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|Thema in ak 687: Alleinerziehende

»Viele gehen über ihre Grenzen«

Miriam Hoheisel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter über die Lage von Einelternfamilien in der Corona- und Teuerungskrise

Interview: Guido Speckmann

Mutter mit Laptop und Kind auf einem Sofa.
Wo verläuft die Belastungsgrenze? Hier scheint sie noch nicht ganz erreicht zu sein. Foto: Pexels

Erst die Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns und Kontaktbeschränkungen, jetzt die massiven Preissteigerungen infolge des Energiepreisschocks: Alleinerziehende und ihre Kinder sind davon noch stärker betroffen als andere – finanziell wie sozial. Was dagegen helfen würde, erläutert Miriam Hoheisel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter.

Frau Hoheisel, ihr Verband wurde 1967 gegründet. Gibt es einen Zusammenhang mit der 68er-Bewegung?

Miriam Hoheisel: Diese bewegte Zeit hat unsere Gründung beflügelt, und es gab auch Verbindungen zur Frauenbewegung. Konkreter Anlass war die Ende der 1960er Jahre geplante Reform des Unehelichenrechts. Unsere Gründerin, Luise Schöffel, hat sich dafür stark gemacht, dass nichteheliche Kinder als verwandt mit dem Vater anerkannt wurden und auch ein Umgangs- und Erbrecht bekamen. Gegründet wurden wir als »Verband lediger Mütter«. Mitte der 1970er kamen die Väter hinzu und seit 1995 trägt der Verband seinen jetzigen Namen.

Mit welchen zentralen Zielen ist ihr Verband damals angetreten?

Unsere Gründerin wollte ihre Organisation perspektivisch überflüssig machen, indem Einelternfamilien als gleichberechtigte Lebensform akzeptiert und gefördert werden. Daraus wurde noch nichts. Auch heute ist unser Verbandsziel trotz Erfolgen im Einzelnen bei Weitem noch nicht erreicht. An vielen Stellen fallen Alleinerziehende durch das Raster, bei der Familienförderung oder im Steuerrecht. Auch leben Einelternfamilien noch zu oft in Armut. 

Die durch die gegenwärtigen Teuerungen ja noch größer werden dürfte.

Mit Sicherheit. Gegenwärtig geht es für nicht wenige der 2,7 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland nicht nur um die Frage, wie sie eine neue Winterjacke für ihr Kind finanzieren, sondern, wie sie am Ende des Monats den Kühlschrank auffüllen. Die Inflation trifft Familien mit niedrigen Einkommen – und dazu gehören Einelternfamilien häufig – besonders hart. Sie hatten schon vor der Inflation keinen finanziellen Puffer – jetzt erst recht nicht mehr. 

Foto: Barbara Dietl/VAMV

Miriam Hoheisel

ist Geschäftsführerin des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter Bundesverband. Der VAMV bietet Einelternfamilien Hilfe, Informationen und Beratung an. Grundsatz ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Neben Ortsverbänden und Kontaktstellen gibt es den Bundesverband und in zwölf Bundesländern Landesverbände. Auf Länder- und Bundesebene agiert der VAMV als politische Interessenvertretung von Alleinerziehenden in Gesetzgebungsverfahren. Er verfasst beispielsweise Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen und ist als Sachverständiger bei Anhörungen geladen, zuletzt im Finanzausschuss des Bundestages zum Inflationsausgleichsgesetz.

Woran liegt das?

Alleinerziehende wollen finanziell durch Erwerbsarbeit auf eigenen Füßen stehen. Sie arbeiten mit 49 Prozent häufiger Vollzeit als Mütter in Paarfamilien mit 29 Prozent. Und dennoch haben sie mit 43 Prozent das größte Armutsrisiko aller Familienformen. Das spiegelt ein gesellschaftliches Versagen wider und kein persönliches Verschulden. Denn Ursachen sind schlecht bezahlte Frauenberufe, unfreiwillige Teilzeit, auch wegen Vereinbarkeitsproblemen, und nicht gezahlter Kindesunterhalt.

Der Staat hat mehrere Entlastungspakete auf den Weg gebracht. Wie bewerten Sie diese?

Sie werden nicht dazu beitragen, die soziale Schere zu schließen. Die beschlossene Erhöhung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge werden viele Paarfamilien unterstützen. Aber: Alleinerziehende werden dadurch nicht entlastet. Unterm Strich haben sie nicht mehr Geld auf dem Konto.

Warum das?

Die angekündigten 18 Euro mehr Kindergeld werden zu 100 Prozent mit dem Unterhaltsvorschuss, einer Ersatzleistung, wenn ein Kind keinen Unterhalt bekommt, oder mit Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Sozialgesetzbuch (SGB) II, also Hartz IV, verrechnet. Bei über 830.000 Kindern in Einelternfamilien sinkt der Unterhaltsvorschuss um den gleichen Betrag, um den das Kindergeld steigen soll. Hinzu kommt: Bei vielen Alleinerziehenden ist das Einkommen zu gering, als dass sie von der geplanten Erhöhung der Kinderfreibeträge profitieren. 

Die Erhöhung des Kindergeldes ist für viele Alleinerziehende ein Nullsummenspiel.

Ist das ein grundsätzliches Problem?

So ist es. Kinder mit SGB II und Unterhaltsvorschuss kriegen gar nichts. Mittlere Einkommen bekommen das Kindergeld und Kinder aus Familien mit hohen Einkommen noch zusätzlich die Steuerentlastung oben drauf. 

