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Wählen ist auch keine Lösung

Warum Demokratisierung nicht am Wahltag geschieht und dies trotzdem kein Aufruf zum Wahlboykott ist

Von Torsten Bewernitz

Ein Mann geht in der Leipziger Innenstadt an einem Wahlplakat der Grünen vorbei und schaut das Plakat angewidert an.
In freudiger Erwartung, dass der Schilderwald bald passé ist. Foto: Matthias Berg, CC BY-NC-ND 2.0

Wer nicht wählt, wählt rechts«, lautet eine verbreitete Binsenweisheit, die in der rechtsautoritären Zeitenwende bis weit in parlamentarismuskritische Kreise, einschließlich anarchistischer, mitgetragen wird. So weit, so alt hergebracht. Das stimmt zwar, aber in der aktuellen Parteienkonstellation – in der Zeit der »neoliberalen Einheitspartei« (Pierre Bourdieu) mit nur oberflächlich verschiedenen Fraktionen – stimmt auch das Gegenteil (als Ausnahme darf Die Linke gelten): Wer wählt, wählt in der Regel auch rechts.

Die »Remigrations«-Konzepte, die nur nicht so heißen, aus dem progressiv-neoliberalen Flügel (Die Grünen, SPD) und dem autoritär-neoliberalen Flügel (neben der AfD auch CDU/CSU, FDP, BSW) gehen über die Rhetorik der AfD teilweise hinaus, ebenso die Ideen von Zwangsarbeit für Bürgergeld-Empfänger*innen – beides wird von der AfD regelmäßig goutiert. Strukturell gesehen ist ihre Politik ziemlich ähnlich, nur unterschiedlich verpackt. Oder anders gesagt: Möglicherweise kann man mit Wahlen eine (mit-)regierende AfD verhindern, aber nicht eine rechtsautoritäre Zeitenwende, denn zu dieser gehören die internationale Dimension, die öffentliche Meinung, der Zustand der Gesellschaft, der Demokratieabbau durch alle Parteien.

Rechtsautoritäre Zeitenwende

Als es nach dem Brandmauerfall in der letzten Januarwoche 2025 zu zahlreichen Demonstrationen gegen die Zusammenarbeit von AfD und CDU kam, waren Organisator*innen und Redner*innen nicht selten Sozialdemokrat*innen und Grüne. In meiner Social-Media-Bubble setzt sich – politisch zu meinem Erstaunen, klassenanalytisch weniger erstaunlich – die Position durch, man müsse nun grün wählen. Gut, vielleicht gibt es unter Rot-Grün eine Abschiebung weniger, ein Windrad mehr und mit Glück werden Gender-Sternchen nicht verboten. Das sind ehrenwerte Gründe zu wählen, gleichwohl reden wir von auch bei SPD und Grünen von Parteien, die erst kürzlich in Niedersachsen, Hamburg und Brandenburg mehrfach das Kirchenasyl gebrochen haben, Sozialleistungen für »Dublin-Flüchtlinge« gestrichen und den Familiennachzug erschwert haben.

Strukturell wird sich nach der Wahl nichts ändern. Und damit ist eben nicht nur gemeint, dass es weiter Kapitalismus oder Herrschaftsverhältnisse gibt, sondern dass die Schraube in Deutschland weiter nach rechts gedreht wird. Darauf hat der Soziologe Didier Eribon bereits anlässlich der französischen Präsidentschaftswahl 2017 hingewiesen: Die vorhersehbare Enttäuschung über den neoliberalen Einheitsbrei und die unsoziale Politik der Progressiven stärkt die extreme Rechte auf Dauer.

Deswegen muss mit einem historischen Mythos gründlich aufgeräumt werden: Eine Neuauflage einer »antifaschistischen Einheitsfront«, wie sie die Komintern vor 1928 und nach 1935 befürwortete, oder einer »Volksfront« à la Frankreich 1936 ändert den rechtsautoritären Trend nicht. Großdemonstrationen gegen die AfD unter Beteiligung von SPD und Grünen sind eine Farce, die letztlich nur Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten sind, weil hier das vermeintliche (oder tatsächliche) Establishment gegen seine Gegner*innen demonstriert. Selbstverständlich stimmt auch das Gegenteil nicht, die »Sozialfaschismus«-These, die von der Komintern von 1928 bis 1935 verfochten wurde. Auch die traditionelle linke Frage »Wer hat uns verraten?« bleibt falsch gestellt. Wenn SPD und Grüne handeln, wie sie handeln, verraten sie weder eine Bevölkerungsfraktion noch eine Klasse und auch keine Parteiideologie. Sie erfüllen einfach nur ihre Funktion als Partei, Repräsentantin der Machtverhältnisse zu sein.

