Gefangen auf der Ferieninsel
Die griechische Regierung setzt das Recht auf Asyl aus – Asylsuchende werden in Lagerhallen auf Kreta eingesperrt
Von Linda Peikert
Ein Musiker zupft auf seinem Laouto rhythmisch-markante Töne kretischer Volksmusik. Entlang der Küstenpromenade von Chania verkaufen kleine Läden massenhaft Kühlschrankmagneten, Sonnenbrillen oder Armbändchen; Tourist*innen aus aller Welt stolpern sich gegenseitig über die Füße. Ein Wirt versucht mit der Speisekarte in der Hand noch mehr Gäste in sein Restaurant zu locken. Nur einige Schritte weiter auf einem kleinen Hügel liegt Rosa Nera, die schwarze Rose. Es ist ein besetztes Haus mit Blick auf den Tourist*innenhotspot und das ruhige Meer. Hier trifft sich die linke Szene, während die Stadt für einige Monate von Tourist*innen übernommen wird. Der Himmel färbt sich in pastelligem Rosa, während in der Freiluftbar von Rosa Nera irgendwas zwischen Punk und elektronischer Musik aus den Lautsprechern dröhnt. Christina und Giorgos kommen hier häufig her; beide sind politisch aktiv. Sie sitzen an diesem Freitagabend auf Barhockern, der leichte Wind ist immer noch heiß. »Die Regierung versucht Geflüchtete als unseren großen Feind zu inszenieren«, sagt Giorgos und fügt schnell hinzu: »Der Migrationsminister erzählt Lügen, wenn er sagt, dass die ankommenden Geflüchteten illegal seien. Jeder hat das Recht, Asyl zu beantragen.«
Pushbacks und Internierungen
Während auf Kreta Millionen von Tourist*innen herzlich willkommen geheißen werden und verschiedene Sprachen durch die schmalen Gassen hallen, kommen an verlassenen Stränden im Süden der griechischen Insel immer mehr Boote aus Ostlibyen an – ein Anstieg auf Kreta von etwa 350 Prozent im Vergleich zum letzten Jahr.
Anfang Juli hat die rechtskonservative Mitsotakis-Regierung ein Maßnahmenpaket beschlossen: Es besagt, dass Menschen, die von Nordafrika auf Kreta ankommen, für drei Monate kein Recht auf ein Asylverfahren haben. Sie werden in geschlossenen Lagern inhaftiert und sollen ohne Registrierung so schnell wie möglich in das Herkunfts- oder Abreiseland zurückgeführt werden. Für diese Neuregelung erhielt Migrationsminister Thanos Plevris 177 Ja-Stimmen (von insgesamt 300).
»Ich glaube, dass diese neue Regelung reine Propaganda ist«, sagt Christina. Auch internationale Organisationen beklagen einen Bruch des Asylrechts und fordern die Aufhebung der Maßnahme. Christina spricht neben griechisch auch arabisch und unterstützt bereits seit Jahren Geflüchtete, die auf Kreta ankommen. Sie sieht nicht nur die juristischen Schwierigkeiten dieser neuen Regelung. Auch ganz praktisch würde sie nicht aufgehen: Die Abschiebeflüge wären viel zu teuer, meint sie. Außerdem müsse man sich die Zustände in Libyen mal genauer anschauen. Christina holt ihr Smartphone aus der Tasche und zeigt Bilder von desaströsen Unterkünften, dreckigen Trinkwasserkanistern und verschmutzten Sanitäranlagen. »Das sind die Verhältnisse, unter denen die Menschen in Libyen über Monate leben, bevor sie hier ankommen«, sagt die Aktivistin. »Und jetzt versuchen die griechischen Behörden das Asylrecht weiter einzuschränken, dabei ist es ohnehin sehr schwierig, dass die ankommenden Menschen hier zu ihrem Recht kommen.« Sie erzählt von den komplizierten Abläufen, um Asyl zu beantragen, erhebt schwere Vorwürfe gegen Anwält*innen, die Geflüchtete auf dem Papier verteidigen, aber eher auf das Geld als den Rechtserfolg ihrer Mandant*innen aus seien, und von immer mehr Menschen, die sie nach Hilfe fragen würden. Doch die Geflüchteten, die aktuell ankommen, kann man nur schwierig unterstützen. Sie werden meist erst in provisorischen, geschlossenen Lagern auf Kreta, dann in Abschiebehaft auf dem griechischen Festland untergebracht. Kontakt nach außen wird politisch unterbunden.
