Trügerischer Reichtum
Mit dem eintretenden grünen Rohstoffboom stellt sich erneut die Frage, ob die Exportländer wirklich vom Extraktivismus profitieren können
Von Tobias Lambert

Auch wenn sich weltweit politische Kräfte dagegen zur Wehr setzen, sind die Energie- und Mobilitätswende schon in vollem Gange. Doch um flächendeckend fossile durch erneuerbare Energien oder Verbrennungsmotoren durch Elektroantrieb zu ersetzen, braucht es neben politischem Willen vor allem eines: Metalle. So werden in den kommenden Jahrzehnten deutlich größere Mengen an Lithium, Kobalt oder Kupfer gebraucht werden. Lateinamerika kommt bei der Energiewende eine Schlüsselrolle zu. Denn viele der strategisch wichtigen Rohstoffe finden sich hier, darunter große Vorkommen an Kupfer, Lithium, Nickel, Kobalt, Graphit und Seltenen Erden.
Praktisch mit jedem neuen Rohstoffboom ist die Hoffnung verbunden, dass die Länder des Globalen Südens nun endlich Vorteile aus ihren Ressourcen ziehen werden. Mehreinnahmen könnten schließlich die Situation der Bevölkerung in Bereichen wie Ernährung, Gesundheit oder Bildung verbessern und in eine Diversifizierung der Wirtschaft investiert werden. Dafür müsste eine aktive Rohstoffpolitik einerseits die Erträge des Staates gegenüber privaten Rohstoffkonzernen erhöhen und andererseits das Geld intern zugunsten der Bevölkerung ausgegeben werden.
Doch bringt Extraktivismus als Entwicklungsmodell, das auf den Export von mineralischen und fossilen Rohstoffen (sowie von Agrargütern) setzt, meist allenfalls vorübergehende Vorteile für rohstoffreiche Länder im Globalen Süden. Das Beispiel Lateinamerika zeigt eindrücklich, wo die Probleme liegen. Dort gibt es seit Jahrzehnten tiefgehende Debatten über die (post-)koloniale Plünderung des Kontinents und die Bedingungen, unter denen die Menschen von dem Rohstoffreichtum profitieren könnten.
Einer Illusion verfallen
Bereits seit der Kolonisierung durch europäische Mächte basieren die Wirtschaftsstrukturen Lateinamerikas und anderer Regionen des Globalen Südens auf der Ausbeutung von Ressourcen. Daran hat sich trotz ehrgeiziger Industrialisierungsversuche im 20. Jahrhundert in den meisten Ländern nur wenig geändert. Wurde die einseitige Abhängigkeit von Rohstoffexporten innerhalb der Linken ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend kritisch gesehen, änderte sich spätestens ab 2003 das Bild. Im Zuge des einsetzenden Rohstoffbooms forcierten die lateinamerikanischen Regierungen erneut den Extraktivismus, der in Lateinamerika bis heute eng mit der verbreiteten Idee von »Entwicklung« zusammenhängt.
Der Extraktivismus hängt bis heute eng mit der Idee von »Entwicklung« zusammen.
Die Aussicht auf höhere Einnahmen bedingte in vielen Fällen die territoriale Ausweitung extraktiver Bergbau- oder Erdölprojekte oder führte zumindest dazu, entsprechende Pläne auszuarbeiten. Rohstoffunternehmen drangen in Gebiete vor, die zuvor als »unrentabel« galten, häufig jedoch beispielsweise von indigenen Gruppen genutzt werden.
Die Phase überwiegend hoher Rohstoffpreise fiel Anfang der 2000er Jahre mit der so genannten Linkswende auf dem Kontinent zusammen, die auf etwa zwei Jahrzehnte neoliberaler Politik folgte. Die häufig als progressiv bezeichneten Regierungen konnten in Abgrenzung zum deregulierten Extraktivismus der 1990er Jahre die staatlichen Einnahmen steigern und investierten diese in Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitsprogramme. In Verbindung mit anfänglichen Demokratisierungsbemühungen sorgte dies für eine breite politische Legitimität. Diese basierte auch auf dem Rückhalt sozialer Bewegungen und, vor allem in Ländern wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador, der unteren Bevölkerungsschichten.
Für viele Menschen in Lateinamerika verbesserten sich die Lebensbedingungen zwischen 2003 und 2014. Die Armut ging zurück, öffentliche Dienstleistungen wurden ausgebaut. Die politischen Konflikte der neoliberal geprägten 1990er Jahre ließen sich zumindest in den links regierten Ländern im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends weitgehend befrieden, auch indem soziale Bewegungen vielerorts in die Regierungspolitik eingebunden wurden.
Doch fanden kaum strukturelle Veränderungen statt. Wie Delcio Machado und Raúl Zibechi in ihrem Buch »Die Macht ergreifen, um die Welt zu verändern?« schreiben, sorgten die hohen Rohstoffpreise für die Illusion, »man könne die Situation der Armen verbessern, ohne die Privilegien der Reichen anzutasten«.
