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|Thema in ak 636: 1968

Revolution ist machbar

Sie dauert nur deutlich länger als gedacht

Von Jens Renner

Den Anfang zum Jubiläumsjahr machte Alexander Dobrindt (CSU). In einem Gastbeitrag für die Tageszeitung Die Welt forderte er nichts anderes als die Rücknahme von 1968: »Wir brauchen den Aufbruch in eine neue konservative Bürgerlichkeit, die unser Land zusammenführt, unsere Wertegemeinschaft stärkt und unsere Freiheit verteidigt« – gegen »die linke Revolution der Eliten«, die 1968 erfolgreich gewesen sei. Ob das die Wähler_innen der AfD überzeugt? Noch sind deren Hetzer_innen einfach deutlicher bei der Feindmarkierung. Auf dem AfD-Bundesparteitag im April 2016 in Stuttgart wurde Bundessprecher Jörg Meuthen von den Delegierten mit Standing Ovations gefeiert, als er ausrief: »Wir wollen weg von einem links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland, von dem wir die Nase voll haben.«

Die hegemonialen Interpretationen der Revolte schwanken seit jeher. 1990, mit der »Wiedervereinigung«, schien ein unhintergehbarer Konsens erreicht. In seiner Rede zum ersten Tag der deutschen Einheit sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU): »Die Jugendrevolte am Ende der sechziger Jahre trug allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft bei.« Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) dagegen verkündete noch 2001: »Es hat sich ja bei den Achtundsechzigern um eine weit ausgreifende Massenpsychose gehandelt.« Allerdings fügte er hinzu: »Wichtig ist nur, was die damals Verirrten heute tun.« Das war die Absolution für Leute wie Joschka Fischer, der es 1998 als ehemaliger militanter Streetfighter zum Vizekanzler und Außenminister im rot-grünen Kriegskabinett gebracht hatte.

Die politische Debatte des Jubiläumsjahrs 2018 hat diverse Facetten: schroffe Abgrenzung, Warnung vor Gewalt und »Extremismus«, Selbstbezichtigung einstiger Aktivist_innen, aber aus der Mitte der Gesellschaft auch Lob für die mit der Revolte einhergehende Modernisierung, alltagskulturelle Errungenschaften eingeschlossen: Akzeptabel scheint, was sich als integrierbar erwies. Derweil versuchen auch Linke, die Geschichte an ihre gegenwärtigen Ideologeme anzupassen. So sieht Rainer Trampert in der 68er-Bewegung eine »Modewelle mit befreienden Aspekten« und findet »manches richtig, vieles falsch«: »Die politischen Achtundsechziger teilten die Welt in gut und böse. Wer gegen die USA und Israel war, zählte zu den Guten, einschließlich des Massenmörders Pol Pot.« Dessen Regime – hier versagt das Gedächtnis des Veteranen – etablierte sich allerdings erst 1975. Lange vor 1968 erledigt war dagegen die »Liebe zu den USA«, von der Trampert zu wissen meint: »Wer seine Liebe zu den USA und der Kibbuz-Bewegung noch nicht abgelegt hatte, wurde nun (1968) umerzogen.« (Jungle World 51-52, 21.12.2017) Von Umerziehung kann keine Rede sein, und der Protest richtete sich nicht gegen »die USA«, sondern »den US-Imperialismus« und seinen Krieg in Vietnam.

Auch in anderen Teilen der deutschen Linken scheint sich ein verzerrtes Bild der Revolte durchzusetzen. So schreibt Matthias Ubl: »Die Revolutionär_innen von 1968 setzten demgegenüber (gemeint ist die »auf die Machteroberung« ausgerichtete Politik der Bolschewiki 1917; Anm. J.R.) bei den zwischenmenschlichen Beziehungen an. Sie gingen davon aus, die Gesellschaft durch die Subversion der privaten Sphäre verändern zu können. Die Gründung von Kommunen, das Experimentieren mit neuen Liebesmodellen und die Ablehnung der bürgerlichen Kleinfamilie fallen in diese Epoche.« (ak 633, 12.12.2017) Knapp daneben ist auch vorbei: Die These vom Ansetzen an den »zwischenmenschlichen Beziehungen« als gemeinsamem Ausgangspunkt der »Revolutionär_innen von 1968« führt in die Irre. Das zeigt der Blick auf Vorgeschichte, Verlauf, Akteur_innen und Erb_innen der Revolte.

