analyse & kritik

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|Thema in ak 696: Queers

Affäre von nationaler Tragweite

Queerfeindlichkeit ist so alt wie der Kapitalismus – neu ist, dass sie im Zentrum der Auseinandersetzungen um autoritäre und liberale Hegemonieansprüche steht

Von Tarek Shukrallah

Foto eines alten AK Artikels. Schlagzeile: Homosexualität ist kerngesund
Der Kommunistische Bund (KB) war einer der ersten linksradikalen Gruppen mit eigenen Schwulen- und Lesben AGs. Stimmberechtigtes Organ wurden sie jedoch nie. Foto: Queerehebition.org

Die Anzahl queerfeindlicher Übergriffe in Deutschland nimmt spürbar zu. Wie eine aktuelle Auswertung der Berliner Meldestelle gegen Diskriminierung und rechte Gewalt (Berliner Register) zeigt, sogar ziemlich rasant. Zwischen 2018 und 2022 hat sich die Anzahl der bei ihr gemeldeten Vorfälle mehr als verdoppelt. Allein in der Hauptstadt wurden im vergangenen Jahr 239 queerfeindliche Vorfälle registriert. Die reale Zahl liegt noch viel höher, denn viele Vorfälle werden gar nicht erst gemeldet.

Diese neue Qualität queerfeindlicher Gewalt ist weder zufällig noch überraschend. Die Haltung zu queeren Menschen ist die neue Gretchenfrage gesellschaftlicher Identitätspolitiken. Wenn in der Vergangenheit vor allem fragile Phänomene wie heterosexuelle Männlichkeit oder religiöse Zugehörigkeit über Queerfeindlichkeit hergestellt wurden, ist Queer heute eine Affäre von nationaler Tragweite. Staaten verhandeln nationale Zugehörigkeit entlang der Frage, ob das Leben queerer Menschen schützenswert ist oder eine Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit darstellt. Gewiss, die Kriminalisierung und Marginalisierung queerer Menschen ist kein neues Phänomen, sondern in etwa so alt wie die Geschichte bürgerlicher Herrschaft. Neu ist, dass Queerfeindlichkeit nicht mehr als bloßer Ausdruck der allgemeinen Sexualunterdrückung erscheint, sondern ins Zentrum der Auseinandersetzung um autoritäre und liberale Hegemonieansprüche gerückt ist.

Zwei bis zehn Prozent der Weltbevölkerung

Queere Menschen werden zur Verhandlungsmasse darüber, was eine Gesellschaft sein will. Wenn man davon ausgehen darf, dass queere Menschen eine globale Minderheit von etwa zwei bis zehn Prozent der Weltbevölkerung sind, ist das zumindest verblüffend. Woher kommt die Besessenheit über die Kontrolle von Queerness, was macht die Instrumentalisierung von Queer, wahlweise als Symbol für gesellschaftlichen Fortschritt oder als Sündenbock, so relevant?

Zwischen Schlagworten wie »feministische Außenpolitik«, »Homopropaganda« und »skurrile Minderheiten« werden queere Menschen zum moralischen Grenzwall in der Konfrontation ökonomischer und nationaler Interessen gemacht. So werden mit der Behauptung, dass migrantische Männer, vor allem jene aus vorwiegend muslimischen Ländern, besonders queerfeindlich eingestellt seien, Abschiebungen legitimiert und Grenzen verstärkt. Scheinbar paradox und ein wenig amüsant erscheint dabei ein Flugblatt des bayrischen Justizministeriums, in dem geflüchtete Menschen über »deutsche Werte« wie Demokratie, Gleichheit und Queerfreundlichkeit aufgeklärt werden sollen. Ausgerechnet Bayern, dessen Ministerpräsidenten in der Vergangenheit zum Beispiel HIV-Positive in Lagerhaft stecken wollten und heute Angst vor Drag Queens haben, die aus Kinderbüchern vorlesen.

