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|Thema in ak 688: Mathemarxismus

»Engels wusste gar nichts, Marx immerhin ein bisschen«

Wie und warum der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus sich mit Mathematik beschäftigte, erklärt Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt

Interview: Nelli Tügel

Es ist eine colorierte (blau, schwarz, weiß) Zeichnung zu sehen. Sie zeigt Karl Marx, der mit Laseraugen ein Mathebuch liest.
Illustration: Donata Kindesperk

Um den Kapitalismus besser zu verstehen, hat Karl Marx sich im Selbststudium Teile der Analysis und Algebra beigebracht. Ein mathematisches Genie war er gleichwohl nicht. Warum die Editionsgeschichte seiner Mathematischen Manuskripte einem Krimi gleicht und wie Marx mit Mathe persönliche Krisen verarbeitet hat, erläutert die Wissenschaftshistorikerin und Mathematikerin Annette Vogt.

Frau Professorin Vogt, stimmt es, dass Karl Marx sich in »Das Kapital« mehrmals verrechnet hat?

Annette Vogt: Das stimmt, es gibt da allerhand Rechenfehler. Das ist doch menschlich. Und Marx war ja auch nur ein Mensch.

Nur wenige wissen, dass Marx auch knapp 1.000 Seiten Mathematische Manuskripte hinterlassen hat. Warum hat er sich überhaupt mit Mathematik beschäftigt?

Ein Grund war: Er wollte Wirtschaftskrisen vorhersehen; bei der ersten war er ja recht euphorisch, dass jetzt der Kapitalismus zusammenkracht. Er hat sich dann gefragt: Sind die regelmäßig, zum Beispiel alle fünf oder zehn Jahre oder – wie es in der Tat ist – nicht regelmäßig. Marx war mit dem Chemiker Carl Schorlemmer befreundet, der ihm sagte, man könne möglicherweise mithilfe der Analysis – genauer gesagt mit der Differentialrechnung – berechnen, wann die nächste Krise kommt. Als Marx in Deutschland aufs Gymnasium ging, gehörten Differential- und Integralrechnung noch nicht zum Lehrplan, das kam erst nach 1900. Er hatte also keine Kenntnis davon und tat dann eben das, was ein Wissenschaftler tut …

Erstmal ein Buch zur Hand nehmen?

Genau. Er ging in die Bibliothek und suchte nach Büchern, aus denen er es lernen könnte. Allerdings: Der niederländisch-amerikanische Mathematikhistoriker Dirk Struik, der als einer der ersten über die Manuskripte geschrieben hat, hat das mal treffend formuliert: Für das Studium des Kapitalismus war Marx im richtigen Land, in England, für das Studium der Mathematik war er im falschen. Er kannte nicht die neueste mathematische Literatur zur Analysis, weil die in Festlandeuropa entstand und noch nicht in England vorhanden war. Er hat also die für ihn zugänglichen Lehrbücher studiert. Die Mathematischen Manuskripte bestehen zum größten Teil aus Exzerpten, die er auf Grundlage seiner Lektüre anfertigte, und seinen Notizen dazu. Marx hat sich so im Selbststudium die Differentialrechnung beigebracht.

Foto: privat

Annette Vogt

ist Diplom-Mathematikerin und promovierte Mathematikhistorikerin. Von 1994 bis 2018 war sie research scholar am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Seit 1997 unterrichtet sie an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2014 ist sie Honorar-Professorin an der dortigen Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Sie ist u.a. Mitautorin der Wander-Ausstellung zu Leben und Werk Emil J. Gumbels, die ab Oktober 2023 in Hamburg zu sehen sein wird.

Gab es weitere Gründe für seine Beschäftigung mit der Mathematik?

Ja. Ein weiterer Grund war – und das verstehe ich als Mathematikerin sehr gut –, dass es ihm in persönlichen Krisen half. Wir wissen das aus Briefen an Engels: Wenn wieder ein Kind früh starb, hat er gerechnet, um sich abzulenken. Für Menschen, die Angst vor Mathematik haben, mag das unglaubwürdig klingen. Aber natürlich kann diese Beschäftigung helfen, dass man nicht pausenlos traurig ist.

