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Solidarisch feiern oder identitär aneignen?

Eine Perspektive zum 8. Mai und über den Tag hinaus

Von Streikbündnis 8. Mai

Eine Wand mit Graffiti, das die Ermordeten von Hanau zeigt.
In vielen Städten der Bundesrepublik fanden 2020 Aktionen im Rahmen des Generalstreiks statt. Straßen wurden umbenannt und Wände verschönert, wie hier in Köln. Foto: Bündnis Generalstreik 8. Mai

Seit den rassistischen Anschlägen von Hanau hat sich in Deutschland vieles verändert. Das würden wir gerne sagen können: dass politische und behördliche Verantwortliche den Hut nehmen mussten, dass die Morde vollständig aufgeklärt wurden, dass weitreichende Konsequenzen gezogen wurden und alles getan wurde, damit sich so etwas nicht wiederholt. Doch seit Hanau hat sich die Zahl der Angriffe auf Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden, trotz Pandemie, erhöht, es gab über 1.600 Angriffe auf geflüchtete Menschen und fast täglich erreichen uns Meldungen von antisemitischer und rassistischer Gewalt, auch von staatlicher Seite. Waffen und Munition verschwinden bei Polizei und Bundeswehr, die Polizei ist in den NSU 2.0 verwickelt, regelmäßig tauchen rechtsextreme Chatgruppen bei der Polizei auf und eine extrem rechte Partei im Bundestag ist inzwischen Normalität.

Obwohl Hanau ein Wendepunkt für viele von Rassismus betroffene Menschen in puncto Aktivismus war, ist der Rassismus nichts Neues. Als Bündnis haben wir für uns den Streik als Form des Protests gegen bestehende Verhältnisse gewählt. Denn da, wo Rassismus und Antisemitismus deutsche Tradition sind, ist es auch der Widerstand, der bis in die Zeit des Deutschen Reiches und der deutschen Kolonien zurückreicht. Selbstverständlich sollen die Aufstände jüdischer Menschen, von Rom*nja und Sinti*ze und anderer Betroffener im Nationalsozialismus und in Konzentrationslagern nicht unerwähnt bleiben. Es hat uns als rassifizierte Menschen verwundert, dass Tage der Befreiung und des Widerstands nicht wie selbstverständlich in Deutschland Feiertage sind.

Die Idee des Streiks

Wir verstehen uns in der Tradition jener Arbeiter*innen, die gegen ihre, auch rassistisch begründete, Ausbeutung gestreikt haben, so etwa Anfang der 1970er Jahre bei den wilden Streiks bei Ford in Köln oder Pierburg in Neuss.

Antirassistische Demos haben dann in den 1980er Jahren viele Menschen auf die Straße gebracht, aber vor allem nach den rassistischen Anschlägen der 1990er Jahre hat sich antifaschistischer Protest rassifizierter Menschen radikalisiert. Nach dem Brandanschlag von Solingen 1993 taten sich Menschen aus Solingen zusammen, die nicht mehr auf die Polizei vertrauten. Sie haben Bürger*innen-Gruppen gebildet und insbesondere türkische und kurdische Menschen haben Schutzmaßnahmen wie Demos, Nachtwachen und Telefonketten organisiert. Ein gern erwähntes Beispiel ist auch die Antifa Gençlik, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ähnlich agierte und sich auch körperlich gegen Nazis zur Wehr setzte.

Nach den rassistischen Anschlägen von Hanau und nach dem Mord an George Floyd durch die US-Polizei haben sich Gruppen gebildet, die sich vermehrt und sichtbarer gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen. Black Lives Matter und Migrantifagruppen sowie Antifas und Antiras und auch lange bestehende Organisationen, die sich zum Beispiel für Geflüchtete stark machen, organisieren bis heute Gedenkkundebungen und Proteste gegen antisemitische und rassistische Verhältnisse.

