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|Thema in ak 676: BeHindernisse

Wer nicht hüpft, ist exkludiert

Inklusion hier, Teilhabe da – mit großen Worten wird beim Thema Ableismus selten gegeizt. In linken Bewegungen tut sich trotzdem nichts

Von Ash

Eine Frau im Rollstuhl mit Demoschildern lächelt in die Kamera, dahinter steht ein älterer Mann mit Tröte und anderen Lärmgerätschaften ("Klapperhänden") und Rollator
Viele Linke sind sich einig, dass sich was tun muss im Bereich Ableismus. Demonstrationen, auf denen es um diese Themen geht, sind trotzdem regelmäßig schlecht besucht. Wie diese im September 2021 gegen das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz. Journalistin und Aktivistin Laura Mench (rechts) war fast alleine da. Foto: Laura Mench

Langsam, aber sicher spricht es sich rum unter Linken: Antifaschismus bedeutet auch, sich gegen Ableismus zu stellen – also die Auf- und Abwertung von Menschen auf der Basis der ihnen zugeschriebenen Fähigkeiten, oft vereinfacht (und verkürzt) als »Behindertenfeindlichkeit« übersetzt. Leider führt diese Erkenntnis bisher selten zu hilfreichen Veränderungen in den sozialen Bewegungen und damit auch nicht im Leben chronisch kranker und/oder behinderter Menschen.

19 Monate Pandemie und ihre Folgen hätten ausreichen können, um sich zu überlegen, wie es denn eigentlich weitergehen soll, nachdem sich gezeigt hat, wie schnell sich Treffen vor Ort für einen unbestimmten Zeitraum für die meisten Menschen erledigen können. 19 Monate hätten ausreichen können, um Strukturen zu verändern, Pläne zu überdenken und sich Gedanken über langfristige Vernetzungsmöglichkeiten zu machen.

19 Monate lang wurde von Risikogruppen, von alten, kranken und behinderten Menschen gesprochen und geschrieben, aber darum, was wir während und nach der Pandemie außer »Schutz« noch brauchen könnten, ging es dabei nicht. Wir wurden bei jeder Gelegenheit instrumentalisiert, aber einmal mehr nicht in die Debatten einbezogen – oder, wie es so schön heißt: inkludiert. Inzwischen sind die meisten Linken geimpft, Veranstaltungen finden wieder vor Ort statt und geändert hat sich – wenig. Auf Demos wird weiterhin »Wer nicht hüpft, der ist für (was auch immer)« gebrüllt, denn 19 Monate lang darüber zu sprechen, dass chronisch kranke und behinderte Menschen existieren, hat offenbar nicht ausgereicht, um es auch wirklich zu verinnerlichen.

19 Monate lang wurde von alten, kranken und behinderten Menschen gesprochen, aber um das, was wir während und nach der Pandemie außer »Schutz« noch brauchen, ging es nicht.

Vielen Menschen können nicht hüpfen und haben auch ohne staatliche Kontaktbeschränkungen nicht oder nur selten die Möglichkeit, sich offline zu vernetzen. Der Zeitraum, in dem auch chronisch gesunde Menschen ohne Behinderung eine zumindest grobe Vorstellung davon bekommen haben, wie sich diese Ausschlüsse wohl anfühlen könnten, wäre perfekt gewesen, um sich zu fragen: Was tun wir denn in Zukunft, um deutlich mehr Menschen Teilhabe, persönliche Kontakte, Zusammenarbeit mit uns zu ermöglichen? Von solchen Überlegungen habe ich wenig mitbekommen. Stattdessen wurde zum Beispiel die Initiative #AlleRausHier gegründet, die im April 2021 dazu aufforderte, im Sinne von zivilem Ungehorsam gegen Ausgangssperren und andere Corona-Maßnahmen zu verstoßen. Mit »alle« waren wohl einmal mehr die weiß-christlichen Menschen ohne relevante Vorerkrankungen oder Behinderung gemeint, die es sich am ehesten leisten können, während einer Pandemie gegen staatliche Regeln zu verstoßen. Ich bin immer dafür, Raum einzunehmen. Dass »alle« aber oft überhaupt nicht alle einschließt, sollte doch mittlerweile wirklich – Achtung Wortwitz – allen klar geworden sein.

