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Bewusst und koordiniert

In Gaza findet ein Völkermord statt, und der hat eine lange Vorgeschichte, so Sarit Michaeli von der israelischen NGO B’Tselem

Interview: Johannes Tesfai

Eine Trümmerlandschaft, dazwischen Menschen, über ihnen sinkt ein Paket mit Fallschirm zu Boden
Der Krieg hinterlässt nur Trümmer, die bisherigen Hilfslieferungen sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Belal Abu Amer

Die Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat im Juli einen Bericht vorgelegt, in dem sie als eine der ersten israelischen Organisationen der eigenen Regierung einen Genozid in Gaza vorwirft. Sarit Michaeli von der Organisation spricht im Interview darüber, warum B’Tselem den Vorwurf erhebt.

Israel werden seit langem Kriegsverbrechen vorgeworfen. Aber warum sprechen Sie erst jetzt von Völkermord?

Sarit Michaeli: Wir sind schon vor einiger Zeit zu diesem Schluss gekommen, nicht erst kürzlich. Aber dann ging es vor allem darum, wie wir zu dieser Debatte beitragen können. Als Organisation mit Sitz in Israel sind wir Teil der israelischen Zivilgesellschaft und beschäftigen palästinensische und israelische Mitarbeiter*innen. Wir haben israelische Staatsbürger*innen, die Palästinenser*innen sind, aber auch Mitarbeiter*innen aus dem Westjordanland, Ostjerusalem und dem Gazastreifen sowie einen syrischen Mitarbeiter von den Golanhöhen. Wir haben einige Monate lang gemeinsam mit dem Genozidforscher Shmuel Lederman recherchiert. Bei B’Tselem nehmen wir die Perspektive der Menschen ein, die hier leben, die vor Ort sind und den Genozid erleben.

Welche Handlungen haben Ihre Haltung verändert?

Zunächst einmal die Massentötungen von Zivilist*innen – wir haben gerade die Grenze von 60.000 getöteten Palästinenser*innen in Gaza überschritten. Es gibt eine ganze Reihe an Leugnungen und Verharmlosungen der Zahlen von israelischer Seite. Aber alle relevanten Institutionen, die diesen Krieg untersuchen, sind sich einig, dass die Zahlen des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza nicht übertrieben sind. Der zweite Punkt ist die langfristige Politik, zwei Millionen Zivilist*innen auszuhungern, wobei täglich Menschen kollabieren und an Unterernährung sterben, darunter auch Kinder. Der dritte Punkt ist die massive Zerstörung jeglicher ziviler Infrastruktur. Das ist nicht das Ergebnis militärischer Operationen. Wir sprechen hier von einem systematischen, gut dokumentierten Prozess, durch den die israelische Armee ganze Städte akribisch zerstört. Die Zwangsumsiedlung, die ethnische Säuberung großer Teile des Gazastreifens, spielt ebenfalls eine Rolle bei unserer Entscheidung. Es ist eine klar dokumentierte Politik der israelischen Regierung, alle Menschen aus dem Norden in den Süden zu treiben und sie vollständig aus dem Gazastreifen zu entfernen.

Wir kommen somit zu dem Schluss, dass die israelische Regierung bewusst und koordiniert Maßnahmen ergreift, um die palästinensische Gesellschaft im Gazastreifen zu zerstören. Dies ist die klassische Definition von Genozid. Abgesehen von der rechtlichen Definition von Genozid, die wir hier nicht liefern, ist unser Bericht eine Analyse dieses Verbrechens aus internationaler, historischer, soziologischer und politischer Sicht.

Wir wollten die Debatte dadurch ergänzen, dass wir einen Hintergrund liefern. In unserem Bericht geben wir eine Art historische Analyse der Bedingungen, die lange vor dem 7. Oktober in Israel und in unserer Region herrschten: die langjährige Entmenschlichung der Palästinenser*innen, die Trennung, die Ungleichheit, das Fehlen jeglicher Rechenschaftspflicht, wie beispielsweise die Straffreiheit für Israelis in den besetzten Gebieten. Diese Bedingungen machen diesen Genozid möglich, zu dem noch der Auslöser hinzukam, nämlich der 7. Oktober.

