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|Thema in ak 675: Ist die Zeit der Utopien vorbei?

Die Hölle in den Köpfen

Unter Linken haben sich zwei dystopische Grundstimmungen breitgemacht, die uns lähmen – machttaktische Selbstverleugnung und Zynismus

Von Özge Inan

Gekippte Zeichnung einer überfluteten Straße, in der ein kaputtes Auto steht, im Hintergrund ein Hochhaus und Palmen
Illustration: Maik Banks

Das war’s mit den Wahlen. Mitglieder der Parteien sammeln ihre Plakate wieder ein, das dort abgebildete Personal bezieht die frisch gebohnerten Büros, und einige Glückliche teilen in Berlin die Ressorts unter sich auf. Irgendwie geht nach dieser angeblich so richtungsweisenden Bundestagswahl doch alles seinen gewohnten Gang.

Um ein Haar wäre es das auch mit der Linkspartei gewesen, zumindest mit ihrer parlamentarischen Arbeit. Entsprechend mies ist die Stimmung. Die krachende Niederlage reiht sich ein in eine Kette schlechter Nachrichten. Ob Klima, Arbeit oder Wohnen, ob Gesundheits- oder Friedenspolitik, ob Mobilität oder Nazibekämpfung: Es sieht, man kann das wohl in dieser Absolutheit sagen, nicht gut aus.

Zwei Reaktionen sind darauf zu beobachten. Sie scheinen zunächst die genauen Gegenteile voneinander zu sein, sind aber aus derselben Verzweiflung gewachsen und gehen auf eine gemeinsame Annahme zurück: Die sozialistische Idee ist Geschichte. Die Dystopie ist hier.

Anhängsel von Ökoliberalen und Sozialdemokrat*innen

Die erste Gruppe will daraus immerhin noch das vermeintlich Beste machen. Mit Anlauf wirft man sich in den Parlamentarismus, kooperiert mit jedem, holt sich die Posten. Und zwar mit den besten Absichten. Mehrheiten ansprechen, Bündnisse schmieden – über Parteigrenzen und Ideologien hinweg –, um institutionell und vor allem gesetzgeberisch größtmöglichen Einfluss zu gewinnen; die Argumentation ist bekannt. Diese Haltung ist beispielsweise in Teilen der Klimabewegung zu beobachten. Einige ihrer bekanntesten Köpfe sitzen inzwischen auf grünen Parteitagen und lassen sich dort realpolitische Sachzwänge erklären. Dass mit einer liberalen Partei kein Umweltschutz zu machen ist, man ihr höchstens als kostenlose Wahlwerbung dient, haben sie trotz der unzähligen bunten »System Change, not Climate Change«-Schildern auf ihren eigenen Demos wohl nicht verstanden.

Auch die dieser ersten Gruppe angehörenden Linken waren sich im Wahlkampf, getreu dem rot-rot-grünen Regierungskurs des Spitzenpersonals, für kaum eine Anbiederungsaktion zu schade. Während Dietmar Bartsch auf einer Veranstaltung der Arbeitgeberorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) auftritt, kann der Linksjugend-Sprecher Michael Neuhaus schon mal für ein paywallgeschütztes Welt-Interview mit Champagner vor dem Bundestag posieren.

Wie hoffnungslos einige dieser Menschen tatsächlich sind, offenbart sich oft erst, wenn ihr Kurs kritisiert wird. Dann ist plötzlich wenig übrig von der kämpferischen Aufbruchstimmung, die sonst die Rhetorik dominiert. Was soll man denn sonst machen? Sich als sozialistische Kraft positionieren?

Im Falle von Bartschs INSM-Auftritt musste dieser sich freilich dank ausreichender Parteidisziplin der Kritik gar nicht stellen. Spannender war ohnehin, was er beim INSM eigentlich von sich gab. Mit einer Offenheit, die sich selbst die kühnsten Reformer*innen selten trauen, erklärte er seine Partei kurzerhand zu einer sozialdemokratischen Vereinigung, deren endgültiges Ziel es sei, einige wenige »planwirtschaftliche Elemente« in die Marktwirtschaft einzubringen. Auf die Frage, warum ein Unternehmer die Linke wählen sollte, antwortete der Spitzenkandidat in aller Ernsthaftigkeit, ein guter Unternehmer habe ja auch ein Interesse daran, dass seine Mitarbeiter*innen vernünftig bezahlt werden.

Es muss alarmieren, mit welcher Selbstverständlichkeit diese Menschen die Niederlage akzeptieren, zu deren Abwendung sie eigentlich berufen sind. Und mit welcher Verschlagenheit diese Tatsache verschwiegen wird. Die Prophezeiung erfüllt sich letztlich selbst, wenn die Linke sowohl als Partei als auch als gesellschaftliche Kraft zum Anhängsel von Ökoliberalen und Sozialdemokrat*innen wird. Wer sich für jedes bisschen repräsentatives Mitspracherecht von diesen Kräften abhängig macht, wird ihnen selbstverständlich nach dem Maul reden und sich dabei vorkommen, als habe er einen sinnvolleren Beitrag geleistet als jene, die fragen, wohin die Reise eigentlich geht.

