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|Thema in ak 683: Arbeit & Migration

»Wir machen die Drecksarbeit und haben keine Rechte«

Viele ukrainische Frauen sind in Deutschland in der 24-Stunden-Pflege tätig, unter oft noch schlechteren Bedingungen als ihre Kolleg*innen

Von Tetiana Goncharuk

Agenturen sind die Profiteure der häuslichen Pflege, die oft von osteuropäischen Frauen geleistet wird. Foto: 7CO/Flickr, CC BY 2.0

Die Gesellschaft in Deutschland altert, weshalb dringend zusätzliche Pflegekräfte benötigt werden. Das Statistische Bundesamt nennt in seiner Pflegestatistik für 2019 die Zahl von bundesweit 4,1 Millionen pflegebedürftiger Menschen; davon befinden sich drei Millionen Menschen in häuslicher Pflege. Laut einer Analyse der Bundesagentur für Arbeit 2021 setzt die Pflegebranche zur Abmilderung des Fachkräftemangels zunehmend auf ausländische Arbeitskräfte. Der Mangel an Fachpersonal wird insbesondere durch osteuropäische Care-Arbeiterinnen abgedeckt. Ihre Zahl in Deutschland wird auf 300.000 bis zu 700.000 geschätzt. Da es sich oftmals um illegale oder halblegale Beschäftigungsverhältnisse handelt, ist es schwierig, die genauen Zahlen zu erfassen. 

Im häuslichen Pflegebereich arbeiten fast immer weibliche Arbeitskräfte, sogenannte Pendelmigrantinnen: Das sind Frauen, die zwischen zwei Ländern bzw. zwei Haushalten wechseln. Im Rotationsverfahren leben und arbeiten sie meist zwei oder drei Monate im Pflegehaushalt, werden dann abgelöst und kehren in ihren eigenen Haushalt zurück. Die Besonderheit und Schwierigkeit der sogenannten Live-In-Pflege ist die Betreuung rund um die Uhr für mehrere Wochen am Stück und das gemeinsame Leben in einem Haushalt mit den Pflegebedürftigen. Die Arbeitsstandards sind prekär, das Gehalt niedrig und sozialer Schutz kaum vorhanden. Und am schlechtesten sind die Arbeitsbedingungen von ukrainischen Pflegerinnen. (1)

Ursachen der Care-Migration 

Warum verlassen ukrainische Frauen ihr Land, um in Deutschland Alte zu pflegen? Jaroslawa, eine 52-Jährige Betreuerin sagt: »…, weil es im Prinzip unmöglich ist, in unserem Land Geld zu verdienen«. Allgemein tragen die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse, die instabile politische Situation, die schlechte soziale und medizinische Versorgung in der Ukraine sowie ab 2014 die militärischen Aggressionen der Russischen Föderation im Osten des Landes zur Migration bei. Die oft gut ausgebildeten und studierten ukrainische Care-Arbeiterinnen versuchen, in Deutschland ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, ein Studium für ihre Kinder zu finanzieren oder für Investitionen in Wohneigentum zu sparen.

Die Care-Migration befindet sich rechtlich in einer Grauzone. Ukrainische Frauen sind in einer noch kritischeren Arbeitssituation als Betreuerinnen aus osteuropäischen EU-Ländern, da es sich in den meisten Fällen um eine komplett illegale Beschäftigung handelt. Hintergrund dafür ist das komplizierte Verfahren für Menschen aus der Ukraine als sogenannter Drittstaat zur Erlangung einer Arbeitsgenehmigung für eine Beschäftigung im Privathaushaltsbereich.

Trotz Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts: Der Mindestlohn lässt weiter auf sich warten.

Seit Juni 2017 sind Ukrainer*innen von der Visumspflicht in allen Schengen-Ländern befreit und haben somit das Recht, sich alle sechs Monate für 90 Tage in der EU aufzuhalten. Die Visumsfreiheit berechtigt allerdings nicht zur Aufnahme von Erwerbsarbeit. Dennoch wird die Möglichkeit der erleichterten Einreise genutzt, um Personal aus der Ukraine für die Altenpflege in deutschen Familien anzuwerben. Da die direkte Anstellung von Pflegekräften aus der Ukraine in den meisten Fällen unmöglich ist, nehmen Frauen die Dienste von Vermittlungsagenturen oder -personen in Kauf. Die Anwerbung wird in den meisten Fällen über Polen organisiert, da es zwischen Polen – wo weit mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine arbeiten – und der Ukraine ein Arbeitsmigrationsabkommen gibt. 