Vorgeschichte und Themen

In Westdeutschland inklusive Westberlin, der Hochburg der Revolte, begann deren Vorgeschichte schon unter der Kanzlerschaft Konrad Adenauers (1949 bis 1963). Die wichtigste innenpolitische Kontroverse betraf die sogenannte Wiederbewaffnung: die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Aufstellung einer bundesdeutschen Armee. Diese Pläne stießen in der Linken, SPD und DGB eingeschlossen, auf scharfe Ablehnung. 1952 wurde bei einer antimilitaristischen Demonstration in Essen der junge Kommunist Philipp Müller von der Polizei erschossen. 1955 trat die BRD der NATO bei. Nach dem Umschwenken der SPD, die 1956 der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zustimmte, war es eine weitgehend außerparlamentarische Opposition, die gegen die Bundeswehr und den NATO-Beitritt protestierte. 1957/58 ging der Streit vor allem um die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Die Aktion Kampf dem Atomtod wurde zwar von der SPD initiiert, aber dann gebremst, als sie Massen mobilisierte. 1960 fand erstmals der »Ostermarsch der Atomwaffengegner« statt – eine Aktionseinheit von (nach dem KPD-Verbot 1956 illegalen) Kommunist_innen, Sozialdemokrat_innen, Christ_innen und Pazifist_innen.

Auf ihrem Godesberger Parteitag 1959 wandelte sich die SPD endgültig von der Arbeiter- zur »Volkspartei«, bekannte sich zum Privateigentum an den Produktionsmitteln und zur Landesverteidigung. Die damit vollzogene Absage an den Marxismus führte zwei Jahre später zum Bruch mit der Studentenorganisation der Partei, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Dem SDS wurde die finanzielle Unterstützung entzogen; die Doppelmitgliedschaft in SDS und SPD wurde verboten. Um die bundesdeutschen Streitkräfte und die NATO ging es auch in der Spiegel-Affäre von 1962. Die maßlose und teilweise illegale Polizeiaktion gegen das Nachrichtenmagazin provozierte Proteste, durch die das »autoritäre Kanzlerregime« (Dietrich Thränhard) erschüttert wurde.

1963 übergab Adenauer das Kanzleramt an seinen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der als »Vater des Wirtschaftswunders« und »Erfinder der sozialen Marktwirtschaft« hohes Ansehen genoss. Neben Erhard, der kritische Schriftsteller als »Pinscher« bezeichnete, stand schon seit 1959 ein ausgemachter Reaktionär an der Spitze des Staates: Bundespräsident Heinrich Lübke, der vor 1945 den Einsatz von KZ-Häftlingen in Peenemünde organisiert hatte. In seiner zweiten Amtsperiode wurde Lübke immer seniler. Seine viel belachten sprachlichen Fehlleistungen passten in eine Zeit, in der die politische Elite zunehmend überfordert schien. Als sich 1966 das wirtschaftliche Wachstum abschwächte, wurde – gegen den Widerstand von Teilen der sozialdemokratischen Basis – eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD gebildet. Kanzler wurde der Altnazi Kurt-Georg Kiesinger (CDU), der in Goebbels‘ Propagandaministerium gearbeitet hatte. Das wichtigste innenpolitische Projekt von Schwarzrot war ausgerechnet die Verabschiedung der Notstandsgesetze – eine Kampfansage an alle, die aus Sicht der Herrschenden die »innere Ordnung« zu gefährden drohten. Der Aufschwung der neofaschistischen NPD war für die sich formierende Außerparlamentarische Opposition (APO) ein weiteres Alarmzeichen, nachdem die Frankfurter Auschwitzprozesse (ab 1963) ebenfalls zur Politisierung beigetragen hatten. Schon zwischen 1959 und 1962 hatte der Student Reinhard Strecker im Auftrag des SDS die Wanderausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« organisiert.

Neben innenpolitischen Themen – Militarisierung, Notstandsgesetze, Bildungsreform, alte und neue Nazis – waren es die imperialistischen Kriege und die antikolonialen Bewegungen, die mobilisierend wirkten. Die Frontstellung im Kalten Krieg – der »freie Westen« gegen den »totalitären Ostblock« – wurde, trotz Indoktrination durch Schule, Uni, Politik und Medien, immer mehr infrage gestellt. Dazu trug vor allem der Krieg in Vietnam bei. 1965 gründete sich im SDS der Arbeitskreis Südvietnam, im Winter 1965/66 veranstaltete der Westberliner SDS ein Vietnam-Semester. Die Solidaritätsbewegung forderte nun auch nicht mehr länger nur Frieden für Vietnam, sondern übernahm – zumindest verbal – Che Guevaras Position »Schafft zwei, drei, viele Vietnam«: als Modell für die Befreiung vom Imperialismus.

