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Was macht uns wirklich sicher?

Transformative Justice statt Polizei: eine Einführung in Community-basierte Konzepte von Sicherheit

Von Melanie Brazzell

Black Lives Matter tritt für die Abschaffung von Polizei und Gefängnissen ein – weil dies keine sicheren Orte für Schwarze Menschen sind. Foto: Bruce Emmerling / Pixabay

Sun-Hi wird von ihrem Ehemann Cho misshandelt, der ein anerkannter Anwalt in der Koreanisch-Amerikanischen Gemeinde ist. Während eines Streits rufen ihre Kinder die Polizei. Doch Cho, der Sun-Hi mit seinen Englischkenntnissen überlegen ist, überzeugt die Beamt*innen, dass seine Ehefrau ihn angegriffen habe. Nachdem Sun-Hi festgenommen worden ist, reicht Cho die Scheidung ein und erstreitet das alleinige Sorgerecht. Sun-Hi hingegen ist mit Obdachlosigkeit und Abschiebung konfrontiert.

Diane, eine junge Frau of Color, aktiv in lokalen politischen Projekten, freundet sich mit Tom an, einem weißen Community Organizer. Obwohl Diane von Anfang an klarstellt, dass sie kein Interesse an einer sexuellen Beziehung hat, bringt Tom sie in unerwünschte sexuelle Situationen, die sie als Vergewaltigungen wertet. Aber Diane ruft nicht die Polizei. Sie kennt die verheerenden Auswirkungen der Staatsgewalt auf ihre Community nur allzu gut und denkt nicht, dass eine Verhaftung von Tom echte Gerechtigkeit oder Heilung bringen würde.

Für viele Trans- und Cis-Frauen, die Beziehungsgewalt, Diskriminierung oder Belästigungen erleben, sind Polizei und Justiz keine sicheren Institutionen.

Für viele Trans- und Cis-Frauen, die Beziehungsgewalt, Diskriminierung auf der Arbeit oder Belästigungen auf der Straße erleben, sind Polizei und Justiz keine sicheren Institutionen. Vielmehr bedeuten sie meist weitere Gewalt, oder schlimmer noch: kriminalisieren Frauen als Täterinnen.

Während das bisschen Sozialstaat in den USA zerfällt, übernimmt der strafende Staat das Zepter. Er antwortet seit den 1970ern auf soziale Probleme wie Armut immer mehr mit harten Law-and-Order-Strategien, installiert Systeme rassifizierter Überwachung und Kriminalisierung und beschränkt die Bewegungsfreiheit. Nicht umsonst setzt sich die Black-Lives-Matter-Bewegung für die Abschaffung von Polizei und Gefängnissen ein. Kein Land der Welt inhaftiert prozentual einen so großen Teil der eigenen Bevölkerung. Dieses System kann nicht die Antwort auf zwischenmenschliche und staatliche Gewalt sein.

Der feministische Ruf nach Strafen und Gefängnissen

Nichtsdestotrotz haben sich seit den 1970ern viele Mainstreamfeministinnen und auch vermehrt LGBTQ-Organisationen (1) in den USA dem Staat zugewendet und von ihm den Schutz von Frauen und Queers gefordert. Sie kollaborieren oft mit Polizei und Justiz, etwa um einstweilige Verfügungen gegen Gewalttäter zu erreichen. Doch dies hat einen bitteren Beigeschmack, fördert es doch gleichzeitig Masseninhaftierung. Dieses Phänomen wird als »Carceral Feminism« – strafender Feminismus – bezeichnet. Es geht Hand in Hand mit der moralisierten Panikmache einiger Politiker*innen, die sexualisierte Gewalt und Menschenhandel zum Anlass nehmen, den strafenden Staat weiter auszubauen. (2)

Deutschland ist weit von der US-amerikanischen Praxis der Masseninhaftierung entfernt, dennoch sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Der Wohlfahrtsstaat wird seit Jahren zurechtgestutzt (einschneidend durch die Hartz-IV-Reformen); in Europa hat Deutschland die Prämisse der Austeritätspolitik verankert; auf den »Sommer der Migration« folgten Gesetzesverschärfungen.

Auch feministische und queere Sicherheitsbedenken müssen für die Aufrüstung des EU-Grenzregimes und rassistische Überwachungsstrategien herhalten. Auf das mediale Ausschlachten der sexualisierten Gewalttaten in der Kölner Silvesternacht folgte die Debatte um »sichere Herkunftsländer« und schnellere Abschiebungen.

Plötzlich wurden Reformen von Sexualstrafgesetzen (»Nein heißt nein«) zur höchsten Priorität konservativer Politiker*innen. Ihr Interesse für die Betroffenen sexualisierter Gewalt wurde freilich erst geweckt, als es sich bei den Tätern um Männer of Color handelte. Zeitgleich wurde ein neues Prostituiertenschutzgesetz erlassen, das vorgibt, Sexarbeiter*innen besser zu schützen, ihnen aber Registrierungs- und Ausweichpflichten auferlegt und so migrantische Sexarbeiter*innen, die sich nicht registrieren lassen können, weiter in Schutzlosigkeit und Illegalität drängt.

Der feministische und queere Ruf nach dem strafenden Staat homogenisiert verschiedene Gruppen und spielt ihre unterschiedlichen Bedürfnisse gegeneinander aus – eine klassische »Teile-und-Herrsche«-Politik.

Es ist daher kein Zufall, dass in den USA Queers, Trans und Frauen of Color die ersten waren, die dieses Vorgehen kritisiert und sich auf die Suche nach Alternativen zu Polizei und Gefängnissen gemacht haben. Gerade sie wiesen auf die blinden Flecken der Mainstream-Anti-Gewalt-Organisationen einerseits, die nur Beziehungsgewalt thematisierten und staatliche Gewalt verschwiegen, und der Initiativen gegen Staatsgewalt andererseits hin, die keine Antworten auf Beziehungsgewalt liefern konnten.

Community-basierte und transformative Lösungen

Aus ihrer Theorie und Praxis ist in den letzten 20 Jahren eine Bewegung erwachsen, die Alternativen entwickelt hat, um mit sexualisierter und zwischenmenschlicher Gewalt umzugehen. Sie gruppiert sich um die Begriffe »Community Accountability« (übersetzt etwa: gemeinschaftliche Verantwortung) und »Transformative Justice« (auf Verhaltensänderung zielende Gerechtigkeit). INCITE!, ein Netzwerk radikaler Feminist*innen of Color, das eine Vorreiterrolle in dieser Bewegung innehat, beschreibt die vier Grundpfeiler so: a) kollektive Unterstützung, Sicherheit und Selbstbestimmung für Betroffene; b) Verantwortung und Verhaltensänderung des Täters; c) Entwicklung der Gemeinde hin zu Werten und Praktiken, die gegen Gewalt und Unterdrückung gerichtet sind; d) strukturelle, politische Veränderungen der Bedingungen, die Gewalt ermöglichen.

Das Konzept zielt auf eine neue Vorstellung von Gerechtigkeit und Sicherheit. Die Verantwortung für Gewalt wird nicht als individuelle, sondern als kollektive Aufgabe betrachtet. Daraus folgt, dass der gewaltausübenden Person Möglichkeiten zur Verhaltensänderung angeboten werden, anstatt sie zu bestrafen und auszustoßen. Gleichzeitig wird die Gemeinde mobilisiert, um die von Gewalt betroffene Person zu unterstützen.

Wie sehen solche Experimente in der Praxis aus? Schauen wir uns nochmal Sun-His Geschichte an. (3) Sun-Hi kontaktierte MataHari, eine in Boston ansässige Organisation für soziale Gerechtigkeit. MataHari stellte ein Solidaritätsteam aus anderen koreanischen und weißen Müttern aus Sun-His Gemeinde zusammen. Das Team leistete emotionale Unterstützung und begleitete Sun-Hi durch das Gerichtsverfahren, wo Cho klarmachte, dass die Gemeinde sein Verhalten nicht akzeptierte. Die Frauen boten Sun-Hi Rechtshilfe an und pflegten Kontakt zu ihren Kindern.

Für Betroffene: ein neues Verständnis von Sicherheit

Während professionelle Beratungsstellen oft lediglich individuelle Lösungen anbieten, haben Gemeinden den Vorteil, kollektive und alltägliche Unterstützung organisieren zu können. So bleibt keine betroffene Person allein, und es wird deutlich, dass Gewalt alle betrifft, wenn auch auf verschiedene Weise.

Die Logik von Gefängnissen verkauft uns Sicherheit als Verwahrung der Gefahr (hinter Grenzen, Mauern und in Gefängnissen), oder sie isoliert die Gefährdeten (zum Beispiel in Frauenhäusern).

In linken Kontexten wird häufig von »Schutzräumen« fantasiert, in denen niemals etwas Schlimmes geschieht. Aber wie wäre es, wenn wir Ansätze entwickelten, die sich der Realität der Gewalt stellen und auf ihre Veränderung abzielen, statt zu versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen? Transformative-Justice-Ansätze helfen Betroffenen, sich gemeinsam mit Verbündeten die eigene Selbstbestimmung zurückzuerobern (statt als Machtlose Schutz von außen zu suchen). Sicherheit verstehen sie als eine Art Werkzeugkasten, nicht als geschlossenen Raum. In Deutschland ist LesMigras eine der Schlüsselorganisationen für die Community-basierte Unterstützung Betroffener. (4)

Transformation statt Bestrafung

In manchen Prozessen ist die gewaltausübende Person beteiligt, weil entweder die betroffene Person dies wünscht oder weil der Täter die Bereitschaft hierzu zeigt. Dieser Aspekt von Transformative Justice ist besonders kontrovers. Für viele ist Rache die erste, intuitive Reaktion auf ein Gewalterlebnis, und oft fehlen die Möglichkeiten, Gewalt ausübende Personen erfolgreich zur Verantwortung zu ziehen. Von welcher Verantwortung sprechen wir also, und wie kann diese erfolgreich übernommen werden?

Die Initiative Creative Interventions definiert dies so: Gewalt beenden, Gewalt und ihre Konsequenzen ohne Wenn und Aber anerkennen, Entschädigung, das Verändern von schädigenden Einstellungen und Verhaltensweisen, so dass Gewalt nicht wiederholt wird, und auch die Entwicklung der Gemeinde.

Während die Gefängnislogik ein paar »faule Äpfel« isoliert, erkennt der transformative Ansatz Gewalt als systematisches Problem an, das oft von Personen verübt wird, die selbst Isolation, Gewalt oder persönliche Brüche erlebt haben. (Dies bietet eine Erklärung, aber keine Entschuldigung für Gewalt.) Aber der Ausschluss eines Gewalttäters ändert nichts an den systemischen Wurzeln von Gewalt. Soziale Beziehungen sind ein Teil der Lösung: Beziehungen, die eine kritische Auseinandersetzung fordern und fördern.

Diane, die Protagonistin der zweiten Geschichte, hat ihre Freund*innen um Unterstützung gebeten und das Chrysalis Kollektiv gegründet. Sie und ihre Freund*innen formten ein Unterstützungsteam und riefen andere dazu auf, ein Accountability Team für Tom zu gründen. In diesem Prozess erkannte er die Gewalt an, die er Diane angetan hatte. Er begann, ihre Grenzen zu respektieren, lernte über Rape Culture (Vergewaltigungskultur), sexualisierte Gewalt und Privilegien und darüber, wie sich all dies in seinem Verhalten niederschlug. Sein Team half ihm letztlich dabei, den Schaden, den er Diane angetan hatte, wiedergutzumachen.

Andere Gruppen (Philly Stands Up, Support New York) haben ähnliche Modelle entwickelt, und auch in Deutschland gibt es sporadisch Versuche, »transformativ« mit Tätern zu arbeiten – mit gemischtem Erfolg. Der Initative Creative Interventions zufolge ist es wichtig, bei dieser Arbeit »flexibel genug« zu sein, um Vermeidungs- und Verdrängungsreaktionen als Teil des Prozesses zu begreifen, und »stark genug«, solchen Reaktionen standzuhalten – oder zu wissen, wann es Zeit ist, einen solchen Prozess abzubrechen und zu anderen Schutzstrategien zu greifen.

Verantwortung aller statt individualisierter Schuld

Um dies zu veranschaulichen beziehe ich mich auf ein Beispiel einer in Seattle ansässigen Gruppe von Frauen of Color namens Communities Against Rape and Abuse (CARA). (5) Marisol ist in der Gruppe Unido aktiv, einer US-weiten Chicanx Organisation. (6) Während einer Konferenz ihrer Organisation wird sie von einem anderen Mitglied namens Juan sexuell angegriffen. Als Marisol dies einem dritten Unido-Mitglied erzählt, erfährt sie, dass Juan in der Vergangenheit bereits mehrfach Frauen angegriffen hat – und das, obwohl andere Unido-Mitglieder ihn mit diesen Taten konfrontierten.

Schnell wurde klar, dass die Organisation nicht genug dafür getan hatte, eine sichere Umgebung ohne sexualisierte Gewalt zu schaffen. Die Frauen in der Organisation kamen zusammen und formulierten Forderungen: Juan muss Verantwortung übernehmen, und er muss von seinen Führungspositionen in Unido zurücktreten. Außerdem wurde Unido angehalten, ein Bildungsprogramm über sexualisierte Gewalt zu erstellen. Seither organisiert Unido Trainings über sexualisierte Gewalt und die Verflechtung mit ihren Kämpfen als Chicanos und Mexikaner*innen.

Auch in Berlin können wir diese Ansätze beobachten, wenn »Awareness Teams« oder »Safer Space Regeln« aufgestellt werden. LesMigras unterstreicht in ihrer Arbeit, dass zuerst verantwortungsbewusste Gemeinden gebildet werden müssen. Wenn wir daran arbeiten, ehrliche und stabile Beziehungen und einem Sinn für die Community mit gemeinsamen Werten und Visionen zu schaffen, sind wir für den Umgang mit Gewalt besser gerüstet – und müssen uns bei erlebter Gewalt nicht mehr auf den Staat verlassen.

Melanie Brazzell

Melanie Brazzell ist Mitbegründerin des Tranformative Justice Kollektivs Berlin und lebt inzwischen wieder in den USA.

Übersetzung: Nadija Samour

Anmerkungen:
1) LGBTQ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender & Queer.
2) In den USA beinhalten diese Gesetze Register für Sexualstraftäter, die die öffentliche Überwachung und Kontrolle von Menschen erlaubt, die »Sexualstraftaten« begangen haben (darunter fällt z.B. auch öffentliches Urinieren, eine Tat die oft von Obdachlosen begangen wird). Die Gesetze zum Schutze von Opfern von Menschenhandel beinhalten oft eine weitere Kriminalisierung von Sexarbeiter_innen.
3) Die Beispiele von Sun-Hi und Diane sind dem Sammelband »The Revolution Starts at Home: Confronting Intimate Partner Violence within Activist Communities« entnommen.
4) 2011 veröffentlichten sie hierzu eine Broschüre »Unterstützung geben«.
5) Das Tranformative Justice Kollektiv Berlin hat den Text übersetzt.
6) Chicanx ist eine Selbstbezeichnung mexikanischstämmiger US-Amerikaner*innen mit Verweis auf ihre indigenen Wurzeln.