Allerdings berechtigt das polnische Arbeitsvisum Ukrainer*innen nicht dazu, in Deutschland zu arbeiten. In diesen Fällen handelt es sich um illegale Beschäftigung. Die ukrainisch-polnischen sowie polnisch-deutschen Vermittlungsagenturen überzeugen die Frauen jedoch vom Gegenteil und informieren sie oft nicht darüber, dass die polnische Arbeitserlaubnis nicht die Erwerbstätigkeit in Deutschland erlaubt. So berichtet eine ukrainische 24-Stunden-Betreuerin, die einen Arbeitsvertrag mit einer Vermittlungsagentur hatte: »Als sie mich an der deutsch-polnischen Grenze kontrollierten, sagte ich, dass ich in Deutschland arbeiten werde und zeigte den Arbeitsvertrag von der Agentur. Ich war mir sicher, dass die Agentur mich legal beschäftigte. Am Ende wurde ich abgeschoben und erhielt fünf Jahre lang ein Einreiseverbot für alle EU-Länder.«

Am 24. Juni 2021 entschied das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil, dass ausländischen Pflegekräften, auch für den Bereitschaftsdienst, der Mindestlohn zusteht. Doch bis dato werden die ukrainischen 24-Stunden-Betreuerinnen weiterhin nicht nach dem Mindestlohn bezahlt, die Agenturen legen die Höhe der Bezahlung fest. Diese streichen auch einen Teil des Verdienstes der Frauen ein. Je mehr Vermittlungsagenturen im Spiel sind, desto niedriger ist das ausgezahlte Gehalt für die Care-Workerinnen. Darüber hinaus hängt die Bezahlung vom Niveau der Deutschkenntnisse ab und wird für jede Mitarbeiterin unterschiedlich berechnet.

Prekäre Arbeitsbedingungen

In den meisten Fällen arbeiten und leben die ukrainischen Care-Migrantinnen unter prekären Bedingungen. In meinen Gesprächen wurde klar, dass die ukrainischen Care-Arbeiterinnen in der Regel keinen normierten Arbeitstag haben. »Es gibt keine klaren Grenzen. (…) Es dauert jeden Tag von morgens bis abends, so lange bis die Oma schlafen geht. Und dann… falls es nötig ist, muss ich auch in der Nacht aufstehen, wenn sie mich ruft«, erzählt die 52-jährige Natalija. Das gilt meist auch am Wochenende, so Iryna, die einschließlich des Wochenendes lediglich zwei Stunden Mittagspause täglich hat.

Care-Migration seit dem 24. Februar

Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat sich die Rechtslage für die Ukrainerinnen, die nach Deutschland kommen, verändert. Auch 24-Stunden-Betreuerinnen dürfen als Kriegsgeflüchtete die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis nach §24 des Aufenthaltsgesetzes (Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz) beantragen. In der Realität hat diese Gesetzesänderung jedoch kaum Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der ukrainischen Care-Arbeiterinnen. Denn das Hauptproblem war nicht nur die Schwierigkeit, eine Arbeitserlaubnis für die Arbeit in der 24-Stunden-Betreuung zu erhalten, sondern auch die unzureichende gesetzliche Regelung der häuslichen Pflege in Privathaushalten. Nach wie vor werden die Löhne von den Agenturen festgelegt, ebenso die Arbeits- und Pausenzeiten. Zudem melden Agenturen oder deutsche Familien in der Regel die Beschäftigung von ukrainischen Care-Arbeiterinnen nicht offiziell an. Meine Gespräche mit Frauen, die mich nach Beginn des Krieges um Rat fragten, haben gezeigt: Manche deutsche Familien lassen die Betreuerinnen nicht zu Behörden gehen, um die Aufenthaltserlaubnis zu beantragen oder ihren Wohnsitz anzumelden. Einige Agenturen zögern auch, bei ihnen »eingestellte« Care-Arbeiterinnen dabei zu helfen, eine Arbeitserlaubnis nach §24 zu erhalten. Sei es, weil sie Vertragsänderungen ablehnen oder es den Familien nicht zumuten wollen, die Betreuerinnen für den Papierkram freizustellen. 