Der Bericht bietet uns auch die Gelegenheit, die Aktionen der Hamas gegen israelische Zivilist*innen am 7. Oktober aufzuzeigen, diesen schrecklichen Angriff gegen überwiegend israelische Zivilist*innen, bei dem so viele getötet wurden. Es kam zu schweren Fällen von geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt, darunter auch Vergewaltigungen. 250 Israelis wurden nach Gaza entführt. Dieser Auslöser veränderte die israelische Politik von der Kontrolle und Dominanz über die Palästinenser*innen hin zu deren Zerstörung und Auslöschung. Daraus ergibt sich eine Situation, mit der auch die Palästinenser*innen unter israelischer Kontrolle in anderen Teilen der Region konfrontiert sind. Dieselbe Regierung, die in Gaza einen Genozid begeht, hat auch das Ziel, alle Palästinenser*innen aus dem Westjordanland zu vertreiben.

Wir sprechen hier von einem systematischen, gut dokumentierten Prozess.

Genozid ist ein Begriff des Völkerrechts und eines der wichtigsten Elemente dabei ist die Absicht.

Wir haben kein Rechtsgutachten erstellt. Physicians for Human Rights Israel hat gerade ein Rechtsgutachten zur Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza vorgestellt. Eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zum Genozid wird wahrscheinlich erst 2027 vorliegen. Es gibt einen Widerspruch in der Art und Weise, wie das Völkerrecht in Bezug auf Genozide funktioniert. Die Völkermordkonvention verpflichtet dazu, einen Genozid so früh wie möglich und vor seinem Abschluss zu stoppen. Eine Perspektive, die sich ausschließlich auf das Erreichen einer rechtlichen Definition konzentriert, ist problematisch. In unserem Bericht liefern wir Zitate und Informationen, die zeigen, was israelische Politiker*innen in den Tagen und Monaten nach den schrecklichen Angriffen der Hamas gesagt haben. Menschen wie David Grossman oder der führende Genozidforscher Omer Bartov und Jeremy Ben Ami von der jüdisch-amerikanische Organisation J Street haben ihre Meinung geändert. Sie wurden nicht durch Argumente überzeugt, sondern durch die Realität vor Ort.

Foto: privat

Sarit Michaeli

ist seit 2004 bei B’Tselem tätig und leitet die Bereiche Fundraising und internationale Lobbyarbeit der Organisation. Dort arbeitet Michaeli mit internationalen Entscheidungsträger*innen, Diplomat*innen und der Zivilgesellschaft zusammen. B’Tselem dokumentiert seit 1989 Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Foto: privat

Die Armee und die Regierung sagen, dass dieser Krieg so geführt wird, weil sich die Hamas hinter Zivilist*innen versteckt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Hamas Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht und begangen hat. Tatsächlich wurden für die Anführer der Hamas, die die Architekten des 7. Oktobers sind, Haftbefehle vom Internationalen Strafgerichtshof ausgestellt. Sie sind jetzt alle tot. Aber das humanitäre Völkerrecht basiert nicht darauf, was der Gegner tut. Die Entscheidung, Strom und Wasser abzuschalten und keine Lebensmittel und humanitäre Hilfe zuzulassen, hat nichts mit der Hamas zu tun. Vor drei Monaten gab es bereits ein Geiselabkommen, Menschen wurden freigelassen, und es gab eine Kriegspause. Israel hat den Waffenstillstand einseitig gebrochen, um die israelische Regierung zu retten. Ich engagiere mich auch in der Protestbewegung der Geiselfamilien. Dort sagen es alle Familien der Geiseln, und die meisten Israelis denken es: Netanjahu hat im Wesentlichen jede Möglichkeit eines Geiselabkommens untergraben, um seine Regierung zu retten. Das ist jetzt meine persönliche Meinung, nicht die von B’Tselem: Die israelische Regierung hat sich konsequent geweigert, über den Tag danach, also nach einem Ende des Krieges, zu sprechen. Der Tag danach ist der beste Weg, um die Hamas in einem Waffenstillstand loszuwerden, bei dem sie ihre Führungsposition im Gazastreifen aufgibt.

