analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 689 | International

Schwesterlich selbstorganisiert

In Argentinien bieten Socorristas Begleitung bei Abtreibungen an – das ist auch nach der erfolgreichen Legalisierung notwendig 

Von Alix Arnold

Ende 2020 stimmte der argentinische Senat für die Legalisierung von Abtreibungen. Dieses Recht wurde von der feministischen Bewegung hart erkämpft, an der Umsetzung hapert es bis heute. Foto: Gisela Curioni/Wikimedia Commons

Das feministische Kollektiv La Revuelta aus Neuquén in Patagonien rief 2012 dazu auf, seinem Beispiel zu folgen und ungewollt Schwangere bei Abtreibungen zu unterstützen. Heute gehören 50 Gruppen im ganzen Land zum Netz der Socorristas, der Helfer*innen oder Retter*innen. Sie waren ein wichtiger Teil der großen feministischen Bewegung, die in Argentinien das Recht auf Abtreibung durchsetzen konnte. Aber trotz des Ende Dezember 2020 endlich verabschiedeten Gesetzes bleibt der Weg zur Abtreibung schwierig. Selbsthilfe und die Unterstützung der Socorristas sind weiterhin gefragt.

Die selbstorganisierten Abtreibungen werden medikamentös vorgenommen, was auch von der WHO als sichere Methode vorgeschlagen wird. Auf ihrer Website erklären die Socorristas den Gebrauch von Misoprostol und die Kombination des Medikaments mit Mifepristona. Aber sie lassen damit niemanden allein. Neben telefonischer Beratung bieten die Gruppen Workshops und persönliche Begleitung beim Abtreibungsprozess an.

Beratung und Schutz

Belén ist seit 2010 bei La Revuelta und als Socorrista aktiv. Ich treffe sie Mitte November im Haus der Gruppe. Sie erzählt mir den Ablauf: »Denen, die uns anrufen, erklären wir als allererstes, dass es eine Lösung für ihr Problem gibt. Das ist das Wichtigste«, sagt die Aktivistin. Dann fragten sie die Person, ob sie weiß, in welcher Woche der Schwangerschaft sie sich befindet. Bei fortgeschrittenen Schwangerschaften würden sie empfehlen, sich an das Gesundheitssystem zu wenden, allerdings an befreundete Ärzt*innen. Meistens jedoch laden sie die Betroffenen zu einem Treffen im Haus ein. »Wir bieten jede Woche etwa fünf oder sechs solcher Treffen an, zu verschiedenen Uhrzeiten. Dort erklären wir, wie eine Abtreibung im Gesundheitssystem abläuft, und wie sie es selbstorganisiert mit uns machen können. Wenn Schwangere sich für das Gesundheitssystem entscheiden, schicken wir sie nicht einfach irgendwo hin. Wir geben ihnen alle Informationen und sagen, an wen sie sich wenden können. Abtreibung ist immer noch stark stigmatisiert.« Im Gesundheitssystem würden viele schlecht behandelt, so berichtet Belén. Ärzte erklärten zu wenig, auch zu den Medikamenten und ihrer Anwendung. Manche der Betroffenen kämen gut selbst klar und bräuchten die Hilfe der Socorristas nicht. »Aber für viele ist es beruhigend zu wissen, dass sie von einer Person begleitet werden, die das schon öfter gemacht hat.«

Foto: Alix Arnold

Belén Grosso

ist 36 Jahre alt, feministische Aktivistin, Grundschullehrerin und Verfechterin des öffentlichen Bildungssystems. Sie ist seit 2010 bei La Revuelta und als Socorrista aktiv.

Wenn die Schwangeren die Abtreibung nicht bei sich zuhause durchführen könnten, weil dort zum Beispiel eine Person wohnt, die das nicht mitbekommen soll, bieten die Socorristas von La Revuelta ihnen dafür ihre Wohnungen an. Seit letztem Jahr hat La Revuelta in Neuquén ein eigenes Haus. Lange hatte die Gruppe von einem eigenen Ort geträumt, um nicht ständig umziehen und andere um Räume bitten zu müssen. Mit Ersparnissen aus Projektgeldern konnten sie das Gelände kaufen, und eine große Spende machte den Neubau möglich. Das anonyme Angebot führte zu Diskussionen, aber da die Spende an keinerlei Bedingungen gebunden war, wurde sie schließlich angenommen. In dem hohen, hellen Versammlungsraum finden die Workshops zu Abtreibungen statt. Außerdem gibt es dort feministische Seminare zu verschiedenen Bereichen wie Journalismus, Geschichte oder Justiz, für die dank eines Abkommens mit der Uni auch Bescheinigungen ausgestellt werden können.