Zurück auf Null

Doch Anti-Ableismus beginnt und endet für viele Linke damit, andere Privatpersonen auf Social Media auf problematische Wörter oder fehlende Alternativtexte hinzuweisen. Diese Hinweise sind wichtig, aber die große Veränderung werden sie, wenn anti-ableistische Aktionen nicht auch darüber hinausgehen, kaum bringen. Wo sind unsere Verbündeten, wenn es darum geht zu verhindern, dass beatmete Menschen in Heime gezwungen werden?

Das sogenannte Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz sieht vor, dass in Zukunft der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) darüber entscheidet, ob beatmete Menschen weiterhin zu Hause leben dürfen oder ob sie nicht vielleicht doch in einem günstigeren Heim oder einer sogenannten »Beatmungs-WG« besser aufgehoben sind. Die Entscheidung trifft also die Stelle, die für die Kostenübernahme zuständig ist – nicht etwa die betroffenen Menschen selbst. Für die »Entwöhnung« von der Beatmung, das sogenannte Weaning, sind – zum Beispiel vor der Entlassung aus Kliniken – Zusatzentgelte vorgesehen. »Wird ein Entwöhnungsversuch nicht veranlasst, drohen Vergütungsabschläge«, so das Bundesgesundheitsministerium. Diese Regelung gilt für alle Patient*innen, bei denen eine Entwöhnung »möglich erscheint«.

Dass dieser Schein mit dem Kostenfaktor im Hinterkopf durchaus häufiger mal trügen wird, ist abzusehen. Anders formuliert ist jetzt schon deutlich, dass finanzielle Interessen vor dem Wohl beatmeter Menschen stehen werden. Schwammige Kriterien wie »Angemessenheit« im Gesetzestext und die fehlende Qualifikation der Entscheidenden kritisierte die Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB) schon im Januar 2020 – merklichen Einfluss hatte das weder auf eine Verbesserung der Gesetzesvorlage noch auf linke Proteste dagegen. Als Anfang September 2021 in Berlin gegen die Gesetzesvorlage und die damit verbundene ableistische Fremdbestimmung demonstriert wurde, waren laut Aussage der Anwesenden in den 3,5 Stunden der Demonstration maximal zehn Leute vor Ort. Zehn Menschen, um sich gegen zu erwartende Gewalt gegen Zehntausende zu stellen.

Vielleicht haben die anderen sich ja an einer sogenannten Online-Demonstration beteiligt – für viele das Nonplusultra der Inklusion. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen. Soziale Medien sind ein wichtiges Kommunikationsmittel, aber sie ersetzen keinesfalls das Einnehmen des öffentlichen Offline-Raumes. Ich möchte, dass meine Anliegen auch dann auf die Straße getragen werden, wenn ich selbst es nicht kann. Ich will, dass meine Forderungen auch von denen gehört oder gesehen werden, die mir nicht sowieso schon auf Twitter oder Instagram folgen – und von denen, die nicht ohnehin längst die entsprechenden Hashtags angeklickt haben.

Es gäbe zahllose Möglichkeiten, auch die von uns in ihren Anliegen zu unterstützen, die niemals die Möglichkeit haben, an Demonstrationen vor Ort teilzunehmen. Fotos von Menschen mit Demo-Schildern können ausgedruckt und aufgestellt werden, anstatt sie nur unter Hashtags zu sammeln. Unsere Redebeiträge könnten als Audio eingespielt, vorgelesen oder per Video abgespielt werden. Menschen könnten sich auch als Platzhalter für unsere Forderungen anbieten. Bei Demonstrationen gegen den massiven Mangel an Geldern zur Erforschung von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) ist es zum Beispiel gängig, Schuhe von Betroffenen neben Zetteln mit ihren Lebensgeschichten oder Botschaften aufzustellen. Diese Vorschläge sind keine allumfängliche Lösung. Aber wirklich alles wäre besser als einfach so weiterzumachen wie bisher, während das öffentliche Leben sich zunehmend wieder in Räume verlagert, die für sehr viele von uns nicht zugänglich sind.

Ash

ist behinderter Queer mit so viel Liebe zu Hunden wie Wut auf BeHindernisse.