Care-Arbeiterinnen müssen ebenfalls die nächtliche Betreuung übernehmen, die nicht zusätzlich bezahlt wird: »Manchmal muss ich nur einmal nachts aufstehen, manchmal muss ich überhaupt nicht aufstehen, weil sie (die Pflegebedürftige) gut schläft. Und manchmal muss ich dreimal aufstehen. Sie ist ein großes Baby: Manchmal schläft es, manchmal schläft es nicht«, sagt Iryna. Darüber hinaus wird die Arbeit von Iryna mit einer Videokamera überwacht. Die Betreuerin nimmt diesen Zustand in Kauf, aus Sorge, ihre Arbeit zu verlieren.

Die Pflegerinnen müssen oft weitere Aufgaben, Gartenarbeit etwa, übernehmen, in vielen Fällen dürfen sie das Haus nicht verlassen und immer wieder werden Löhne nicht vollständig gezahlt. So berichtet Jaryna: »Ein weiterer Arbeitsplatz war so anstrengend, dass ich die ganze Nacht arbeiten musste. Dies ist während der fünf Wochen jede Nacht passiert. Ich sagte, ich würde gehen. Deswegen haben sie (die Familie) mir mein Gehalt nicht in voller Höhe gegeben.«

Sozialleistungen wie Urlaub und Beiträge in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung sind nicht vorgesehen. Der Krankenversicherungsschutz wird von den Arbeitsmigrantinnen über ukrainisch-polnische Privatversicherungen selbst organisiert. Jaroslawa empfindet dies als keine zuverlässige Absicherung: »Ich bin privat versichert und habe zusätzlich eine Versicherung über die Agentur. Aber das ist eine nebulöse Versicherung. Sie bringt nichts…« Manchmal sind die Frauen gar nicht versichert. Vielfach haben sie aufgrund ihrer illegalen Beschäftigung Angst, in Deutschland zum Arzt zu gehen: »Obwohl ich eine Versicherung habe, gehe ich hier nicht zum Arzt. Mein Mann schickt mir per Post die Medikamente, falls ich welche benötige«, so Jaroslawa. Ihr Fazit zur Situation von ukrainischen Care-Arbeiterinnen lautet: »Wir machen die ganze Drecksarbeit und besser als die Anderen. Und wir haben absolut keine Rechte!«

Selbsthilfe in Online-Netzwerken

Die Angst, wegen illegaler Beschäftigung aus Deutschland abgeschoben zu werden, führt dazu, dass die ukrainischen Care-Migrantinnen Unterstützung nicht bei Polizei und Beratungsstellen suchen, sondern in den Sozialen Medien. Care-Migrantinnen gründeten einen Chat-Freundeskreis im Chat-Dienst »Viber«, um sich auszutauschen und Informationen über unehrliche, skrupellose deutsche Arbeitgeber*innen und Familien sowie Vermittlungsagenturen zu sammeln. Darüber hinaus tauschen sie sich regelmäßig in ukrainisch- und russischsprachigen Facebook-Gruppen aus. Eine ehemalige Care-Arbeiterin betreibt einen eigenen YouTube-Kanal, auf dem sie über die Risiken bei der Inanspruchnahme von Vermittlungsagenturen sowie die Besonderheiten der Pflegearbeit in deutschen Familien spricht und Deutsch-Videokurse für 24-Stunden-Betreuerinnen anbietet. Auf institutioneller Ebene gibt es nur wenige Beratungsstellen, die rechtliche oder soziale Unterstützangebote für Care-Arbeiterinnen, insbesondere aus nicht EU-Ländern, anbieten. Auch die deutschen Gewerkschaften kümmern sich kaum um das Thema. In der Schweiz ist man da etwas weiter: In Basel setzt sich das Netzwerk Respekt, das von der Gewerkschaft VPOD mitgegründet wurde, erfolgreich für die Rechte von 24-Stunden-Betreuerinnen ein (siehe woz 47/2021).

Tetiana Goncharuk

ist Leiterin des Frauentreffs HellMa in Berlin-Marzahn.

Anmerkung:

1) 2019 und 2020 habe ich Interviews mit in Deutschland tätigen Care-Migrantinnen aus der Ukraine geführt, auf diesen Gesprächen basiert dieser Text; die Namen wurden anonymisiert. Dieser Beitrag ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung des Textes »Ukrainische Care-Migrantinnen in Deutschland: Prekäre Arbeitsbedingungen, lukratives Geschäft«, der in »Ukraine-Analysen« Nr. 253 im Juni 2021 erschien.