Was macht die Instrumentalisierung von Queer, wahlweise als Symbol für gesellschaftlichen Fortschritt oder als Sündenbock, so relevant?

Solange queere Menschen dazu taugen, sich moralisch überlegen zu inszenieren und rassistische Politiken zu legitimieren, dürfen sie dazugehören. Gleichzeitig gehört es zum guten Ton rechtskonservativer, rechtspopulistischer und autoritärer Staatsoberhäupter, homo- und transfeindliche Gesetze zu erlassen und queere Menschen zum Sündenbock für eigentlich alles zu erklären. Markus Söders Ängste vor pädagogisch geschulten Tunten, Verbote geschlechtsangleichender Operationen und Hormontherapien in den USA, Victor Orbáns Verbot von Gender-Studies oder auch Russlands und Ugandas verschärfte Kriminalisierung von queeren Menschen sind Teil derselben Pipeline. Queerness wird als Symbol eines neoliberalen Individualismus und einer »moralischen Verkommenheit« umgedeutet, gegen die es sich, zugunsten eines autoritären Kapitalismus, zu wenden gilt.

Die Linke schlief fest in Morpheus’ Armen

Queerfeindlichkeit hat einen Gebrauchswert im Kapitalismus, sie dient der Herstellung kultureller Hegemonie nach außen und nach innen. Umso schmerzlicher, dass Debatten um Homo- und Transfeindlichkeit auch heute noch in der Schmuddelecke der Linken stehen. Nicht erst (rechts)populistische Hassparolen wie »Marotten skurriler Minderheiten« machen das deutlich. Von der radikalen bis zur Reformerlinken ist der Umgang mit queeren Menschen oft bloß eine instrumentelle Frage. Die vor allem auch in der Linken verbreitete Vorstellung, dass queere Lebensentwürfe eine bourgeoise Wohlstandskrankheit seien, entpuppt sich als nichts weiter als verkürzte Kapitalismuskritik, gemischt mit einer prächtigen Prise Ressentiment. Schlimmer noch, sie spielt einem rechten Populismus in die Hände, indem sie seine Erzählweisen aufgreift (siehe ak 695).

Auch wenn die Schwulen- wie auch die Lesbenbewegung der 1970er und 1980er Jahre in ihrem Ursprung Kinder der radikalen Linken waren, wurde ihnen vor allem mit Argwohn oder deutlicher Homosexuellenfeindlichkeit begegnet. Der Kommunistische Bund (KB), einst Herausgeberin dieser Zeitung, verhinderte etwa, dass die Schwulen- und Lesbenselbstorganisationen im KB als offizielle Organe anerkannt wurden. Das Leitungsgremium verurteilte regelrecht die Gründung der Selbstorganisationen am Gremium vorbei und erkannte ihnen zugleich lediglich den Status von Gruppen im KB zu. So hatten die schwul-lesbischen kommunistischen Aktivist*innen in ihrer Sache keinen formalen Vertretungsanspruch, weder nach innen noch nach außen.

Dabei war der Kommunistische Bund immer noch die wohl »queerfreundlichste« kommunistische Organisation ihrer Zeit (siehe ak 673). Die parteieigene Zeitung ARBEITERKAMPF, heute analyse & kritik, wurde zum Beginn der 1980er Jahre die wohl auflagenstärkste Zeitung in der BRD, die regelmäßig zu Themen von Schwulen und Lesben berichtete. Ausgelöst durch einen heftigen Streit zwischen der AK-Redaktion und schwul-lesbischen KB-Genoss*innen um den Artikel »Polizei gegen lesbische Frauen« über die Fahndung nach zwei flüchtigen RAF-Mitgliedern auch in lesbischen Kneipen, erschienen in AK85 (1976), verdeutlichte die Redaktion des AK, dass sie Hetero- und Homosexualität als gleichwertig betrachte, aber auch eine »pauschale Verurteilung von Heterosexualität« ablehne. »Als Kommunisten stellen wir an jede Art von sexueller Beziehung nur das Kriterium, ob sie solidarisch ist oder ob sie zulasten anderer geht. Das heißt, eine homosexuelle Beziehung kann gerade so solidarisch sein wie eine heterosexuelle; es kann aber in homosexuellen Beziehungen andererseits Unterdrückung ebenso geben wie in heterosexuellen Beziehungen.«

