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|Thema in ak 668: Erinnerungspolitik

Deutschland endlich befreit?

Der Hamburger Skandal um NS-Profiteure als Mit-Mieter eines Zentrums für Shoah- und Porajmos-Gedenken verdeutlicht, was hierzulande als »Aufarbeitung« gilt

Von Cornelia Kerth

Im Jahr 2023 soll in Sichtnähe zum historischen Gedenkort ein Dokumentationszentrum mit einer Fläche von circa 800 Quadratmetern eröffnet werden. Collage: KD

Zwischen 1940 und 1945 wurden mehr als 8.000 aus Hamburg und Norddeutschland stammende Jüdinnen und Juden, Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma von Hamburg aus in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager in die deutsch besetzten Gebieten nach Belzec, Litzmannstadt/Lodz, Minsk, Riga, Auschwitz und Theresienstadt deportiert. Kaum jemand hat überlebt.

Der Hannoversche Bahnhof, von dem aus fast alle in den Tod geschickt wurden, wurde später von Bomben getroffen und weitgehend zerstört, nach 1945 verschwand er aus dem Blickfeld der Stadt im Freihafen. Erst mit der Erschließung des Geländes zur heutigen Hafen-City war der Ort wieder begehbar. Forderungen der Verfolgtenorganisationen, die Reste des Bahnhofs zu lokalisieren und dort einen würdigen Gedenkort einzurichten, führten Jahre später zu einer »Expertenrunde«, an der die Jüdische Gemeinde, das Auschwitz-Komitee, der Landesverein der Sinti und die Roma und Cinti-Union sich beteiligen konnten. Sie sorgten dafür, dass 2017 tatsächlich ein beeindruckender Gedenkort eingeweiht werden konnte, an dem an jeden und jede Einzelne mit ihrem Namen erinnert wird. Es ist der erste Ort, an dem aller Deportierten gemeinsam gedacht wird.

Bis 2023 soll dem Gedenkort ein Dokumentationszentrum beiseite gestellt werden, in dem eine Dauerausstellung zum Deportationsort und -geschehen gezeigt werden wird. Diese Dauerausstellung soll neben dem Prozess der Ausgrenzung und Entrechtung, der Rolle der Verantwortlichen und Profiteure vor allem die Biografien der Verfolgten ins Zentrum stellen. »In vielfältiger Weise soll die Geschichte und Nachgeschichte des Deportationsgeschehens mit Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven verknüpft werden«, wird auf der Homepage des Hannoverschen Bahnhofs angekündigt. Doch es gibt ein Problem: Für das Dokumentationszentrum wird das Erdgeschoss eines Investoren-Projekts angemietet, das im darüberliegenden Stockwerk Büroflächen vermietet. Den skeptischen Verfolgten-Verbänden wurde versichert, dass bei der Wahl der künftigen Mit-Mieter selbstverständlich der besondere Charakter des Ortes berücksichtigt werde.

NS-Profiteure als Nachbarn

Am 15. Januar dieses Jahres war nun im Hamburger Abendblatt in fetten Lettern zu lesen: »Öl-Produzent Wintershall Dea zieht in die Hafencity. Das Unternehmen hat bereits Flächen für rund 500 Mitarbeiter angemietet.« Dazu wurde der offensichtlich sehr zufriedene Vorstandsvorsitzende Mario Mehren zitiert: »Mit dem neuen und langfristig anzumietenden Bürogebäude haben wir Büros gefunden, die zu Wintershall Dea passen.«

Mit Wintershall nimmt ein Unternehmen als Nachbar des Dokumentationszentrums und des Mahnmals Platz, das sowohl als Unternehmen als auch durch seinen damaligen Generaldirektor August Rosterg als Förderer und Profiteur des Nazi-Regimes Verantwortung für die Verbrechen trägt, an deren Opfer hier erinnert wird.

1936 wurde Wintershall als Rüstungsbetrieb eingestuft. In enger Kooperation mit der Wehrmacht wurde schon ab 1933 Munition heimlich in stillgelegten Kalischächten gelagert, womit Wintershall gegen den Versailler Vertrag verstieß. Während des Zweiten Weltkriegs beteiligte sich das Unternehmen an der Ausplünderung der okkupierten Länder (Österreich, Polen, Ungarn und der Ukraine) und beutete knapp 10.000 Zwangsarbeiter*innen in seinen Werken aus. Diese wurden vom Werkschutz an den Baracken abgeholt und zurückgebracht, immer wieder übernahm der Werkschutz auch die »Nachtwache« an den Baracken.

Generaldirektor August Rosterg zählt zu den frühen Unterstützern der NSDAP. Bereits 1931 traf er im Geheimen mit Adolf Hitler zusammen und war schon vor 1933 Mitglied des »Keppler-Kreises«, der Spenden für dessen Partei einwarb.