Sie sagten bereits, dass in Ihrer Organisation Palästinenser*innen und Israelis sind. Welche Auswirkungen hatte der 7. Oktober auf B’Tselem?

Der 7. Oktober war für uns alle schockierend und wirklich schwierig. Israelis und Palästinenser*innen haben ihn unterschiedlich erlebt. Es war das erste Mal, dass Israelis, vor allem aus dem linken Spektrum, nicht nur bei B’Tselem, einen Vorfall erlebt haben, bei dem wir oder Menschen, die uns nahestehen, tatsächlich die Opfer waren. Viele Menschen, die wir kennen, wurden getötet oder entführt, darunter auch eines unserer ehemaligen Vorstandsmitglieder, Vivian Silver. Für die Palästinenser*innen, und auch hier handelt es sich um eine allgemeinere Aussage, war es das erste Mal, dass in gewisser Weise »ihre Seite« – und ich sage nicht, dass sie die Hamas unterstützen – für solche Gräueltaten verantwortlich war. Es gab eine große Verschiebung im Machtgleichgewicht zwischen Israelis und Palästinenser*innen, Juden*Jüdinnen und Araber*innen. Die Prinzipien, die wir alle teilen, nämlich Menschenrechte und Menschlichkeit, setzten sich in unserer Organisation aber durch. Nach einem schockierenden Start gelang es uns, die Ereignisse vor Ort zu recherchieren und zu dokumentieren und so viele Informationen wie möglich darüber zu liefern, womit die Menschen in Gaza konfrontiert sind. Wir hatten Feldforscher*innen in Gaza, die Dutzende Familienmitglieder verloren haben und nun evakuiert wurden, aber im Grunde genommen das durchgemacht haben, was alle anderen Bewohner*innen Gazas in den letzten zwei Jahren durchgemacht haben.

Wie schätzen Sie die Stimmung in Israel in Bezug auf Gaza ein?

Ich antworte jetzt als Privatperson, nicht im Namen von B’Tselem: Ich glaube, dass die Mehrheit der Israelis sich ein Ende des Krieges wünscht, aber in erster Linie aus Eigeninteresse, vor allem wegen der Geiseln und der Zahl der Todesopfer unter den Soldat*innen. Das Wohlergehen der Bewohner*innen Gazas spielt für die Mehrheit keine Rolle, wie Umfragen zeigen. Etwa 70 Prozent der Israelis unterstützen derzeit einen Geiselaustausch, obwohl sie wissen, dass dies das Ende des Krieges bedeuten würde. Aber die meisten Israelis, die den Krieg ablehnen, tun nicht das, was meiner Meinung nach das Einzige wäre, was ihn beenden könnte, wie etwa gewaltfreier ziviler Widerstand oder die Verweigerung des Reservedienstes in Gaza.

Was muss auf internationaler Ebene geschehen? Was sind Ihre Forderungen?

Wir müssen alle Mittel des Völkerrechts ausschöpfen, um Israels Genozid an den Palästinenser*innen zu stoppen. Derzeit stellen wir keine konkreteren Forderungen als die, die wir in unserem Bericht formulieren, und zwar aus zwei Gründen: Wir sind eine israelische Organisation, die aus Israelis und Palästinenser*innen besteht, die unter einem extremen, unterdrückenden, genozidalen Regime leben. Wir haben die Verantwortung, unsere Leute und unsere Organisation zu schützen, daher müssen wir vorsichtig sein mit dem, was wir sagen. Die Staats- und Regierungschefs der Welt brauchen B’Tselem nicht, um ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Sie wissen ganz genau, was zu tun ist. Sie müssen den Mut finden, Verantwortung zu übernehmen und alles zu tun, was nach internationalem Recht erlaubt ist, um den Genozid zu stoppen, den sie in Echtzeit mit ansehen.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

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