Spätestens mit dem Einbruch der Rohstoffpreise 2014 zeigte sich, dass kein Land Lateinamerikas entschiedene Schritte eingeleitet hatte, um den Extraktivismus und die damit einhergehende Abhängigkeit vom Weltmarkt zu überwinden. Innerhalb der Linken Lateinamerikas führte der (Neo-)Extraktivismus zu einer teilweise polemisch geführten Debatte.
Vor allem aus akademischen Kreisen sowie indigenen- und Umweltbewegungen kam deutliche Kritik an der wirtschaftlichen Fokussierung auf Rohstoffe. Viele Unterstützer*innen der progressiven Regierungen warfen den linken Kritiker*innen hingegen vor, den Extraktivismus zu pauschal abzulehnen und damit der politischen Rechten in die Hände zu spielen.
Abhängigkeiten als Problem
Mit der Konsolidierung des Mitte-Links-Blocks wurden dekolonisierende, indigene, umweltorientierte und basisdemokratische Narrative, die etwa in Bolivien und Ecuador sogar die Diskussion um neue Verfassungen prägten, zunehmend an den Rand gedrängt. Privaten und staatlichen Akteur*innen gelang es zeitweise, den Extraktivismus als Allgemeininteresse zu definieren und auch innerhalb der Linken Hegemonie herzustellen. Die argentinische Soziologin Maristella Svampa spricht in Anlehnung an den neoliberalen »Washington-Konsens«, mit dem Internationaler Währungsfonds und Weltbank in den 1990er Jahren ihre Forderungen nach Deregulierung und Privatisierung begründeten, von einem »Rohstoffkonsens«. Dieser brandmarke schon die Diskussion über Alternativen als antimodern und fortschrittsfeindlich.
Dabei sind die negativen Folgen und strukturellen Grenzen des Extraktivismus gut dokumentiert und werden in der Fachliteratur seit Jahrzehnten unter den Begriffen »Rohstofffluch« und »Holländische Krankheit« diskutiert. Problematisch ist dabei nicht der Export von Rohstoffen an sich, sondern vor allem die einseitige Ausrichtung der gesamten Wirtschaft auf den Extraktivismus. Zudem sind die meisten Rohstoffe endlich. Wirtschaftlich bleibt die Abhängigkeit von äußeren Faktoren wie Weltmarktpreisen und ungerechten Welthandelsstrukturen auch in Boomzeiten bestehen.
Extraktionswirtschaft führt zur Herausbildung einzelner Enklaven, die wenig bis gar keine Impulse für die übrige Ökonomie setzen. Durch hohe Rohstoffeinnahmen gerät die heimische Währung unter Aufwertungsdruck, wodurch Exporte teurer und Importe billiger werden. Dies erschwert eine nötige Diversifizierung der Wirtschaft. Hinzu kommt, dass Extraktivismus häufig ein intransparentes Politikmodell stärkt. Die aus den Rohstoffen basierenden Renteneinnahmen befördern Zentralismus und Autoritarismus sowie die Bereicherung kleiner Eliten. Unabhängig von der ideologischen Ausrichtung der jeweiligen Regierungen hat die territoriale Ausweitung extraktiver Industrien in allen lateinamerikanischen Ländern zu einer starken Zunahme sozialer und ökologischer Konflikte sowie Menschenrechtsverletzungen geführt.
Wirtschaftlich bleibt die Abhängigkeit von äußeren Faktoren wie Weltmarktpreisen und ungerechten Welthandelsstrukturen auch in Boomzeiten bestehen.
Mittels starker Institutionen, scharfer Regulierung des Rohstoffsektors und demokratischer Rechenschaftspflichten könnte die Bevölkerung an dem Ressourcenreichtum teilhaben. Klar ist aber, dass sich die rohstoffreichen Länder des Südens ihre Position nicht ausgesucht haben. Die Grundlage für die Intensität der Rohstoffförderung stellt einerseits die koloniale Ausbeutung durch Europa und andererseits die heutige Nachfrage aus Ländern des globalen Nordens sowie der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China dar. Sich von dem Modell und seinen strukturellen Ursachen zu lösen, ist eine Mammutaufgabe.
Dies zeigt sich aktuell etwa in Kolumbien, wo die Regierung prinzipiell das Ziel verfolgt, die besonders umweltschädliche Kohleförderung zu überwinden, und sich ebenso wie Chile künftig mehr »grüne» Energieexporte wie Wasserstoff erhofft. Unter rechten Regierungen geht die Plünderung indes unter neoliberalen Vorzeichen weiter. Dies zeigt sich aktuell zum Beispiel in Argentinien, wo der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei die Ausbeutung der Lithiumreserven mithilfe internationaler Investoren ausbauen will. Unter den negativen Folgen der Rohstoffförderung wie der direkten Gewaltanwendung, der Abholzung von Wäldern, der massiven Verwendung giftiger Pestizide in der Landwirtschaft und Chemikalien im Bergbau oder Wassermangel bei der Förderung von Lithium leiden in erster Linie die Menschen in den Förderregionen. Auch wenn dies mittlerweile weitgehend anerkannt ist, spricht wenig dafür, dass sich daran im Zuge künftiger Rohstoffbooms im Rahmen der Energiewende und geopolitischer Verschiebungen grundlegend etwas ändern wird. In erster Linie liegen diese im Interesse des Globalen Nordens.