1968 übernahm schließlich der IG-Farben-Gründungs- und Nachfolge-Konzern BASF das Unternehmen und ist auch nach der Fusion mit Dea mit 67 Prozent noch Mehrheitseigner von Wintershall Dea. Die IG Farben errichtete mit dem KZ Auschwitz III Monowitz das erste privat finanzierte Konzentrationslager. (1) Gemeinsam mit der Degussa betrieb sie die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (Degesch), die das Zyklon B lieferte, das in den Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zum Massenmord eingesetzt wurde.

Das ficht den Vorstandsvorsitzenden Mario Mehren indes nicht an. Sein Pressesprecher sieht in der geplanten Nachbarschaft sogar »eine Chance … Sei es etwa durch gemeinsame Veranstaltungen oder Kooperationen, die die Verantwortung von Unternehmen in den Fokus nimmt«, lässt er die taz wissen.

Wie im Brennglas tritt an diesem ganz aktuellen Beispiel deutlich zutage, was die offizielle »Gedenk- und Erinnerungskultur« an Nazi-Terror, Völkermord, Raub- und Vernichtungskrieg im Nachfolgestaat so problematisch macht: Nichts geschah freiwillig, alles wurde ihm durch äußere Zwänge aufgenötigt, und so bleibt es buchstäblich »äußerlich«.

Über Jahrzehnte schienen Leugnen, Beschweigen, Relativieren, Klein- und Schönreden der deutschen Verbrechen und der schlichten Tatsache, dass alle staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Einrichtungen Anteil daran hatten und dafür Verantwortung tragen, ein probates Mittel zu dem vom 9. Mai 1945 an verfolgten »Schlussstrich«. Der Rest der Welt war vom deutschen Faschismus befreit worden, die Deutschen fühlten sich als Opfer. Die Forderungen nach Gedenken und Erinnerung und Konsequenzen daraus, nämlich die Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer, blieben über Jahrzehnte nahezu ausschließlich ein Anliegen der überlebenden Verfolgten und ihrer Organisationen. Erst mit den »68ern« und ab Anfang der 1980er Jahre mit der Gründung der Geschichtswerkstätten fanden diese Anliegen eine breitere gesellschaftliche Resonanz.

Der Gedenk-Boom

Mit der Öffnung des Übergangs von Ost- nach Westberlin ausgerechnet am 9. November 1989 schien die Gelegenheit günstig, diesem nun so unzutreffend wie perfide beschworenen »Schicksalstag der Deutschen« eine neue Identität stiftende Bedeutung zuzuweisen. Dem standen aber auch 1990 viele und vielfältige Erinnerungs- und Gedenkveranstaltungen an das Novemberpogrom als Wendepunkt von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung zu ihrer systematischen Ermordung entgegen. Die rasante Entwicklung von Nazi-Strukturen und Nazi-Terror, rassistischer Angriffe und Morde in West und Ost, die von nationalistischen und menschenfeindlichen Politikerreden und Medienberichten (»Das Boot ist voll«) begleitet wurden, richteten die Aufmerksamkeit vieler, die darüber entsetzt waren, auf die Kontinuitäten deutscher Ideologie und die nie wirklich erfolgte »Entnazifizierung«. Schlimmer noch: Die rechte Gewalt beschädigte »den Ruf Deutschlands in der Welt« und gefährdete die Exportmeisterschaft.

Zugleich konnten die enge Verbindung und Zusammenarbeit nahezu aller deutschen Firmen mit dem NS-Regime durch Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter*innen aus den USA gegen diejenigen, die für ihre Verschleppung, Entrechtung und Ausbeutung und die Ermordung von Millionen verantwortlich waren, nicht mehr als «kommunistische Propaganda« abgetan werden.

Vor diesem Hintergrund kam es spätestens ab Mitte der 1990er Jahre zu einem wahren Boom öffentlichen Gedenkens und Erinnerns, verbunden mit der Einrichtung (und Zurichtung) (2) von Gedenkorten und -stätten: vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas und den nachfolgenden Denkmälern für die ermordeten Sinti und Roma und für andere Opfergruppen in Berlin bis zu lokalen Erinnerungsorten an Verfolgung und gelegentlich sogar an Widerstand. Seit 1996 ist der 27. Januar Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

In vielen kleinen und oft kleinlichen Schritten wurden NS-Unrechtsurteile (keineswegs alle) aufgehoben und bescheidene Entschädigungen – eher Almosen zu nennen – für die wenigen noch lebenden Opfer des Nazi-Terrors wie Zwangsarbeiter*innen, Deserteure oder Zwangssterilisierte beschlossen. Voraussetzung dafür war, dass die Betroffenen rechtzeitig davon erfuhren, um fristgerecht Anträge zu stellen. Zudem sollte es ihre Bringschuld sein, nach mehr als 50 Jahren die passenden Unterlagen vorzulegen.