Und allen Analysen von gewerkschaftlichen Machtressourcen (Dörre) oder einer »strukturellen Arbeitermacht« (Beverly Silver) zum Trotz: Vor lauter bedeutungsschwangerer Analyse der eigenen proletarischen Machtressourcen haben wir vergessen, diese mit den Machtressourcen der Gegenseite zu vergleichen. Mit der Berufung auf die Arbeiterklasse ist momentan politisch kein Blumentopf zu gewinnen, also wird sie von allen Parteien einfach unten (und weder links noch rechts) liegen gelassen.

Wer eine dieser Parteien wählt, unterstützt damit die Spirale des Autoritarismus. Das lässt allerdings nicht den Umkehrschluss zu, dass, wer nicht wählte, dieses Regime bekämpfen würde. Wer nicht wählt, macht einfach gar nichts – und das hilft auch nicht weiter. Es ist den Parteien nämlich auch letztlich vollkommen wurscht, ob die Wahlbeteiligung nun bei 70 Prozent liegt oder bei 30 Prozent: Sie regieren uns einfach trotzdem – und zwar autoritär. Allein dieser Umstand weist schon auf einen eklatanten Mangel an Demokratieverständnis hin. Und dieses Desinteresse an der Demokratie, teilweise der »Hass auf die Demokratie« (Jacques Ranciére), die Miss- und Verachtung des vermeintlichen Souveräns, ist es ja, die den Autoritarismus weiter befördert.

Es scheint völlig egal zu sein, ob wir demokratisch organisiert oder autoritär regiert sind. Demokratie erscheint – und deswegen ist das, was landläufig so genannt wird, keine Demokratie mehr – eben nur als Essenz der Verfassung: Demokratisch ist, was verfassungskonform ist; undemokratisch ist, was verfassungswidrig oder -feindlich und damit »extremistisch« ist. Dass Demokratie etwas Dynamisches ist, das sich durch sich selbst verändert, geht so unter. So können fortschrittliche Philosophen wie Omri Boehm zu dem Schluss kommen, die (Moral-)Philosophie habe Vorrang vor der Demokratie: Wenn eben die »Armen« nicht so sind, wie der Philosoph sie gerne hätte, dann muss der Philosoph eben herrschen (Ranciére).

Demokratie im Betrieb

Hilft da vielleicht, wie oft kolportiert, die Bildung weiter, wäre das die demokratische Alternative zu Wählen oder Nichtwählen? Es kommt darauf an: Die dritte Gedenkstättenexkursion und die hundertste Wiederholung von »Schindlers Liste« auf Arte oder 3Sat wird weder individuelles Denken ändern noch den gesamtgesellschaftlichen Autoritarismus beenden. Es immer wieder so zu versuchen, führt eher zu den klassisch rechten Ablehnungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der staatlichen Bildungsinstitutionen und der »Lügenpresse«.

Aber Bildung ist dennoch nicht ganz sinnlos, wenn wir nämlich das Bildungssystem – Kita, Schule, Hochschule, Erwachsenenbildung – als Freiraum begreifen und gestalten, um Demokratie erfahrbar zu machen. Staatsbürger*innenkunde nutzt hier gar nichts, wir müssen nicht lernen, wie das System ist, sondern wie es sein könnte. Aus dem neoliberal gewendeten Diktum der Pflicht zum lebenslangen Lernen muss ein genommenes Recht auf lebenslanges demokratisches Handeln werden. Wenn Demokratie ein Abstraktum bleibt, dann wird sie lediglich assoziiert mit dem, was im Grundgesetz steht. Sie ist dann ein beliebiges Stück Papier, das man glauben kann, wie man glauben kann, was in der Bibel oder im Manifest der Kommunistischen Partei steht.

Gewerkschaftliche und gewerkschaftsnahe Untersuchungen aus der Otto-Brenner-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung haben in den vergangenen Monaten betont, dass ein Mehr an gewerkschaftlicher Mitbestimmung im Betrieb – also genau die Erfahrung der Wirksamkeit demokratischer Prozesse – tendenziell gegen rechts-autoritäre Tendenzen immunisiert. Man darf das nicht überschätzen: Ein funktionierender Betriebsrat wird einen überzeugten Rechtsextremen nicht umstimmen. Das haben Stéphane Beaud und Michel Pialoux bereits vor zwei Jahrzehnten in ihrer Studie »Die verlorene Zukunft der Arbeiter« gezeigt: Wer bei den Betriebsratswahlen bei Peugeot die kommunistische Gewerkschaft CGT wählte, wählte dennoch ansonsten Front National. Deswegen, weil die demokratische Erfahrung im Betrieb nicht auf das allgemeine politische System übertragen wird (so wenig wie in der Bildungsarbeit).