Es wurde im zurückliegenden Jahr deutlich, dass Demos und Kundgebungen als Reaktion auf Angriffe nicht ausreichen. Weder Landes- noch Bundesinnenminister, noch weite Teile parlamentarischer Politik haben sich davon beeindrucken lassen. Auch konnten die Forderungen der Bewegungen nicht in die breite Gesellschaft getragen werden, außer, dass es eben Konsens ist, sowas zu verurteilen. Während anderswo, zum Beispiel in einigen Ländern Südamerikas, progressive, vor allem auch feministische Gruppen, Millionen Menschen durch Streiks bewegen und damit politische und gesellschaftliche Veränderungen erreichen konnten, haben sich in Deutschland die Verhältnisse nicht geändert, ja noch nicht einmal bewegt.

Im Jahr nach Hanau war die Perspektive eines Generalstreiks eine, aus der wir Kraft schöpfen konnten. Auch wenn ein politischer Streik mit Unterstützung der Gewerkschaften in Deutschland rein formell kaum möglich ist, war unsere Idee, dazu zu mobilisieren, die Arbeit niederzulegen, um zu zeigen, dass dieser Staat kein Interesse daran hat, uns vor unterschiedlichen Formen des Antisemitismus und Rassismus zu schützen und um uns gegenseitig zu stärken. Dabei wollten wir zeigen, von wem die eigentliche Kraft für so Vieles in diesem Land ausgeht. Nachdem uns im Frühjahr 2020 die Pandemie einen Strich durch die Organisierung gemacht hat, stehen wir inzwischen vor anderen Herausforderungen, denn die Ausgangslage hat sich geändert.

Im Jahr nach Hanau war die Perspektive eines Generalstreiks eine, aus der wir Kraft schöpfen konnten.

Widersprüche und Reflexion

Vor dem Hintergrund drohender Konsequenzen für Arbeiter*innen in prekären Arbeitsverhältnissen, im Dienstleistungs- und Niedriglohnsektor können marginalisierte Menschen bei einem Streik ohne Rückhalt bei der Arbeit in schwierige Situationen geraten. Die akute Gefährdung von prekär Beschäftigten, zum Beispiel in fleischverarbeitenden Fabriken oder auf Spargelfeldern, hat nur vereinzelt für hörbare Proteste in der Öffentlichkeit und nicht für Veränderungen zu ihren Gunsten gesorgt. Vor allem die Politik, aber auch staatliche Institutionen und breite Teile der Gesellschaft verleugnen und verharmlosen die lebensbedrohlichen Verhältnisse für marginalisierte Menschen immer wieder aufs Neue. Kapitalismus-, antisemitismus- und rassismuskritische Forderungen werden übergangen oder ins Lächerliche gezogen und laufen ins Leere. Das hat sich zum Beispiel auch daran gezeigt, dass die politischen Forderungen nach Konsequenzen durch Hinterbliebene der rassistischen Anschläge von Hanau weitgehend ungehört blieben.

Diese Gewalt- und Machtverhältnisse, die sich in der Unterdrückung der arbeitenden Klasse, Geflüchteter (auch denen vor Europas Außengrenzen) sowie erwerbsloser und obdachloser Menschen zeigt, haben sich im Laufe der Pandemie zugespitzt. Die Politik war und ist damit beschäftigt, die Wirtschaft nicht zu verärgern und viele Menschen sind geplagt von Maßnahmen und Einschnitten ins Privatleben, die sich nicht eignen, die Pandemie endlich einzudämmen. Die Politik hat kein Interesse daran, dass diese Verhältnisse aufgebrochen werden, denn das würde auch ihre eigene Entmachtung bedeuten. Gleichzeitig war bereits vor der Pandemie die praktische Unterstützung für antikapitalistische, antirassistische und antifaschistische Forderungen in der Gesellschaft nur in geringem Ausmaß vorhanden. 

Eine Reflexion historischer Kontinuitäten ist kaum möglich ohne die Stimmen der Überlebenden, Angehörigen, Communities und politisch aktiven, solidarischen Räume und auch nicht, ohne sich Widersprüche einzugestehen. Sie erfordert, sich nicht zurückzulehnen, sondern die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, Strategien sowie stetige, nicht immer einfache Lernprozesse – kurz gesagt: Sie erfordert Politisierung. 