In der Galerie im ersten Stock befinden sich weitere Räume für den Telefondienst an sechs Tagen pro Woche, ein Büro für Verwaltungsarbeiten und ein Raum für Untersuchungen: »Drei Ärztinnen, zwei Gynäkologinnen und eine Allgemeinärztin kommen abwechselnd jeden Dienstagnachmittag für zwei Stunden ins Haus. Personen, die aus irgendwelchen Gründen nicht das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen können oder wollen, können wir so anbieten, die Nachuntersuchungen mit Ultraschall hier machen zu lassen.« Für den Telefondienst und die Verwaltungsarbeiten gibt es ein kleines Honorar. Die Begleitungen und die Workshops machen die Socorristas unbezahlt, als Teil ihrer politischen Arbeit. Es geht ihnen darum, der Stigmatisierung von Abtreibung entgegenzutreten, das angeblich private Problem zu politisieren und kollektive Lösungen zu entwickeln.

Staatliche Verantwortungslosigkeit

Das Gesetz zur Legalisierung von Abtreibungen war ein Riesenerfolg für die Bewegung, aber an der Umsetzung hapert es immer noch. Zwar erhöhte sich die Zahl der Praxen im öffentlichen Gesundheitssystem, die Abtreibungen vornehmen, in den letzten zwei Jahren um 60 Prozent auf 1.437, und an vier staatlichen Standorten werden nun die Medikamente produziert. Aber der Zugang zur Abtreibung und zu den Medikamenten ist noch längst nicht überall gewährleistet. Die in der Nationalen Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung zusammengeschlossenen Gruppen stellen nach den Erfahrungsberichten bei ihrem Plenum Anfang Dezember 2022 große Unterschiede fest, je nach Ort und Provinz. An vielen Orten werden Behandlungen verweigert, Anträge verschleppt und Informationen vorenthalten. Es kommt zu Gewalt gegen Abtreibungswillige, sowohl auf der institutionellen Ebene als auch bei der medizinischen Behandlung, wobei häufig Diskriminierung, Stigmatisierung und Rassismus eine Rolle spielen.

An vielen Orten werden Behandlungen verweigert, Anträge verschleppt und Informationen vorenthalten.

Vor allem aber fehlt eine öffentliche Information über das neue Gesetz. Wieder war Selbsthilfe nötig: »Wir haben mit einer Kampagne die wichtigsten Teile des Gesetzes in einer weniger juristischen Sprache verbreitet. Vom Staat kam da nichts, nachdem das Gesetz raus war. Überhaupt nichts. Aber was nützt ein Gesetz, wenn niemand es kennt?«, fragt Belén. »Wir fordern vom Staat, die Verantwortung zu übernehmen und nicht auf uns Socorristas abzuschieben.« Deshalb haben sie 2021 den Text über die »Schlechte Praxis« veröffentlicht, der viel gelesen wurde. In dieser Broschüre sind Beispiele aus den Gruppen zusammengetragen, in denen die Rechte von Abtreibungswilligen eklatant verletzt wurden – jeweils mit Verweis auf den entsprechenden Paragrafen des neuen Gesetzes.

Nach offiziellen Angaben wurden 2022 bis September des Jahres im öffentlichen Gesundheitssystem 59.267 Abtreibungen durchgeführt. Die Socorristas begleiteten in diesem Jahr zwischen Januar und Oktober 10.063 Personen. Ihre Unterstützung ist also weiterhin sehr gefragt, denn ihre schwesterliche Begleitung des Prozesses ist ein Angebot, das im Gesundheitssystem nur in wenigen Ausnahmefällen zu finden ist.

Anhaltende Repressionen

Am 21. Dezember kam es unerwartet zu einer Repression. Vier Frauen aus dem Städtchen Villa María in der Provinz Córdoba wurden unter dem Vorwurf inhaftiert, unerlaubt medizinische Handlungen durchgeführt oder diese vertuscht zu haben. Mehrere Privatwohnungen wurden durchsucht. Dies war den Socorristas in all den Jahren vor der gesetzlichen Legalisierung, in denen sie zigtausende Personen bei Abtreibungen begleitet haben, noch nicht passiert. Es gab Verfahren und Haftstrafen gegen Personen, die abgetrieben haben, nicht aber gegen die Unterstützer*innen. Eine Erklärung des Netzwerks, in der sie die Freilassung der Verhafteten fordern, wurde innerhalb kürzester Zeit von Dutzenden feministischen, politischen und Menschenrechtsgruppen sowie sozialen Bewegungen unterzeichnet. Am 26. Dezember kamen die Frauen wieder frei. Aber die Anklagen laufen weiter. Einzelheiten wurden noch nicht bekannt gegeben. Angesichts des Sommerlochs und der anstehenden Gerichtsferien in Argentinien wird die Unsicherheit, wohin dieser Kriminalisierungsversuch führen kann, noch einige Zeit bestehen bleiben.

Alix Arnold

lebt in Köln und lernt gerade viel von jungen Klimaaktivist*innen.