»Das wird nichts«

Mit Augenrollen und Kopfschütteln reagieren darauf jene, die die zweite verbreitete Reaktion auf unsere scheinbar hoffnungslose Gegenwart repräsentieren, jene, die sich von dieser Strategie – wohl zurecht – nichts versprechen. Auf dieser Seite ticken die Uhren anders. Man sagt, was man von den anderen hält, ohne darauf zu warten, dass sie einem ans Bein pinkeln. Und was man sagt, sagt man mit mal mehr, mal weniger verhohlener Überheblichkeit, die man sich durch ideologische Konsistenz verdient hat. Man fühlt sich hier als Verlierer unter Verlierern, aber als einer derjenigen, die es wenigstens begriffen haben. Die Debattenbeiträge wechseln sich fortlaufend ab zwischen »das wird nichts« und »wir haben euch doch gesagt, dass das nichts wird« – denn inhaltlich Unrecht haben sie leider selten. Alles, was bleibt, wenn die Energiereserven irgendwann aufgebraucht sind, ist die Gewissheit, es immerhin vorhergesagt zu haben. Und das dürfen gerne alle wissen.

Es ist nachvollziehbar, dass die ständige Frustration über ausbleibende Veränderung in Zynismus umschlägt. Aber fair ist es nicht. Denn die eigene Praxis kann sich nur als falsch erweisen, wenn man überhaupt eine hat. Nützlich für irgendjemanden ist es auch nicht, dafür aber eine deutliche Aussage darüber, für wie wirksam man sich selbst eigentlich hält. Hierin sind die regierungsfreudigen Reformer*innen und die resignierten Zyniker*innen einander ähnlicher, als ihnen womöglich lieb ist.

Auf der Suche nach dem Anfang vom Ende wird man wohl bei der Wende beginnen müssen, dem ökonomischen und politischen Trauma der frühen 1990er Jahre, das nicht nur, aber vor allem im Osten den sehr realen Grundstein für die Untergangshaltung legte. Diese Haltung verhinderte teilweise den Aufbau neuer politischer Strukturen, die die weggebrochenen hätten ersetzen können. In den darauffolgenden Jahren, die das Erstarken der Neonaziszene, den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr und den schrittweisen neoliberalen Umbau der Bundesrepublik mit sich brachten, gab es wenig Anlass, die Endzeitstimmung abzulegen. Ein erster Lichtblick im langen Tunnel war die internationale Occupy-Bewegung im Zuge der Finanzkrise 2008, die dann aber doch nicht die erhoffte nachhaltige Radikalisierung erzeugen konnte. Womöglich war es für das eigene Selbstbild der noch größere Schlag, eine antikapitalistische Protestbewegung verpuffen zu sehen, als den Siegeszug des Neoliberalismus zu beobachten.

Wieder einige Jahre später war der Faschismus zurück in den deutschen Parlamenten, der Protest dagegen lange Zeit verhalten und erst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, als die AfD ihre Position bereits nachhaltig gesichert hatte. Erneut: Wir haben euch doch gesagt, dass das nichts wird. Heute werden überdies die Folgen der Klimakrise immer sichtbarer, die Szenarien immer dramatischer, und dann kam auch noch die Pandemie dazu.

Kämpfen braucht Zuversicht

Eine neue linke Generation, die erstmals als politische Akteurin die Bühne der Geschichte betritt, findet naturgemäß selten ein wohlwollendes Publikum vor. Es liegt an ihr, sich die Ressourcen, die Aufmerksamkeit und die Plattformen zu nehmen, die sie braucht, um ihren Platz im historischen Block der für den Sozialismus kämpfenden Kräfte einzunehmen. Neben einer ganzen Reihe materieller Voraussetzungen gehört dazu auch – als Ausgangspunkt und fortwährender Antrieb – eine grundlegende Zuversicht: jene Überzeugung von der eigenen Unvermeidbarkeit, die vorangegangene Generationen oft zu ihren Kämpfen inspirierte. Dieser Überzeugung muss ein gewisses theoretisches Fundament zugrunde liegen, zu dessen Vermittlung sich leider wenige der belesenen Herrschaften berufen sehen; sie muss sich aber auch in methodischer Vielfalt spiegeln.

Der vergangene Sommer war von gleich drei großen oder weniger großen Streiks geprägt, dem Lieferstreik der Gorillas-Fahrer*innen, dem andauernden Berliner Pflegestreik und dem Bahnstreik. Die politische Sprengkraft dieser Streiks muss genutzt werden.

Man kann sich auch durchaus der Instrumente der bürgerlichen Demokratie bedienen und damit Perspektiven auf signifikante materielle Verbesserungen eröffnen, wie die Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen mit ihrem Volksentscheid zeigt.

Und schließlich bieten die sozialen Medien Möglichkeiten, die längst über reine Selbstvergewisserung hinausgehen. So hat die Initiative Deutschrapmetoo eine niedrigschwellige Anlaufstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt in der Rapszene geschaffen, die es so noch nie zuvor gab. Andere Musikszenen ziehen inzwischen nach.

Linke Praxis kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, kann sich weiterentwickeln und sich auch gegenseitig in die Quere kommen. Eine Linke jedoch, die sich um der Macht willen selbst verleugnet, verliert ihre Daseinsberechtigung. Eine Praxis, die außer Zynismus und Rechthaberei nichts zu bieten hat, ist keine. Die Zeiten sind zu ernst, als dass wir uns irgendetwas davon leisten könnten.

Özge Inan

ist Jahrgang 1997, hat Jura studiert und arbeitet in Berlin als Kolumnistin und Streamerin.

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