»Schutz allein reicht nicht«
Die Ökologin und Aktivistin Carola Rackete über den Zusammenhang von Artensterben und Klimawandel sowie unzulängliche Naturschutzmaßnahmen
Interview: Guido Speckmann
Immerhin: Die internationale Politik hat den Schutz und Erhalt der Artenvielfalt als Ziel anerkannt. Doch wie sieht es mit der Umsetzung aus, was sind die Ursachen des Biodiversitätsverlustes und was hilft wirklich, um die ökologischen Krisen zu lösen? Carola Rackete hat Antworten.
Carola, wir sind Zeugen des sechsten Massenaussterbens in der Geschichte der Erde. Seit Jahrzehnten sterben Tier- und Pflanzenpopulationen in einem beispiellosen Tempo aus. Oft hört man, das liege am Klimawandel. Stimmt das?
Carola Rackete: Es liegt auf jeden Fall auch am Klimawandel, aber das ist nicht der einzige Grund. Die wissenschaftlichen Daten zeigen, dass die Zerstörung von Ökosystemen, wie beispielsweise die Rodung der artenreichen tropischen Regenwälder, ein Hauptgrund ist. Weitere Gründe sind das Töten von Tieren aus wilden Populationen – Stichwort Fischfang –, der Eintrag von Chemikalien und Pestiziden sowie die Ausbreitung von invasiven Arten, die unter anderem auf die Erderwärmung zurückzuführen ist. Klar ist aber: Der Einfluss der Klimakrise auf das Artensterben wird in Zukunft massiv zunehmen.
Kannst du konkrete Beispiele nennen, wie genau der Klimawandel das Artensterben vorantreibt?
Bekanntlich erwärmt sich das Meer durch die Klimakrise. Das hat zur Folge, dass sich etwa Sandaale um Island herum in anderen Meeresgebieten aufhalten als bisher. Dadurch leben sie weiter weg von Brutgebieten von Seevögeln wie den Puffins. Diese auch Papageientaucher genannten Vögel können während der Brutzeit dann weniger Sandaale fressen. Das führt zu Misserfolgen bei der Brut, und die Populationen werden immer kleiner. Ein weiteres Beispiel: Durch die Temperaturänderungen blühen einige Pflanzen viel früher. Doch manche Bestäuber, also Insekten, die über Jahrtausende eine Interaktion mit diesen Pflanzen hatten, sind dann in ihrem Lebenszyklus noch gar nicht so weit, dass sie auf den Nektar der Pflanzen angewiesen sind.
Carola Rackete
wurde 2019 als Kapitänin der Sea-Watch 3 bekannt, mit der sie Geflüchtete aus Seenot rettete und trotz Verbot italienischer Behörden den Hafen der Insel Lampedusa anlief. 2024 zog sie als parteilose Kandidatin für die Partei Die Linke in das Europaparlament ein; das Mandat gibt sie Mitte September ab. Eigentlich ist sie aber Naturschutzökologin und beteiligte sich an Waldbesetzungen wie dem Hambacher oder Dannenröder Forst sowie in der Klimagerechtigkeitsbewegung.
Auch Landnutzungsänderungen – ein etwas sperriges Wort – gelten als Treiber des Artensterbens. Was ist damit gemeint?
Stellen wir uns einen schönen Wald wie den Dannenröder Forst (ak 665) vor. Der war ein Naturschutzgebiet und wurde trotz großer Proteste abgeholzt, um einer Autobahn zu weichen. Die Landnutzung hat sich also geändert: vorher Naturschutzgebiet, jetzt Verkehrsinfrastruktur. Ein anderes Beispiel ist die Bebauung einer Wiese mit Einfamilienhäusern. Städte wachsen immer mehr, und ehemals landwirtschaftliche Flächen werden mit Gewerbegebieten oder Wohnsiedlungen versiegelt.
Stichwort Landwirtschaft – welche Rolle spielt sie in ihrer industriellen Form?
Sie ist ein großer Treiber des Artensterbens. Die Haltung von so vielen Kühen, Schweinen und Hühnern für die Fleisch- und Milchproduktion ist ohne Futtermittelimporte aus den tropischen Gebieten in Brasilien oder Argentinien nicht möglich. Für den Sojaanbau werden dort Regenwälder vernichtet, wodurch Biodiversität verloren geht. Und hierzulande sorgt die Gülle dafür, dass das Grundwasser mit Nitrat verschmutzt wird, und Pestizide – verharmlosend »Pflanzenschutzmittel« genannt – vernichten nicht nur die vermeintlichen Schädlinge, sondern auch viele andere Insekten, Tiere und Pflanzen.
