen Redebeiträgen und den Demo-Flyern dieser Tage wird er im Zusammenhang mit Klassenverhältnissen, mit kapitalistischen und rassistischen Ausbeutungsverhältnissen gedeutet, mit cis- und heteronormativer Herrschaft. So schafft es diese anti-patriarchale Mobilisierung nun, viele frühere Spaltungen feministischer Kämpfe zu überwinden, Unterschiede anzuerkennen, zu berücksichtigen und trotzdem die gemeinsame Erfahrung der patriarchalen Unterdrückung hervorzuheben, zu sagen: Wir sind alle ausgebeutet durch das Patriarchat, unterschiedlich stark, doch wir alle sind betroffen von patriarchaler Gewalt, entweder weil wir als Frauen, egal, ob mit Vagina oder nicht, abgewertet werden oder weil wir nicht in die binäre Matrix passen und damit gegen die Grundfeste der patriarchalen Ordnung verstoßen. Einer Ordnung, welche die Menschen immer noch einteilt in zwei vermeintlich von Natur aus unterschiedliche, hierarchisch geordnete Gruppen.

Queerfeministisch und kommunistisch

Die beiden etablierten Geschlechterkategorien wurden durch die binär organisierten Arbeitsverhältnisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mitbegründet und untermauert. Den einen wurde im Privaten Emotionalität und Beziehungsfähigkeit abverlangt, den anderen in der Öffentlichkeit und in der Fabrik Rationalität und Härte. Die Arbeitsverhältnisse haben sich zwar gewandelt, neoliberale Gleichstellungspolitik hat gar Frauen-Quoten in Aufsichtsräten durchgesetzt, doch das binäre, heteronormative und hierarchische Geschlechterverhältnis hält sich hartnäckig. Es ist in die Köpfe und die Körper der Menschen eingeschrieben genau wie in den Nationalstaat, der auch jenseits von Corona noch immer die patriarchal organisierte Kleinfamilie mit dem »Ehegattensplitting« stärkt, damit diejenigen, die in dieser Ordnung zu Frauen gemacht werden, dem deutschen Volke Nachwuchs produzierenen und den Mann befriedigen. Solange diese binäre Geschlechterordnung weiterbesteht, bleiben Frauen und Queers das Andere, das im Zweifel objektiviert und nicht gleichermaßen als Subjekt wahrgenommen wird. Solange diese Ordnung weiter besteht, bleibt auch die Trennung von Produktion und Reproduktion, bleibt die Trennung von öffentlich und privat, die Solidarität unter den Menschen verhindert.

Genau darauf machen die neuen Bewegungen aufmerksam. Sie greifen die binäre Ordnung wie keine feministische Welle zuvor an: Sie sind anti-identitär, insofern sie nicht von irgendeiner natürlichen Wesenhaftigkeit von Männern oder Frauen, von Menschen ausgehen, sondern die permanente gesellschaftliche Produktion der Geschlechterordnung und der Geschlechterverhältnisse in den Blick nehmen durch Kritik an der Wirtschaftsweise, an Gesetzen und an den Beziehungsweisen der Menschen miteinander. Damit sind sie gleichermaßen queerfeministisch wie auch kommunistisch orientiert. Und ihre Analysen erreichen immer weitere Kreise: Während die Interventionistische Linke gerade erklärt, dass Marxismus und Feminismus nicht nur zusammenpassen, sondern sich gar bedingen, heißt es sogar in der Teen Vogue schon, Feminist*innen des 21. Jahrhunderts seien sozialistisch und böten damit Befreiung für alle.

Das ist mehr als eine Welle, rappt Janelle Monáe in ihrem Lied »Django Jane«: die neue Welle der Patriarchatskritik ist ein Tsunami. 8. März ist jeden Tag.

Carolin Wiedemann

ist Soziologin und Journalistin. Sie schreibt vor allem über Geschlechterverhältnisse, digitalen Kapitalismus und Rechtspopulismus. Von ihr erschien zuletzt das Buch »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats« im Verlag Matthes & Seitz.