»Die Erde hat keinen Preis«
Kämpfe gegen die Inwertsetzung natürlicher Ressourcen in ländlichen Räumen waren und sind integraler Teil der Bewegungen in Nordafrika
Der Ausgangspunkt der Revolutionen im Maghreb und im Mashrek von 2011 wird zumeist in der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 im Gouvernement Sidi Bouzid in Tunesien gesehen. Daran schließen sich jene Narrative an, die diese Revolutionen als Jugendrevolten oder gar »Facebook-Revolutionen« gegen die autoritären Regime darstellen. In dieser Erzählung ist Mohamed Bouazizi ein jugendlicher Arbeitsloser, der mit seiner Selbstverbrennung auf die im Land weitverbreitete Polizeigewalt, Korruption und die hohe Arbeitslosigkeit unter den jugendlichen Hochschulabsolvent*innen zeigen wollte.
Die Revolutionen waren jedoch weder das Resultat spontaner Massenproteste, noch wurden sie vorwiegend von einer urbanen jugendlichen Mittelschicht getragen. Vielmehr müssen sie als Höhepunkt langfristiger Mobilisierungen sozialer Bewegungen und Protestgruppen betrachtet werden, die bereits Mitte der 2000er Jahre begonnen hatten und im Sturz der Regime sowie in den blutig erkämpften Platzbesetzungen ihren Höhepunkt erreichten. (siehe auch ak 667) Diese Mobilisierungen umfassten Nachbarschaftsnetzwerke ebenso wie die stärker gewordenen Arbeiter*innen-, Frauen- und Menschenrechtsbewegungen, die Jugendorganisationen der ägyptischen Muslimbrüderschaft sowie viele Gruppen und Familiennetzwerke kleinbäuerlicher Zusammenschlüsse aus den ländlichen Regionen. Dabei ging es nicht nur um »den Sturz des Regimes«, sondern eben auch um die gesellschaftlichen Widersprüche, die eine verstärkte neoliberale Politik und Ökonomie hervorgerufen hatten: die politisch vorangetriebene Privatisierung von Staatsunternehmen, von staatlichem Land und Wasserressourcen, Landgrabbing – die einhergingen mit einem zunehmend repressiven und polizierenden Staat.
Gegen das Narrativ von Mohamed Bouazizi als Symbolfigur jugendlicher Arbeitsloser ist vor dem Hintergrund der Vielfalt der gesellschaftlichen Widersprüche und der Kämpfe Einspruch erhoben worden, weil sie nicht allesamt gleichermaßen auf die Unzufriedenheit mit dem politischen System verengt werden können. Das Leben und der Tod von Bouazizi stehen vor allem für die Lebensbedingungen und Erfahrungen in den ländlichen Peripherien des Maghreb, für die Marginalisierung und Verarmung ihrer Bevölkerungen. Die Proteste, die auf den Akt der Selbsttötung des Gemüseverkäufers folgten, waren vor allem von Kleinbauern und -bäuerinnen organisiert, die sich seit Längerem mit dem Kampf der Familie Bouazizi gegen die Enteignung ihres Landes solidarisiert und ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.
Bereits seit Mitte 2010 hatten sie mit Besetzungen von enteignetem und an private Investoren versteigertem Land, Protestaktionen und Sit-ins vor dem Gebäude der Bezirksverwaltung von Sidi Bouzid auf sich aufmerksam gemacht. (1) Bei den größeren Protesten, die im Dezember 2010 in Sidi Bouzid begannen, traten dann zunehmend Arbeitslosigkeit, Polizeigewalt und -willkür sowie die weitverbreitete Korruption in den Vordergrund. Sichtbar wurden dabei vor allem die urbanen Protestbewegungen. Viele Wissenschaftler*innen, die sich mit den ländlichen Entwicklungen auseinandersetzen, betrachten indes die ländlichen Proteste und Bewegungen als integralen Bestandteil der Massenproteste, ohne die die Revolutionen in Tunesien, aber auch in Ägypten nicht zum Sturz der Autokraten hätten führen können.
Leben und Tod von Mohamed Bouazizi stehen für die Erfahrungen in den ländlichen Peripherien des Maghreb.
»Wasserrevolten« und »Brotunruhen«
Kämpfe gegen Enteignung und Privatisierung von Land und Wasserressourcen haben sich in vielen Ländern des Maghreb formiert, in denen die Landwirtschaft für einen großen Teil der ländlichen Bevölkerung (oft saisonale) Arbeitsmöglichkeiten bietet, aber auch in Form von Subsistenzproduktion eine wichtige Überlebensgrundlage darstellt. Für viele Kleinbauern und -bäuerinnen sind Land und Wasser nicht kommodifizierbare Gemeinschaftsgüter. »Die Erde hat keinen Preis. Sie ist ein Kapital, das kein Äquivalent hat«, erklärte ein tunesischer Kleinbauer 2013 in einem Interview mit dem Geografen Habib Ayeb. (2) Deshalb widersetzen sie sich bereits seit vielen Jahren den Politiken der Privatisierung und der Inwertsetzung natürlicher Ressourcen. Illegale Brunnenbohrungen, Landbesetzungen, Wasserentnahmen aus den Bewässerungssystemen oder die Weigerung, die Stromrechnungen für die Bewässerungsanlagen zu zahlen, zählen zu ihren Formen des Widerstands.