In der Öffentlichkeit steht jedoch der Klimawandel im Vordergrund, wenn es um ökologische Krisen geht. Wie erklärst du dir das?
Ein Grund ist, dass die ökologischen Zusammenhänge bei der Biodiversität und die Maßnahmen zur Erhaltung von Ökosystemen viel komplexer sind und sich nicht so einfach auf eine Formel bringen lassen, wie es der Klimabewegung mit dem 1,5-Grad-Ziel vermeintlich gelungen ist.
Es fehlt die mediale Aufmerksamkeit und Aufklärung über unsere Abhängigkeit von der Natur.
Zum Schutz der Artenvielfalt wird das sogenannte 30×30-Ziel kommuniziert. Es ist Teil des Kunming-Montreal-Abkommens der UN, das 2022 beschlossen wurde. Bis zum Jahr 2030 sollen demnach mindestens 30 Prozent der globalen Land- und Meeresflächen effektiv unter Schutz gestellt werden. 30×30 – das klingt doch recht griffig …
Ja, aber es ist nur eines von 23 Zielen und somit nur Teil eines Gesamtpakets. Über die anderen Ziele wird jedoch kaum geredet.
Was sind das für Ziele?
Beispielsweise die Halbierung von Chemikalien und Pestiziden oder der Abbau schädlicher Subventionen. Bis 2030 sollen wenigstens 500 Milliarden Dollar an ökologieschädlichen Subventionen abgebaut werden. Ein weiteres Ziel ist die Halbierung der Lebensmittelverschwendung innerhalb der gesamten Produktionskette.
Während der Klimaschutz mit der Industrie der erneuerbaren Energien eine Lobby hat, ist dies bei der Biodiversität nicht der Fall. Ist das auch ein Grund, warum das Thema nicht so im Fokus steht?
Es ist sogar noch schlimmer. Es gibt viele Industrien, die kein Interesse am Artenschutz haben, darunter die Agrarindustrie und die Chemieindustrie mit Pestizid- und Düngerherstellern wie etwa Syngenta, Bayer, Yara oder BASF. Sie verdienen sehr viel Geld und stecken einen Teil davon in Lobbyarbeit, um ihr Geschäftsmodell zu bewahren. Sowohl in Deutschland als auch in Brüssel gehört die Agrarindustrie zu den drei größten Lobbygruppen.
Manchmal heißt es, dass alle Maßnahmen, die gegen Artenverlust helfen, auch gut fürs Klima sind, während viele Klimamaßnahmen schlecht für die Biodiversität sind. Stimmt das?
Das ist mir ein wenig zu pauschal. Die Ursache der Krise der Ökosysteme ist die Übernutzung von natürlichen Ressourcen, die aus unseren wachstumsbasierten Wirtschaftsmodellen resultiert. Wir verbrauchen viel zu viele Materialien aus der Natur – mehr, als sich jährlich erneuern können. Die vielleicht wichtigste Lösung ist es daher, die Energie- und Naturnutzung auf das zu beschränken, was sich innerhalb eines Jahres wieder erneuern kann. Oder sogar noch weniger, da sich vieles über einen längeren Zeitraum regenerieren muss, was zuvor zerstört wurde. Wenn das geschieht, hilft das sowohl einem stabilen Erdklima als auch der Artenvielfalt.
Kommen wir auf die internationalen Ziele zum Biodiversitätsschutz zurück. Wie ist der Stand der Umsetzung?