Welchen Teilbereichen der Mathematik hat sich Marx noch gewidmet?

Er hat auch ein bisschen Algebra gemacht. Algebra sind Gleichungen, von der einfachsten 2 + 2 = 4 über abstrakte Gleichungen bis hin zu solchen – denken wir an den Satz des Pythagoras a2 + b2 = c2 –, die sich geometrisch veranschaulichen lassen.

Das hatte schlicht damit zu tun, dass es auch Gleichungen in der Ökonomie gibt.

Sein Interesse war also größtenteils pragmatisch?

Es gibt zwei Interpretationen, Marx und die Mathematik betreffend. Die eine – hagiographische, also ihn zu einem Säulenheiligen machende – lautet, dass Marx so universell genial gewesen sei, dass er auch in der Mathematik genial war. Das ist schlicht falsch. Die andere ist: Er war ein Wissenschaftler, und als solcher hat er sich Wissen, das er brauchte, im Selbststudium angeeignet. Er hat auch geologische Exzerpte angefertigt – zum Glück kommt aber kein Geologe deswegen auf die Idee, zu behaupten, Marx sei ein großer Geologe gewesen. (lacht)

Für die Editionsgeschichte spielte das Hagiographische allerdings eine Rolle: Diejenigen, die die Mathematischen Manuskripte herausbringen wollten, waren enttäuscht über deren Inhalt.

Marx kann ein Vorbild sein für alle, die Angst vor Mathe haben.

Weil sie darin nicht das erhoffte Genie fanden?

Genau. Seine Aufzeichnungen sind dennoch etwas Bedeutendes, ganz einfach, weil sie zeigen, mit welchen Gebieten er sich beschäftigt hat, und weil sie helfen, sein Denken zu verstehen und zu rekonstruieren. Außerdem kann Marx ein Vorbild sein für alle, die Angst vor Mathe haben: Dafür gibt es keinen Grund, fast jeder kann es lernen.

In Ihrem Eintrag zu den Manuskripten im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus schreiben Sie: »Einen eigenen Reiz haben seine Aufzeichnungen zur Geschichte der Infinitesimalrechnung«, also der Differential- und Integralrechnung. Was hat er da aufgeschrieben?

Er hat die Lehrbücher – etwa der französischen Mathematiker Lagrange oder Cauchy – studiert und dabei versucht zu verstehen, was der Witz der Differentialrechnung ist. Das kann man tatsächlich sehr schön sehen, wenn man sich ihre historische Entwicklung anschaut und sich fragt, warum was zu welchem Zeitpunkt gemacht wurde. Dass sie etwa mit der Physik anfing, weil Menschen die Geschwindigkeit von etwas berechnen wollten. Naja, und genau das hat Marx gemacht, er hat einen historischen Zugang gewählt und sich gefragt, warum geht Lagrange diesen Schritt, warum untersucht er jene Funktion, warum macht das ein anderer anders … Diese Aufzeichnungen sind für Mathematikhistoriker einfach interessant. Das hat er auch völlig korrekt gemacht, man sieht, er hat den Kern der Sache verstanden.

Was wissen Sie über den Zeitraum, in dem er sich damit beschäftigt hat?

Es gab drei Phasen, jeweils in der British Library, in denen Aufzeichnungen entstanden sind. Anhand der Ausleihzettel wurde genau rekonstruiert, wann er welche Bücher dort gelesen hat. Daher wissen wir, dass er die modernste Literatur nicht kannte. Er konnte Französisch, das hat ihm geholfen, Lagrange und Cauchy im Original zu lesen.

Inwiefern hat seine Beschäftigung mit Mathe Einfluss auf Engels’ Werk genommen?

Während Engels an der »Dialektik der Natur« schrieb, hat Marx – das wissen wir aus den Briefen – ihm etwas erzählt zur Geschichte der Mathematik. Ich vermute, dass Engels deshalb dann auch dachte, Marx sei ein talentierter Mathematiker gewesen, denn Engels wusste gar nichts und Marx immerhin ein bisschen. Dass die Mathematischen Manuskripte aufgehoben wurden nach seinem Tod, ist Engels zu verdanken. Er hielt sie für wichtig. Von Marx waren sie nie zur Veröffentlichung bestimmt, sie waren Arbeitsmaterial.