Wie erklären Sie sich das?

In Deutschland erfolgt Entlastung meist über das Steuerrecht. So auch die Familienförderung. Das grundlegende Problem dabei ist: Wer wenig Steuern zahlt, hat wenig von Steuervorteilen. So kann man schlecht Sozialpolitik machen.

Die Kürzung des Unterhaltsvorschusses infolge der Kindergelderhöhung war auch Anlass ihrer jüngsten Protestaktion: »Unterhaltsvorschuss erhöhen statt kürzen!« Wie sieht die aus?

Wir haben Alleinerziehende aufgefordert, eine Protestmail an Familienministerin Lisa Paus (Grüne) zu schicken, um zu zeigen, dass dieses Nullsummenspiel ihnen unter den Nägeln brennt.

Wie ist die Resonanz auf die Mail-Aktion?

Sehr viele Alleinerziehende äußern ihren Unmut durch diese Mails. Die Aktion hat einen Nerv getroffen, weil sie einfach nicht wissen, wie sie die Strom- oder Gasrechnung bezahlen sollen. 

Habt ihr mit anderen Petitionen oder ähnlichen Aktionen schon Erfolg gehabt?

Im ersten Lockdown ist es uns gelungen, die Notbetreuung in Betreuungseinrichtungen für Alleinerziehende zu öffnen. Anfangs waren sie nur für systemrelevante Berufe geöffnet. Ohne Kinderbetreuung können alleinerziehende Mütter und Väter aber nicht ihre Brötchen verdienen. Sie müssen alleine stemmen, was sich Eltern in Paarfamilien teilen können: Erwerbsarbeit, Haushalt, Kinderbetreuung und -erziehung. 

Was hat die Corona-Pandemie für Auswirkungen auf Alleinerziehende gehabt?

Neben einer guten Betreuungsinfrastruktur sind Einelternfamilien auf gute soziale Netzwerke angewiesen. Auf Großeltern, Verwandte, Freund*innnen oder den anderen Elternteil. Mit den Kontaktbeschränkungen ist da ganz viel weggebrochen. Die Großeltern sollten ja geschützt werden. Hinzu kommt: Im Homeoffice können Sie kein Kleinkind betreuen oder Homeschooling begleiten. Wir haben nächtliche Mails von Alleinerziehenden bekommen, die dann gearbeitet haben, wenn die Kinder schlafen. Viele Alleinerziehende sind über ihre Grenzen gegangen. 

Zurück zur aktuellen Situation: Die Entlastungspakete bringen kaum etwas. Was fordern Sie stattdessen?

Wir fordern Instrumente, die alle Familienformen erreichen können: den Sofortzuschlag für Kinder im SGB II deutlich erhöhen oder eine weitergehende Ausweitung und deutlichere Erhöhung des Wohngeldes als geplant. Das würde gezielt Kinder aus sozial benachteiligten Familien erreichen und somit auch Kinder in Einelternfamilien. Das ist nicht passiert. Umso wichtiger ist es, die im Koalitionsvertrag verankerte Steuergutschrift für Alleinerziehende zügig umzusetzen. Denn diese würde auch Alleinerziehende mit kleinen und mittleren Einkommen gezielt unterstützen, wenn sie gut ausgestaltet wird. 

Jedes zweite Kind in Armut wächst bei Alleinerziehenden auf, die Armutsgefährdungsquote unter Kindern liegt auf einem Rekordhoch von 20,8 Prozent. Die Ampelkoalition will im Januar Eckpunkte für eine sogenannte Kindergrundsicherung vorlegen. Was sagen Sie dazu? 

Das Vorhaben begrüßen wir, da es das System vom Kopf auf die Füße stellen wird. Die Kindergrundsicherung wird dazu beitragen, die soziale Schieflage in der Familienförderung abzumildern. Aber wichtig für Alleinerziehende ist, dass Schnittstellenprobleme, also Verrechnungen zwischen Kindergrundsicherung und anderen Leistungen bzw. Ansprüchen aufgelöst werden. Sonst werden wir unterm Strich keine substanzielle Verbesserung haben.

Welchen Anteil haben Väter in der Mitgliedschaft Ihres Verbandes, und wie stehen Sie zu den Themen der Väterrechtler, die sich z.B. im Verein Väteraufbruch für Kinder organisiert haben und als Selbsthilfegruppe und als politische Interessenvertretung die Rechte von Männern stärken wollen?

Dass Alleinerziehende zu 85 Prozent überwiegend Frauen sind, spiegelt sich auch ungefähr in unserer Mitgliedshaft wider. Wichtiges Thema der Väterrechtler ist das Wechselmodell. Sie fordern, dieses als gesetzlichen Regelfall einzuführen. Das teilen wir nicht. Das Wechselmodell kann im Einzelfall eine gute Lösung sein, aber unter Voraussetzungen: Eltern müssen sich das leisten können, sie müssen nah beieinander wohnen, denn das Kind geht ja in eine Schule, nicht in zwei. Man braucht einen Arbeitgeber, der mitmacht, und Eltern, die nach der Trennung gut miteinander kooperieren. Und es muss dem Kind guttun. Das alles lässt sich nicht gesetzlich herbeiführen. Deswegen stehen wir für eine Vielfalt an Umgangsmodellen. Jede Familie sollte individuell schauen, was für ihr Kind das passende Modell ist. 

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.