Es ist noch zu früh, um das bewerten zu können, da das Kunming-Montreal-Abkommen noch nicht lange in Kraft ist. Nach fünf Jahren soll eine Überprüfung stattfinden. Wichtig zu wissen ist jedoch, dass die Ziele nicht verbindlich sind und die USA das Biodiversitätsabkommen nicht unterstützen. Ebenso wichtig ist, dass es von 2010 bis 2020 die sogenannten Aichi-Ziele zum Schutz der Artenvielfalt gab, von denen 19 von 20 verfehlt wurden. Insofern wird es wohl keine Wende im Naturschutz geben. Im Gegenteil: Es gibt Prognosen, die zeigen, dass der Artenverlust weiter eskaliert, sowie Studien, die belegen, dass die bisher eingeleiteten Maßnahmen nicht ausreichen. Der Faktencheck Artenvielfalt in Deutschland hat ergeben, dass mehr als die Hälfte der Lebensraumtypen in einem schlechten Zustand sind und ein Drittel der untersuchten Arten in ihren Beständen gefährdet ist. Das sind äußerst hohe Zahlen – insbesondere, wenn man bedenkt, dass nur 40 Prozent der Arten überhaupt untersucht wurden.
Die Ursache der Krise der Ökosysteme ist die Übernutzung von Ressourcen.
Auf dem Papier gibt es in Deutschland ja ausgewiesene Naturschutzgebiete. Sind es einfach zu wenige?
Zum einen ja, aber es kommt noch etwas anderes hinzu: Schutzgebiete haben sehr verschiedene Kategorien, manche werden wirtschaftlich genutzt. In Deutschland haben Biosphärenreservate und Nationalparks sehr hohen Schutz. Bei anderen Kategorien sind landwirtschaftliche und industrielle Aktivitäten zum Teil erlaubt. Auch in Meeresschutzgebieten ist häufig Fischerei zugelassen. Die Frage nach der Fläche von Schutzgebieten lenkt die Öffentlichkeit häufig von der viel wichtigeren Frage ab, was noch passieren muss. Es ist nicht sinnvoll, 30 Prozent der Land- und Meeresflächen vollständig zu schützen und die restlichen 70 Prozent auszubeuten und zu zerstören. Es bringt wenig, wenn ein Schutzgebiet neben einem intensiv bewirtschafteten Acker liegt. Denn die Pestizide können vom Wind auch in das Schutzgebiet geweht werden. Wir müssen das große Ganze betrachten – und das ist eben die Frage der globalen Energie- und Ressourcennutzung.
Schauen wir noch auf die EU-Ebene: Die Kommission hat mit ihrer Verordnung zur Wiederherstellung der Natur zwar etwas angestoßen, doch das steht bereits wieder unter Beschuss.
So ist es. Seit dieser Legislaturperiode höhlt die EU-Kommission ihr eigenes Programm, den Green Deal, massiv aus. Dabei arbeiten die konservativen Parteien, wie die CDU, regelmäßig mit den extrem rechten Fraktionen zusammen. Eine Brandmauer gibt es da nicht mehr. Dabei hatte die Renaturierungsverordnung schon von Anfang an ein grundlegendes Problem: Aufgrund von Lobbyarbeit wurde die Landwirtschaft zu kaum etwas verpflichtet.
Du hast einmal gesagt, dass es dir in der Klimagerechtigkeitsbewegung vor allem darum geht, das Thema Natur- und Artenschutz in den Vordergrund zu rücken. Warst du erfolgreich?
Nicht besonders. Grundsätzlich ist vielen bewusst, dass Artenschutz ein ebenso wichtiges Thema ist wie die Klimakrise, wenn nicht sogar ein größeres. Aber die Menschen werden dann doch eher aktiv, wenn es um Themen geht, die mit Klima, mit Kohle und Gas zu tun haben. Das Problembewusstsein für den Biodiversitätsverlust ist etwas gewachsen. Aber es ist bei Weitem nicht da, wo es sein müsste. Zwar hat sich die Politik einige Ziele gesetzt, aber die konkrete Umsetzung fehlt komplett.
Wo siehst du dennoch Ansatzpunkte, dass Menschen für das Thema sensibilisiert werden?
Viele Menschen, insbesondere im ländlichen, Raum gehen täglich mehrmals mit dem Hund raus oder drehen ihre Joggingrunden. Sie haben einen sehr starken Bezug zu ihrer lokalen Natur. Gleichzeitig ist gerade den Menschen in der Stadt ein lokaler Park zur Erholung besonders wichtig. Eine große Sympathie oder Liebe zur Natur haben viele Menschen. Was fehlt ist mediale Aufmerksamkeit und Aufklärung über unsere Abhängigkeit von der Natur, etwa für unser Ernährungssystem, den Nährstoffzyklus, gesunde Böden oder Hochwasserschutz.