Als Schah Resa Pahlewi und seine Frau Farah Diba im Juni 1967 zum Staatsbesuch in Westdeutschland und Westberlin eintrafen, war klar, dass es massive Proteste geben würde. Die Ereignisse am 2. Juni 1967 in Westberlin sind allgemein bekannt: Die Westberliner Polizei und iranische Agenten prügelten auf Demonstrant_innen ein, Kriminalkommissar Kurras erschoss den Studenten Benno Ohnesorg. Schuld aber waren – so der einhellige Tenor aus Politik und Medien – die Demonstrant_innen. »Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen«, schrieb Springers BZ am Tag danach.

Spätestens jetzt war klar, mit welchem Gegner es die Protestbewegung zu tun hatte. Die Aktivist_innen sahen sich nun als Teil einer weltweiten revolutionären Bewegung. Besonders deutlich wurde das im Februar 1968 auf dem Internationalen Vietnam-Kongress in Westberlin, der zeitgleich mit der Tet-Offensive des Vietcong stattfand. In der Schlussresolution des Kongresses hieß es: »Der Kampf gegen die US-Aggression in Vietnam muss zugleich ein Kampf gegen die imperialistische Politik der kapitalistischen Länder Westeuropas sein. Eine zweite revolutionäre Front gegen den Kapitalismus in dessen Metropolen kann nur dann aufgebaut werden, wenn die antiimperialistische Oppositionsbewegung lernt, die spätkapitalistischen Widersprüche politisch zu artikulieren und den Kampf um revolutionäre Lösungen in Betrieben, Büros, Universitäten und Schulen aufzunehmen.«

Der neue Mensch

Dieses internationalistische Grundverständnis und der – heute naiv anmutende – revolutionäre Voluntarismus waren die wesentlichsten Gemeinsamkeiten der APO, zumindest in der »heißen Phase« zwischen Juni 1967 und Dezember 1968. Dabei sollte sich im Verlaufe des Kampfes auch das Individuum revolutionieren, bürgerliches Denken und Fühlen ablegen. Mittel dazu waren Kommunen und Kinderläden und Versuche einer »sexuellen Revolution«. Die erotische Ausstrahlung der Revolte wurde vom bürgerlichen Mainstream voyeuristisch aufgegriffen, Bilder nackter Kommunard_innen wurden und werden immer wieder reproduziert. Vielleicht ist das ein Grund, warum sich die These von der sexuellen Befreiung bis heute gehalten hat. Für die Beteiligten war das Kommuneleben dagegen viel weniger spektakulär: »Sexuelle Befreiung gab es bei uns nicht, das war wieder so ein großes Gerücht«, erinnerte sich später Antje Krüger, 1967 Mitglied der Kommune I.

Wie weit die APO von ihrem Ziel der »Schaffung eines neuen Menschen in einer revolutionierten Gesellschaft« (Kommune 2) entfernt war, zeigten die Reaktionen der meisten männlichen Genossen auf den »Aufstand der Frauen im SDS«, der heute als Beginn der Neuen Frauenbewegung gilt. Die auf den SDS-Delegiertenkonferenzen im September und November 1968 von den Genossinnen geforderte Diskussion über die Frauenunterdrückung im SDS und über die Revolutionierung des Privatlebens wurde von den männlichen Führungskadern abgeblockt; Christian Semler, später Vorsitzender der KPD/AO, sah »kleinbürgerlichen feministischen Aktionswahn« als Motiv.

Erst mit großem Abstand betrachtet wird deutlich, dass die wichtigsten Errungenschaften von 68 tatsächlich im »kulturrevolutionären« Alltagsbereich liegen: Es gab nun mehr individuelle Freiheiten, mehr (wenn auch immer noch nicht gleiche) Rechte für Frauen; alternative Lebensweisen, etwa in Wohngemeinschaften, wurden zumindest geduldet, Minderheiten weniger verfolgt; auch auf den Ämtern wurde der Umgangston weniger autoritär. Das alles war zwar mit dem Kapitalismus kompatibel, aber zweifelsfrei »fortschrittlich«, und wir profitieren heute davon – ein großer Schritt weg vom Adenauer-Deutschland der alten Nazis. Kein Wunder, dass die Dobrindts und Meuthens das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen.