Bis heute sind die Manuskripte aber – trotz Engels’ Willen – nur teilweise ediert. Warum?

Nach dem Sieg der Oktoberrevolution wurde 1921 das Marx-Engels-Institut in Moskau gegründet, das spätere Marx-Engels-Lenin-Institut, und mit einer Marx-Engels-Gesamtausgabe, der MEGA I, beauftragt. Der Vater dieser Edition war Dawid Borissowitsch Rjasanow, der später ebenso wie viele andere Mitarbeiter des Instituts ein Opfer der Stalin’schen Verfolgungen wurde, das Projekt MEGA I brach ab. Nach 1945 erschien wieder die MEGA, später begann das neue Projekt der MEGA II unter Beteiligung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, des International Institute of Social History Amsterdam und Moskauer Mitarbeitern. Es ist noch nicht beendet, und im Rahmen der MEGA II sollen in Bd. 1/28 M auch die Mathematischen Manuskripte vollständig erscheinen. (1)

Es gibt allerdings einen Band mit einem Teil der Manuskripte: 1968 erschien in Moskau ein Sonderband, der bis heute die Basis ist für alle, die sich mit den Manuskripten beschäftigen, auch der englischen und französischen Übersetzungen sowie der – stark gekürzten – deutschen Ausgabe.

Wer hatte diese Ausgabe zu verantworten?

Sie geht zurück auf Arbeiten der Mathematikerin und Spezialistin für Logik, Sofja Janowskaja, und Konstantin Rybnikow, der Professor für Mathematikgeschichte an der Lomonossow-Universität in Moskau war. Vergessen zu erwähnen – in Anführungsstrichen – hatten sie allerdings die Vorarbeiten von Ernst Kolman, einem tschechisch-sowjetischen Komintern-Funktionär, der ab 1932 über die Mathematischen Manuskripte auf internationalen Konferenzen Vorträge hielt und Artikel publizierte. 1968 distanzierte er sich von der sowjetischen Führung wegen des Prager Frühlings, deshalb wird er in der Ausgabe von Rybnikow und Janowskaja nicht genannt. Als ich mich in den 1980er Jahren zum ersten Mal damit beschäftigte und das bemerkte, dachte ich: Ist aber ganz schön unfair.

Stimmt ja auch!

Ja. Aber jetzt wird’s spannend. Denn dann fand ich heraus: Kolman selbst hatte bewusst denjenigen verheimlicht, der in den 1920er Jahren von Rjasanow beauftragt wurde, die Mathematischen Manuskripte zur Veröffentlichung für die MEGA I vorzubereiten: den Mathematiker und politischen Autor Emil Julius Gumbel. Gumbel hat die moderne Extremwertstatistik mitbegründet, die man benutzt, um extreme Ereignisse, z.B. die Corona-Pandemie, zu berechnen. Gumbel hatte im Prinzip die Edition der Manuskripte beendet, Ende der 1920er las er Fahnenkorrektur, aber zur Veröffentlichung kam es nie: In Moskau fiel die Arbeit an der MEGA I den Repressalien unter Stalin zum Opfer. Gumbel wurde von den Nazis aus Deutschland vertrieben; er arbeitete in Paris und Lyon, später im US-amerikanischen Exil.

Sehen Sie, es ist in gewisser Weise tragisch: Über die Jahrzehnte, fast einhundert Jahre, haben schon einige Menschen an der Edition dieser Mathematischen Manuskripte gearbeitet, viele traurige Geschichten sind darunter. Wäre ich Krimiautorin, würde ich ein Buch darüber schreiben und es »Der Fluch der Manuskripte« nennen.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Anmerkung:

1) In einer früheren Fassung dieses Interviews war an dieser Stelle irrtümlicherweise von einer MEGA III die Rede. Die Stelle wurde korrigiert.

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