Deutlich problematischer als der KB verhielten sich die vielen anderen K-Gruppen dieser Zeit. Die Kommunistische Partei Deutschland (KPD) etwa äußerte sich einfach überhaupt nicht, der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) indes verbot jede Selbstorganisation. In einem Streit zwischen der Homosexuellen Aktion Bremen (HAB) und dem KBW zur Frage der Selbstorganisierung von Homosexuellen im KBW gab der KBW zu Protokoll: »Die Hauptsache an der Revolution, das ist die Veränderung des Menschen selbst.  (…) All die private Geltungssucht, die Habgier, der individuelle Hass – Eigenheiten, die die Klassengesellschaft massenhaft produziert, sind nicht mit der befreiten Gesellschaft vereinbar und werden in ihr überwunden werden.« Auch die Kommunistische Partei Deutschland / Marxisten-Leninisten (KPD/ML) äußerte sich ähnlich krass zum durch die HAB geäußerten Ansinnen, die homosexuelle Selbstorganisierung in der Partei zu ermöglichen:

»(…) ein bürgerlicher-idealistischer Standpunkt ist, wenn man den Körperfunktionen des Menschen eine andere Bedeutung beimißt, als es ihrem natürlichen Zweck entspricht. Die soziale Bedeutung der Sexualität beruht gerade auf der Fortpflanzung, und es ist völlig unzulässig, dies voneinander zu trennen.« Menschen, die sich als Homosexuelle in der KPD/ML organisieren wollten, seien nicht willkommen. Nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung, sondern weil ihr Wunsch nach Selbstorganisierung im Widerspruch zum Marxismus-Leninismus stehe.

Die meisten Queers sind lohnabhängig

Auch wenn die zitierten Beiträge aus heutiger Sicht zumindest sprachlich etwas antiquiert erscheinen mögen, haben derartige Positionen in der Rede von »Marotten skurriler Minderheiten« und der demagogischen Ablehnung von jeder Identitätspolitik abseits der »Klasse für sich« ihr gegenwärtiges Äquivalent gefunden. Eine Linke, die nicht erkennen will, wie fundamental Geschlecht/Sexualität neben Rassismus für die kapitalistische Produktionsweise ist, hat den marxistischen Anspruch aufgegeben, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtlichtes Wesen« ist. Sie schwächt die Klasse, deren Spaltung sie in Kauf nimmt.

A gay landlord is still a landlord – aber die meisten Queers sind lohnabhängig und arm. Eine linke Kritik der Verhältnisse muss den Klassencharakter der Sexualunterdrückung erkennen, der einer lesbischen Eigentümerin zwar ein sorgenfreies Leben bescheren mag, im Leben eines lohnabhängigen Schwulen jedoch auch heute noch Gewalt und Ausgrenzung bedeutet. Sie muss zugleich auch den hetero- und cisnormativen Charakter der Klassenunterdrückung herausstellen, der die von Gentrifizierung betroffene, lohnabhängige trans Person nicht einfach aus der Stadt verdrängt, sondern ihr damit auch ein diskriminierungsarmes Umfeld raubt, den Zugang zu essenziellen Gesundheitsgütern erheblich erschwert und sie vereinzelt. Queerfeindlichkeit als einen essenziellen Bestandteil der bürgerlichen Herrschaft zu verstehen, hilft auch besser zu begreifen, wieso ein vermeintliches Randphänomen für die gegenwärtige globalisierte Produktionsweise so ein zentrales Thema geworden ist.

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