Wir standen letztes Jahr vor der Herausforderung, inmitten sich überschlagender Ereignisse mit politischen Forderungen Sichtbarkeit zu erlangen. Sich dabei zu reflektieren und zu hinterfragen bleibt die altbekannte Aufgabe von politischen Bündnissen und von uns Einzelnen. Rückblickend sind wir nicht überrascht darüber, dass die Perspektive, sich Kontinuitäten des Widerstands wie auch der Gewaltverhältnisse anzusehen, wenig aufgegriffen wurde. Unsere ersten Überlegungen zum Titel »Tag des Zorns« an einem 8. Mai waren dabei auch nicht gerade hilfreich. Auch wenn wir später dieses Framing hinterfragt haben, blieben Widersprüche bei dem nicht einfachen Versuch, den 8. Mai zu feiern als Tag der Freude über die Befreiung und des Widerstands und gleichzeitig Trauer und Wut über die aktuellen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.

Was nötig bleibt

Es bleibt weiterhin erforderlich, gemeinsam solidarische Beziehungen als verschieden Betroffene einzugehen, sich auf Veränderungsprozesse einzulassen, Forderungen zu stellen, die Verbrechen des Staates, dem marginalisierte Leben gleichgültig sind, aufzuzeigen und uns gegenseitig zu schützen. 

In unserem Bündnis sind bislang ausschließlich Menschen aktiv, die von unterschiedlichen Rassismen betroffen sind. Einige von ihnen haben leider die direkten Auswirkungen des Nahostkonflikts erleben müssen. Doch wir möchten unsere Forderungen und unser Handeln nicht identitär begründen, sondern in den Kontext der Auswirkungen des Kapitalismus und, insbesondere in Hinblick auf den 8. Mai, eines Landes mit Shoa-Vergangenheit betten. In der Auseinandersetzung mit dem 8. Mai als Feiertag können wir Solidarität nur als eine verstehen, die deutlich antisemitismuskritisch ist, erst recht, wenn der Tag nicht vereinnahmt werden soll von Menschen, die nicht von Antisemitismus betroffen sind. Politische Perspektiven und Aktionen, die das Existenzrecht Israels vor dem anderer Nationalstaaten in Frage stellen, können wir ebensowenig akzeptieren wie die leisen und lauten Formen von Antisemitismus – von rechts bis hin zur Linken und in den eigenen Communties.

Es bleiben bei uns die Fragen, welche Konsequenzen aus den bisherigen Erfahrungen und dem Nachdenken zum 8. Mai zu ziehen sind. Da wo es uns solidarisch möglich ist, werden wir die Arbeit niederlegen. An diesem Tag nicht als Streik, sondern als Mittel, den 8. Mai gemeinsam mit unseren Genoss*innen feiern zu können und für eine Überwerfung des antisemitischen und rassistischen Status Quo einzustehen. Für die Zukunft halten wir insbesondere ob der Verhältnisse während der Pandemie bundesweite Massenstreiks für ein wirksames Mittel des Protests und freuen uns, wenn Menschen sich lokal und langfristig über die Pandemie hinaus in diese Richtung organisieren. Denn wenn wir von historischen Kontinuitäten sprechen, sprechen wir auch von Kontinuitäten des Widerstands. Wir verstehen uns in der Tradition derer stehend, die vor uns gegen Ausbeutung, Rassismus und Antisemitismus gekämpft haben. Wir verstehen es als unsere Aufgabe, die Verhältnisse zu erschüttern. Wo Rassismus und Antisemitismus sich in alltäglichen Lebenssituationen zeigen, lohnt es sich, den Alltag zu stören. Wo diese Verhältnisse im Kapitalismus verankert sind, lohnt es sich, Mittel zu wählen, die die Ausbeutungsverhältnisse mindestens temporär aussetzen. Es lohnt sich, über den 8. Mai hinaus solidarische Massenstreiks als Mittel gegen gewaltvolle Verhältnisse zu organisieren.

Streikbündnis 8. Mai

ist ein Bündnis aus Opfer-, Geflüchteten-und Migrantischen Personen und Initiativen.