In Ägypten hatte 2007 die Verteuerung, Verknappung und Umverteilung von Trinkwasser und landwirtschaftlich genutztem Wasser in den Gouvernements Daqahaliyya (im Nildelta) sowie in Bani Suwaif (südlich von Kairo) zu massiven Protesten von Kleinbauern und -bäuerinnen, aber auch Anwohner*innen geführt. Sie sind von derartigen Preissteigerungen stets stärker betroffen als große Agrarunternehmen, die u.a. leichteren Zugang zu Krediten haben. Zudem hat der Rückzug des Staates aus der Instandhaltung und der Verwaltung von Bewässerungssystemen die Produktionskosten verteuert und zur Konzentration der Entscheidungsgewalt in den Händen von großen Agrarunternehmen beigetragen. Die Proteste erreichten 2007 ein derartiges Ausmaß, dass von einer »Wasserrevolution« oder von der »Revolte der Verdurstenden« gesprochen wurde. (3) Durch die Nahrungsmittelkrise im Jahr 2008 stiegen die Preise in Ägypten in den beiden Folgejahren um 35 Prozent, was zu erneuten vielfältigen Protestaktionen weiter Teile der Bevölkerung führte, die auch als »Brotunruhen« bezeichnet wurden. Die ägyptische Menschenrechtsorganisation Sons of the Soil Land Center gibt an, dass in den Jahren 2009 bis 2010 180 Sit-ins stattgefunden haben, 132 Demonstrationen und sechs Streiks in ländlichen Gebieten. Dies habe zu mehr als 3.000 Verhaftungen von Kleinbauern und -bäuerinnen und deren Unterstützer*innen geführt sowie zu 2.500 Verletzten und 400 Toten. (4)
Die Themen bleiben
Die Revolutionen von 2011 haben keine umfassende Umwälzung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse gebracht – in keinem der Staaten der Region. Neoliberale Politiken und extraktivistische Entwicklungsmodelle wurden in Tunesien unter demokratischen Vorzeichen, in Marokko unter reformerisch-autoritären Vorzeichen und in Ägypten unter autoritär-militaristischen Vorzeichen fortgesetzt und vertieft (mit Ausnahme des in Nordsyrien gelegenen Rojava). Auch die Aufstände in Algerien 2019 haben (noch?) nicht dazu führen können, dass das alte Bündnis zwischen Militär und Oligarchie aufgebrochen werden konnte.
Dennoch kann für die gesamte Region (wie auch für den Mashrek) behauptet werden, dass die Politisierung und Mobilisierungen der Bevölkerungen trotz starker Repressionen eher zunehmen als zurückgehen.
Für die ländlichen Gebiete kann vor allem davon gesprochen werden, dass sowohl Ernährung, Landwirtschaft und die Frage von Allgemeingütern wie Land und Wasser politisiert werden konnten. Im Zuge dessen haben sich vor allem in Tunesien, Marokko und Ägypten neue Formen oftmals lokaler, gewerkschaftlicher Organisierung von Kleinbauern und -bäuerinnen und Landarbeiter*innen herausgebildet. Mit der Gründung von Via Campesina in Tunesien und in Marokko im Zuge des Weltsozialforums in Tunis 2015 sind neue Forderungen nach Ernährungssouveränität deutlicher geworden und transnationale Netzwerke, die über die Agrarfrage ökologische und soziale Gerechtigkeit verbinden. Ein Beispiel hierfür ist auch das Observatoire de la Souveraineté Alimentaire et de l’Environnement (OSAE) in Tunis, das auch als Schaltstelle von sozialen Bewegungen und Forschung fungiert.
In Marokko haben die starken Mobilisierungen der Hirak-Bewegung ab 2016 Kämpfe um Land, Ökologie und soziale Gerechtigkeit verbinden können. Diese neue Protestwelle konnte viele Menschen aus den Städten ebenso wie in den ländlichen Regionen gegen eine Politik der Enteignung, der Polizeiwillkür und der ökologischen Zerstörung miteinander verbinden und auf die Straße bringen. Die Aktivist*innen der Bewegung wurden mit äußerster Brutalität verfolgt und viele inhaftiert. Die französisch-marokkanische Soziologin, Filmemacherin und Aktivistin Soraya El Kahlaoui hat mit ihrem Dokumentarfilm »Landless Morrocans« von 2017 die Kämpfe von Kleinbauern und -bäuerinnen gegen Enteignung ihres Landes in der Nähe Rabat zwei Jahre lang begleitet. Der Film macht die besondere Rolle von Frauen in den Kämpfen um Land und natürliche Ressourcen deutlich. Ihre Arbeit, die zumeist als nicht entlohnte »Familienarbeit« wahrgenommen wird, ist zentraler Grundpfeiler sozialer Reproduktion, des Lebens und Arbeitens in den ländlichen Regionen.
Die Dekade nach den Revolutionen hat gezeigt, wie sehr die gerechte Verteilung und der Zugang zu natürlichen Ressourcen nicht nur zentraler Bestandteil der revolutionären Umbrüche waren, sondern auch zu einem der Kristallisationspunkte zukünftiger Aushandlungen über Herrschaftsverhältnisse werden könnten.
Anmerkungen:
1) Mathilde Fautras: Injustices foncière, contestations et mobilisation collectives dans les espaces ruraux de Sidi Bouzid (Tunisie): aux racines de la »révolution«?, in: Justice spatiale 7, 2015, online unter: jssj.org.
2) »Die Erde hat keinen Preis. Sie ist ein Kapital, das kein Äquivalent hat«. Interview mit einem Kleinbauern aus Gabès, Tunesien, in: Habib Ayeb: Le rural dans la révolution en Tunisie: les voix inaudibles, 2013, online unter: habibayeb.wordpress.com.
3) Leila Reem: Parched and Protesting, 2007, online unter: weekly.ahram.org.
4) Habib Ayeb/ Ray Bush: Small Farmer Uprisings and Rural Neglect in Egypt and Tunisia, in: Middle East Report 272, 2014, online unter: merip.org.