Zudem ist Demokratie in der Arbeitswelt – wir erinnern uns an die entsprechende Karikatur: »Achtung! Sie verlassen den demokratischen Sektor« (wenn Sie das Werk betreten) – eine absolute Minderheitenerfahrung. Das Unternehmen ist Privatbesitz, da hat Demokratie nichts zu suchen. Gerade aber weil dies weitverbreitete öffentliche Meinung und Gesetz ist, ist die Erfahrung von Demokratie im Betrieb eine starke demokratische Erfahrung, die zwar nicht zwangsläufig etwas verändern wird, aber zumindest die Möglichkeit der Veränderung in sich birgt.

Der Kampf für mehr und echte Demokratie im Betrieb ist daher Grundvoraussetzung, um die tendenziell nicht-demokratische Gesellschaft zu demokratisieren – etwas, was aber wiederum keine Partei, ausgenommen erneut Die Linke, interessiert: eher im Gegenteil. Denn die Demokratisierung der Gesellschaft im Betrieb zu beginnen (statt am Sonntag mit einem Kreuzchen auf einem Stück Papier), stellt die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße: Das Private wird politisch, das Geheime (Betriebsgeheimnisse) wird öffentlich und vor allem wird das Eigentum gemein (common).

Das Einfache, das schwer zu machen ist

Ein dritter Punkt: Das Gemeinwesen, das Soziale. Der Sozialen Arbeit kommt in der Demokratisierung entscheidende Bedeutung zu, insbesondere der Gemeinwesenarbeit. Das hat einige, teils anspruchsvolle Grundvoraussetzungen: unter anderem ein gewisser Abschied von der Professionalität, analog der Überwindung des Unterschieds von Lehrenden und Lernenden in der Bildungsarbeit. Dass die Soziale Arbeit eigentlich da ist, um sich selbst abzuschaffen, ist ein altes Bonmot. Richtiger wäre vielleicht: Jede*r muss eines jeden Sozialarbeiter*in sein. Unter Sozialer Arbeit muss das Engagement etwa von revolutionären Stadtteilgruppen (Vogliamo tutto), selbstverwalteten Kinderläden und vieles mehr gefasst werden. In einer so verstandenen Sozialen Arbeit muss es um die Demokratisierung der Arbeitsagenturen –  wir brauchen Erwerbslosenräte – gehen, um die Selbstverwaltung von Drogenberatungen, um die Errichtung von sozialen Stadtteilgesundheitszentren (Polikliniken). Soziale Arbeit ist nur dann sozial, wenn sie demokratisch ist. In der Ausbildung müssen Soziale Arbeiter*innen also mit entsprechenden demokratischen Kompetenzen ausgestattet werden – hier schließt sich der Kreis zur Bildung.

All dies und mehr muss kollektiv ausgetauscht werden, um zu einer gesellschaftlichen Demokratisierung zu führen, und das, um es vollständig zu verkomplizieren, transnational. Aufgabe einer Linken ist es hier, Moderator*in und Übersetzer*in zu sein. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn die Demokratie in Gefahr ist, erfindet sie sich in der Regel neu. Es gehört zum ureigensten Charakter der Demokratie, dass sie sich nach jeder Dekonstruktion oder Destruktion einen neuen Weg bahnt, sich in neuen Kämpfen immer rekonstruiert, historisch etwa im Kampf für das Frauenwahlrecht, deutlicher in der Erfindung der Räte durch die Bewegung der Arbeiter*innen und vor 15 Jahren in der Demokratie der Plätze während des sogenannten »arabischen Frühlings« und der Occupy-Proteste. Ist die Demokratie in ihrer Konstruktion unvollkommen oder, wie aktuell, ganz akut (global) von Destruktion bedroht, rekonstruiert sie sich – vielstimmig. Das funktioniert nicht über Parteien, das funktioniert nur von unten. Diese Demokratie wurde immer wieder bekämpft, auch von links – immer dann, wenn Demokratie auch linke Herrschaft oder Privilegien bedroht. Deswegen kann eine erneuerte Linke nur radikal demokratisch sein. Sie kann eine neue Demokratie nicht gebären, aber sie kann ihre Hebamme sein.

Torsten Bewernitz

lehrt zu sozialer Transformation und kollektivem Handeln an der Hochschule Darmstadt und ist Redakteur bei express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit.