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Drei Zimmer, Küche, pleite

Wie die Berliner Mietenbewegung trotz regelmäßiger Einbrüche immer größer wurde und warum sie nicht verschwinden wird

Von Ralf Hoffrogge

Eine Gruppe Menschen sitzt nachts unter Bierschirmen auf Holzbänken
Die zweite Welle des Wohnraumprotestes: Aktivist*innen von Kotti & Co beim Feierabend-Sekt 2012 in Berlin. Foto: Halina Wawzyniak/Flickr, CC BY 2.0

Vier Jahre ist es her: am 26. September 2021 stimmten über eine Million Menschen in der Hauptstadt für die Vergesellschaftung der Berliner Bestände der großen Wohnungskonzerne. Der Volksentscheid ist bis heute nicht umgesetzt – doch war er alles andere als eine Eintagsfliege. Seine Wurzeln liegen in einer Mietenbewegung, die fast zwei Jahrzehnte zurückreicht und noch einiges vor sich hat.  Nach der Finanzkrise von 2008 entdeckten globale Finanzakteure deutsche Wohnungsmärkte – eine Mietpreisexplosion begann, und mit ihr eine neue Mietenbewegung. Ihre Höhepunkte lagen zunächst in Hamburg, bevor in den 2010ern Berlin zum Epizentrum wurde. Hier lassen sich seit 2008 drei Wellen des Protests ausmachen, die von unterschiedlichen Themen und Initiativen dominiert wurden. Auf jedes Hoch der Bewegungen folgte eine Flaute, in der Proteste abnahmen – und danach auf höherem Niveau durchstarteten.

Ein neuer Akteur

Leitinitiative eines ersten Subzyklus von Berliner Mietenprotesten in den Jahren 2008 bis 2011 war die Bewegung »Mediaspree versenken!«. Sie wandte sich gegen ein Zubauen des Spreeufers mit Bürotürmen und organisierte dafür 2008 einen Bürgerentscheid im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Erstmals kamen Clubs, Mietenprotest und linksradikale Szene zusammen. Die Bewegung verteidigte Freiflächen, Sub- und Clubkultur; auch wurde leistbarer Wohnraum gefordert. Mit dem Bürgerentscheid verließ man die Nische linker Freiraumkämpfe; Stadtpolitik von unten wurde erstmals massentauglich.

Eine erste berlinweite Demo stand 2011 bereits unter dem Motto »Steigende Mieten stoppen!«. 50 Initiativen brachten etwa 6.000 Menschen auf die Straße. Zur Abgeordnetenhauswahl 2011 erschien mit dem mietenpolitischen Dossier »Ein Recht auf Stadt für alle« ein gesamtstädtischer Forderungskatalog. Diese erste Welle von Protest tat ihren Teil zur Abwahl des rot-roten Spar-Senats aus SPD und PDS. Die Koalition hatte die Probleme am Wohnungsmarkt stets geleugnet, SPD-Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer war berüchtigt für ihr Mantra, es gäbe in Berlin keine Wohnungsnot. Der nachfolgende schwarz-rote Senat musste umsteuern und schloss 2012 ein »Mietenbündnis« mit den landeseigenen Wohnungsbauunternehmen. Erstmals gab es Zielvorgaben für leistbare Mieten in öffentlichen Beständen; weitere Privatisierungen fanden nicht statt. Die Maßnahme war eine Trendwende, konnte jedoch die Wohnungsnot allenfalls lindern.

Kein klassischer Häuserkampf

In einem zweiten Subzyklus von 2012 bis 2015 wurden Wohnraumproteste endgültig dominant. Gruppen wie die Initiative »Palisaden-Panther«, »Kotti & Co« und andere bekämpften die Systemfehler des sozialen Wohnungsbaus. Sie kritisierten die damals über dem Marktpreis liegenden Mieten sowie drastische Mieterhöhungen nach dem Herausfallen aus der Sozialbindung. Dabei meldeten sich neue Bevölkerungsgruppen mit eigenen Aktionsformen: Eine »Karawane der Rollatoren« von Seniorinnen und Senioren aus den Sozialwohnungen in der Friedrichshainer Palisadenstraße besuchte das Abgeordnetenhaus. Die Palisaden-Panther erreichten eine Neuverhandlung ihrer Mieten und mussten nicht umziehen. Auch die Kampagne »Zwangsräumungen verhindern« erreichte ab 2012 Massenzulauf. Sie organisierte Sitzblockaden, die Vermieter*innen und Gerichte am Vollzug von Zwangsräumungen hinderten. Die Aktionen wurden so populär, dass schon ihre Androhung Vermieter*innen an den Verhandlungstisch zwang. 

Höhepunkt des Subzyklus waren zwei Volksentscheide: 2014 das »Nein« für investorengetriebene Baupläne auf dem Tempelhofer Feld, einem ehemaligen Flughafen mitten in der Stadt, und 2015 der »Mietenvolksentscheid«. Er forderte Reformen im sozialen Wohnungsbau und bei den landeseigenen Unternehmen. Der Entscheid wollte leistbaren Wohnraum da sichern, wo das Land als Eigentümer oder Fördergeber Einfluss hatte.

Die meisten Konflikte der zweiten Welle lenkten den Blick auf die Rolle von Bund, Senat und Bezirken bei der Vernichtung preiswerten Wohnraums. Obwohl linke Gruppen sehr aktiv waren, glichen die Protestbilder nicht mehr klassischen Häuserkämpfen. Die Boulevardpresse präsentierte Mieterinnen und Mieter als »kleine Leute« im Kampf gegen übermächtige Gegner*innen. Die freundliche Berichterstattung beflügelte, auch wenn die Selbstermächtigung der Mietenden ausgeblendet wurde. Seinen größten Erfolg hatte der zweite Subzyklus 2016 mit dem »Wohnraumversorgungsgesetz«, das im Gefolge des Mietenvolksentscheids erlassen wurde. Weil das vorgeschlagene Gesetz technische Mängel aufwies, lies sich die Initiative auf einen Kompromiss ein. Es gelang, den öffentlichen Vermieter*innen Sozialkriterien aufzudrücken – doch die angestrebte Demokratisierung des Staatseigentums scheiterte. Eine gewisse Ratlosigkeit war die Folge; es gab etwa eineinhalb Jahre keine Anläufe für berlinweite Organisierungen.

Vorkauf und Enteignung

Den Anfang eines dritten Subzyklus bildeten Kämpfe um das Vorkaufsrecht und gegen mietpreistreibende energetische Modernisierungen ab 2016. Die Nutzung eines Vorkaufsrechtes in Milieuschutzgebieten wurde 2016 im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg erstmals erprobt. Die Möglichkeit, beim Verkauf einem Investor das Haus wegzuschnappen, in dem man als Mieter*in wohnt, inspirierte Hausgemeinschaften zur Selbstorganisation. Da das Verfahren nie standardisiert wurde und es keine regulären Fördergelder gab, etablierte sich keine wirkliche Stellvertreterpolitik der Bezirksämter. Bis zuletzt musste jede Hausgemeinschaft selbst Druck machen und inspirierte andere; Protestwissen verbreitete sich.

Die Kämpfe zwangen andere Bezirke zur Übernahme des Verfahrens und endeten erst, als das Vorkaufsrecht im November 2021 vom Bundesverwaltungsgericht gekippt wurde. Insgesamt 90 Häuser gingen an gemeinwohlorientierte Träger über, für weitere 376 Häuser wurden Anwendungsvereinbarungen geschlossen, die zeitweisen Schutz vor Mieterhöhungen brachten. Parallel zu den Vorkaufskämpfen formierten sich 2016 Proteste gegen energetische Modernisierungen – eine damals lukrative Mieterhöhungsstrategie. Besonders aggressiv gingen Großvermieter*innen vor. In den Siedlungen des Konzerns »Deutsche Wohnen« bildeten sich Initiativen wie das »Bündnis Otto-Suhr-Siedlung und Umgebung« (BOSS&U), die bald ein landesweites Netzwerk formten.

Foto: Brumaire Verlag

Das Buch

Dieser Text ist ein redigierter Vorabdruck aus dem Buch »Das laute Berlin – Deutsche Wohnen & Co. enteignen und Die Wiederkehr der Vergesellschaftung« von Ralf Hoffrogge, das am 15. September im Brumaire Verlag erschienen ist. Es kostet 24 Euro.

Diese neuen Kämpfe fielen 2016 noch in eine Flaute, in der sich viele Berliner Initiativen neu orientierten. Eine stadtweite Mobilisierung lief erst Ende 2017 langsam an – damals entstanden zwei Bewegungen, die ab 2018 den Höhepunkt der nächsten Protestwelle bildeten. Zuerst ein »Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn«, das mit Großdemonstrationen im Frühjahr 2018 und 2019 Zehntausende auf die Straße brachte. Danach kam »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« (DWE) mit ihrem Vergesellschaftungs-Volksentscheid, der 2019 in die erste Unterschriftensammlung ging und 2021 eine Mehrheit fand. Hinzu kamen lokale Kämpfe mit hoher Strahlkraft, etwa der Kampf um die Rekommunalisierung mehrerer Blöcke der Karl-Marx-Allee, der Ende 2018 dem Deutsche-Wohnen-Konzern wieder entrissen wurden. Mietende hatten massenhaft Druck auf Senat und Bezirke gemacht, bestehende Vorkaufsrechte zu nutzen.

Wie schon 2011 und 2015 führte die Ballung von Protest auch in der dritten Welle zu Zugeständnissen: Der 2019 erlassene und im Folgejahr in Kraft getretene Berliner Mietendeckel brachte erstmals seit 1987 wieder Mietpreisobergrenzen für den privaten Wohnungsmarkt. Das Dogma vom freien Markt schien hinfällig – bis der Deckel in einem Verfassungsgerichtsurteil 2021 für nichtig erklärt wurde. Einige Monate später wurde auch das Vorkaufsrecht gerichtlich gekippt. Beide Maßnahmen hätten sich durch Gesetzesänderungen des Bundestages wiederherstellen lassen – doch fehlte dafür der bundesweite Druck. Die Dynamik in Berlin, wo 1,7 Millionen Haushalte zur Miete wohnen, war den Protesten in der Republik davongeeilt. Es gelang nicht, Druck auf Bundesebene auszuüben. Die Abstimmung für Enteignung markierte daher Höhepunkt und Ende des dritten Subzyklus. Es folgte erneut eine Phase der Ernüchterung und Umorientierung.

In den Jahren ab 2022 war eine Abnahme von Protesten zu beobachten, ähnlich wie nach dem Mietenvolksentscheid 2015. Auslöser der Flaute war die Corona-Pandemie, der russische Angriff auf die Ukraine und die darauf folgende Militarisierung, die andere Probleme aus den Schlagzeilen verdrängte. Wichtigster Knackpunkt war jedoch Politikverdrossenheit durch die Gerichtsurteile von 2021 und die Nichtumsetzung des Vergesellschaftungs-Volksentscheid. Plötzlich verdunstete das Gefühl, etwas verändern zu können.

Doch beruhte das Abebben auch auf Teilerfolgen. Energetische Modernisierungen fanden kaum noch statt, weil die Möglichkeit zur Umlage durch den Bundestag von 11 Prozent der Kosten auf 8 Prozent reduziert wurde, während die Baukosten stiegen. Zu den Erfolgen des dritten Subzyklus zählen auch Rekommunalisierungen durch Kauf, die Berlins städtischen Wohnungsbestand um mehrere zehntausend Wohnungen erweiterten. Eingeschränkt wurde zudem die Möglichkeit zur Aufteilung von Mietshäusern in Eigentumswohnungen – ein beliebtes Profitmodell. Eine Gesetzesänderung des Bundes ermöglichte es dem Land Berlin im Sommer 2021, die Aufteilungen bis zur Unmöglichkeit zu erschweren. Doch das Verbot ist bis 2025 befristet; bereits vollzogene Aufteilungen bleiben wirksam.

Jedes Abebben der Protestwellen zeigte eine Verlagerung der Konflikte an

Die Wohnungskrise ist somit nicht vorbei. Und seit Ende 2023 gibt es Anzeichen für eine erneute Ballung von Protesten in der Hauptstadt. Eine ganze Reihe von Siedlungen im Besitz großer Wohnkonzerne wehrte sich im Winter 2023/24 erfolgreich gegen falsche Heizkostenabrechnungen. Ausgehend von Bochum, gründete sich eine bundesweite Vernetzung der Mietenden des Vonovia-Konzerns. In Berlin-Pankow gab es parallel dazu Protest gegen auslaufende Sozialbindungen einst geförderter Wohnungen. Und die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen kündigte im September 2023 einen zweiten Volksentscheid an, diesmal mit einem bindenden Gesetz, dessen Erarbeitung mittlerweile weit fortgeschritten ist.

Die nächste Welle

Ob DWE die verstreuten Berliner Mietenproteste erneut hinter sich versammeln kann, ist noch offen. Ebenso offen ist, ob es der Mietenbewegung gelingt, bundesweit schlagkräftiger zu wirken. Doch es ist kaum anzunehmen, dass die Bewegung ihr Ende erreicht hat.

Der Blick auf die Berliner Protestwellen seit 2008 zeigt stattdessen, dass jedes Abebben eine Verlagerung der Konflikte anzeigte: 2008 ging es um Freiräume und Stadtplanung, ab 2011 um leistbaren Wohnraum, zunächst bei den geförderten Sozialbauten – ab 2016 um den privaten Markt. Lange wurde Rekommunalisierung gefordert, seit 2018 Enteignung. Eine Ausweitung und Radikalisierung der Proteste ist sichtbar. Diese verlief allerdings ohne organisatorische Kontinuität. Die Mehrheit der Initiativen bestand nur einige Jahre oder Monate und schlief dann ein; auch Bündnisse starteten mit großen Hoffnungen, überlebten aber selten ein oder zwei Großdemos. Kontinuität wurde allein durch den Druck der Krise erzeugt, bei der aus lokalen Mietkonflikten immer neue Proteste entstanden.

Erst mit Deutsche Wohnen & Co. enteignen änderte sich das Muster. Erstmals gab es eine Initiative, die die Flaute zwischen zwei Protestwellen nicht nur überlebte, sondern dabei Hunderte von Aktivist*innen band und mit Organizing-Methoden Starthilfe für neue Proteste leistete. Zugleich zeigte sich ein Phänomen, das bereits die ersten stadtpolitischen Proteste um 1970 kennzeichnete: Diese trugen ihre Impulse in Verbände und Parteien; die Mietervereine wurden damals erst zu Massenorganisationen. Ein ähnlicher Politisierungsschub ist heute zu beobachten. Die in den 2010er Jahren starre Trennung zwischen Basisprotest und Verbänden löst sich. So hat der 190.000 Mitglieder starke Berliner Mieterverein das Organizing der Mietenbewegung übernommen, die Linkspartei die Methode der Haustürgespräche. Auch wenn die nächste Welle hauptstädtischer Mietenproteste noch nicht angelaufen ist – die Voraussetzungen sind günstig.

Ralf Hoffrogge

ist Historiker, forscht zur Geschichte der Arbeiter*innenbewegung und ist aktiv bei Deutsche Wohnen & Co. enteignen in Berlin.