Die Entdeckung der Arbeiterklasse

Als politische Bewegung dagegen ist die Revolte gescheitert – zumindest wenn man ihren weltrevolutionären Anspruch zum Maßstab nimmt. Angesichts der herrschenden Kräfteverhältnisse konnte das auch gar nicht anders sein – auch wenn die APO spätestens seit April 1968 keine reine Studentenrevolte mehr war, sondern auch andere soziale Gruppen anzog. Den Regierenden bereitete das zunehmend Sorgen. In seiner Rede über die »Osterunruhen« nach dem Attentat auf Rudi Dutschke sagte Innenminister Ernst Benda (CDU) am 30. April 1968: »Nach den von den Herren Innenministern der Länder mitgeteilten Zahlen ist inzwischen gegen 827 Beschuldigte ein polizeiliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Nach Berufen aufgegliedert, ergibt sich folgendes Bild: 92 sind Schüler, 286 Studenten, 185 Angestellte, 150 Arbeiter, 31 sonstige Berufe (…) Meine Damen und Herren, diese Aufgliederung scheint mir zu zeigen, wie falsch es wäre, die Gewaltaktionen als Studentenunruhen zu bezeichnen.«

War anfangs die Wertschätzung der Arbeiterklasse noch theoretischer Natur, lösten die »wilden« Septemberstreiks 1969 bei den revolutionären Intellektuellen eine regelrechte Begeisterung aus: Als zeitgleich nordrhein-westfälische Metaller und Kieler Werftarbeiter streikten, schien das »revolutionäre Subjekt«, mit dem Industrieproletariat als Kern, aus seinem Schlaf erwacht. Diverse Arbeiterbünde und »ML«-Parteien gründeten sich, Arbeitertümelei wurde zur Mode. Dass man, um die Revolution voranzubringen, »hinein in die Betriebe« musste, war bald Allgemeingut. Nicht nur die »MLer«, auch Trotzkist_innen und Spontis heuerten in industriellen Großbetrieben an. Vorbild für viele war die Politik der KPD vor 1933: Betriebszellen als Grundeinheit der Organisation, Agitation gegen die »Arbeiterverräter« in den Gewerkschaften, Aufbau einer »Revolutionären Gewerkschaftsopposition« (RGO). Die »Massenorientierung« der allermeisten Aktiven und Sympathisant_innen der APO allerdings sah anders aus: Zehntausende gingen in den 1970er Jahren zu den Jungsozialisten (Jusos) in der SPD oder zur DKP und ihren Bündnisorganisationen. Dort lockten fertige Organisationsstrukturen und Verbindung zu den Gewerkschaftsmitgliedern. »Gewerkschaftliche Orientierung« (GO) war der Slogan, mit dem der MSB Spartakus Tausende Studierende ansprechen konnte – in Abgrenzung zu den »Linkssektierern« in den K-Gruppen.

Lernen lässt sich aus diesen Erfahrungen heute sicher – vor allem aus den Fehlern. Vorbilder, die man kopieren könnte, gibt es nicht. Jean-Paul Sartre, prominenter Bündnispartner der radikalen Linken, sah »das Verlangen nach Selbstbestimmung« als Motiv, das die studentische Avantgarde in die Gesellschaft getragen habe. Nachdem die Arbeiter_innen Ziele und Aktionsformen von den Student_innen übernommen hätten, seien zwischen beiden Gruppen »wirkliche Beziehungen« möglich, »wenn sie zusammenarbeiten, in den Universitäten wie in den Betrieben«.

Längst wissen wir, dass es weitaus mehr Kampfplätze für Linke gibt, aber in den 1970er Jahren war der Pendelschlag vom antiautoritären studentischen Aktionismus zur Arbeitertümelei wahrscheinlich unvermeidlich. Statt hämisch die Dummheiten der Bewegung zu betonen, sollten wir den Aktiven von damals dankbar sein: Sie haben buchstäblich die Köpfe hingehalten und in teilweise extrem feindlicher Umgebung bewiesen, dass auch eine kleine radikale Minderheit wichtige Veränderungen anstoßen kann. Dauerhaft zu verteidigen sind diese allerdings nur durch Verankerung in allen Teilen der Gesellschaft.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.