Was in Deutschland Aufarbeitung heißt

Das Ergebnis wird immer wieder stolz verkündet: »Heute bescheinigt das Ausland den Deutschen, ihre Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet zu haben«, heißt es in einem Beitrag der ARD.

An Tagen wie dem 27. Januar und dem 9. November, bei Befreiungsfeiern in KZ-Gedenkstätten und ähnlichen Anlässen halten Politiker*innen schöne Reden, legen große Kränze ab oder lassen sie von Bundeswehr-Soldat*innen ablegen. Nur selten leistet sich einer einen Fauxpas, und sicher gibt es einige, denen das, was sie sagen, eine Herzensangelegenheit ist.

Am nächsten Tag aber ist wieder Alltag: Da muss gerungen werden, unter welchen Bedingungen welcher Prozentsatz einer Verfolgtenrente auf die Grundsicherung armer Überlebender angerechnet wird. Da müssen Prozesse darum geführt werden, welche Leiden durch die Verfolgung bedingt sind und zu einer Erhöhung der schmalen Zahlungen führen könnten. Da werden Roma, die sämtlich Nachkommen von NS-Opfern sind, in die ethnisch konstruierten Nachfolgestaaten Jugoslawiens abgeschoben, in denen sie praktisch keinerlei Lebensperspektive haben.

Wo allerdings Reparationen und Entschädigungen für Kriegsverbrechen gezahlt und/oder noch lebende Kriegsverbrecher verurteilt oder ausgeliefert werden müssten, kommt der höchste aller Repräsentanten persönlich zum Einsatz: 2014 fuhr Gauck unter anderem nach Lyngiades in Griechenland, wo Soldaten der Gebirgsdivision Edelweiß 82 Frauen, Greise und Kinder ermordet haben. »Mit Scham und Schmerz« bat er »im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung«. Dort umarmte er den 84-jährigen Staatspräsidenten Karolos Papoulias, der in unmittelbarer Nähe von Lyngiades aufwuchs und selbst gegen die Besatzer gekämpft hat. Auf die griechischen Reparationsforderungen angesprochen, lehnte Gauck ab, kündigte stattdessen einen »Zukunftsfonds« für Erinnerungsarbeit an.

Wo Gedenken und Erinnerung an die Stelle von Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer treten, werden sie zur Farce. Wo das schlichte Eingeständnis von Fakten die Täterseite ermutigt, »für Versöhnung zu werben« oder Opferverbänden »gemeinsame Veranstaltungen oder Kooperationen« anzubieten, kann »Aufarbeitung« wenig mehr bedeuten als die gefühlte Befreiung von der Last der Verantwortung. Hätten die Herrschaften von Wintershall sich mit dem, was ihre »Aufarbeitung« zutage gefördert hat, je wirklich beschäftigt, hätte der Respekt vor den Opfern ihnen die Anmietung von Geschäftsräumen am Lohseplatz unmöglich gemacht. Ganz ohne öffentliche Debatte.

Zur Einweihung des Mahnmals Hannoverscher Bahnhof im Mai 2017 hielt die Überlebende Lucille Eichengreen, die 1941 als Cecilie Landau mit ihrer Familie von dort deportiert worden war, eine sehr kritische Rede, die leider nicht veröffentlicht wurde. In einer Veranstaltung am Abend sagte sie: »Wird das Denkmal geachtet werden? … Ich bin nicht ganz sicher.« Lucille Eichengreen war eine kluge und kämpferische Frau, die aus langer Erfahrung nur zu gut wusste, wovon sie sprach. Ihre Stimme fehlt jetzt. (3)

Anmerkungen:

1) Hans Frankenthal gehört zu den Wenigen, die das KZ Auschwitz Monowitz überlebten. Er schildert die Verhältnisse dort in seiner Biografie »Verweigerte Rückkehr«.

2) So wurde die Neue Wache in Berlin 1993 von einem Mahnmal für die Opfer von Faschismus und Militarismus zur zentralen »Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«. Dafür wurde Käthe Kollwitz’ sensible Plastik »Mutter mit totem Sohn«, mit der sie ihre private Trauer um den im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn bearbeitet hat, gewählt und vierfach vergrößert repliziert. Die der KPD nahestehende Künstlerin und ihr Werk wurden und werden auf diese Weise für ein der Totalitarismus-Doktrin verpflichtetes Geschichtsbild missbraucht, in dem Täter und Opfer verschwimmen. Gleichzeitig begann eine Phase der Umgestaltung der ehemaligen Mahn- und Gedenkstätten Sachsenhausen, Ravensbrück und Buchenwald entsprechend der Totalitarismus-Doktrin.

3) Lucille Eichengreen starb am 8. Februar 2020, eine Woche nach ihrem 95. Geburtstag.