In Ostlibyen, wo die Boote abfahren, herrscht General Khalifa Haftar. Er wollte vom Osten her ganz Libyen erobern. Zwischen Libyens Regierungschef Dbaida und Haftar, der von der EU nicht offiziell anerkannt wird, bestehen weiterhin Spannungen. Haftar soll außerdem von Russland mit Waffen und Geld unterstützt werden. In Brüssel wird nun spekuliert, ob Putin versucht – ähnlich wie in Belarus – Migration als Druckmittel gegen die EU einzusetzen. Um die Zahl der auf Kreta ankommenden Menschen zu minimieren, geht die griechische Regierung in Gespräche mit dem umstrittenen Kriegsherrn Haftar und hat neben der Küstenwache auch noch zwei Marineschiffe im südlichen Mittelmeer vor Libyen stationiert. Offiziell sollen die Fregatten Präsenz zeigen und Menschen auf der Flucht abschrecken. Boote abfangen und die Flüchtenden zurück nach Libyen bringen, ist europäischen Behörden allerdings völkerrechtlich verboten.
»Ich glaube, dass diese neue Regelung reine Propaganda ist.« (Christina)
Der griechische Marineeinsatz könnte aber zusätzlich den Konflikt mit der offiziellen libyschen Regierung und der Türkei um Seegrenzen und Gasvorkommen zwischen Kreta und Libyen aufwärmen. Eine geopolitische Gemengelage, unter der vor allem die Menschen auf der Flucht leiden. Ein Großteil der Menschen, die sich über Ostlibyen auf den Weg in die EU machen, kommt laut Refugee Support Aegean aus dem Sudan. Dort herrscht seit über zwei Jahren ein blutiger Krieg mit vielen zivilen Opfern. Die von dort Geflüchteten hätten laut EU-Asylrecht gute Chancen auf Schutz, würde das Asylverfahren von den griechischen Behörden nicht temporär ausgesetzt.
Tourismus versus Menschenrechte
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Griechenland ausgerechnet während der Hochsaison zu solch drastischen Maßnahmen greift: Ein großer Teil der Tourismusbranche sieht Geflüchtete als Gefahr für ihren Wirtschaftszweig. Viele Hotel- oder Barbetreibende wollen darüber gar nicht reden. Ein Taxifahrer, er möchte anonym bleiben, ist dann doch bereit: »Wir sind vom Tourismus abhängig, unser Einkommen hängt davon ab. Wenn die Menschen sich hier nicht mehr sicher fühlen, dann bleiben sie weg.« Er redet sich in Rage von Verschwörungserzählungen über rassistische Narrative. »Ich will sie nicht hier haben. Wir wissen nicht, wer sie sind, warum sie hierherkommen«, sagt der Taxifahrer schließlich.
Das Erstaufnahmelager der touristischen Stadt Chania liegt etwas außerhalb in einer ehemaligen Messehalle. Dass sich hierher ein Tourist zufällig verirrt, ist unwahrscheinlich. Vor der heruntergekommenen Halle mit großen, blauen Toren sitzen ein paar Mitarbeitende der Küstenwache. Trotz unzähliger Presseanfragen und vieler Anrufe bei verschiedenen Behörden wird es Analyse und Kritik weder gestattet, mit der Küstenwache ein offizielles Interview zu führen, noch mit den Geflüchteten selbst zu sprechen. Zoe Georgoula steht neben dem offenen Spalt zum Inneren der Halle. Sie ist Mitglied von Nea Aristera, der neuen Linken, einer Partei, die es erst seit 2024 gibt, und sitzt als Abgeordnete in der Opposition im Rathaus von Chania. Zum Auffanglager kommt sie regelmäßig, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Auch Zoe darf mit den Geflüchteten in der Halle nicht sprechen. Sie sind in der Obhut der Küstenwache und gelten somit mehr oder weniger als verhaftet.
In der Halle ist es heiß und schmutzig. Einzelne Matratzen liegen auf dem Boden, für alle reichen sie allerdings nicht. Etwa 200 Männer sitzen auf dem Betonboden und gucken neugierig, wer in die Halle kommt. Manche winken, andere sehen einfach nur unglaublich verzweifelt aus. Es sind ein paar Chemie-Klos in einer Ecke angebracht, auch eine provisorische Dusche. Die Frauen und Kinder seien schon auf dem Festland, erzählt einer der Beamten Zoe. Und, dass ihre Arbeit hier ganz schön anstrengend sei. Die Küstenwache sei schlecht besetzt und deshalb hätten sie fast keinen Tag mehr frei. Der Mann in blauer Uniform wirkt frustriert.
»Der Staat ist vollkommen abwesend«, sagt Zoe. »Das zuständige Ministerium für Migration und Asyl spielt hier praktisch keine Rolle. Niemand kommt her, niemand übernimmt Verantwortung für die Menschen vor Ort.« Essen und Unterkunft stellt die Gemeinde Chania, die Küstenwache bewacht das Lager. Eigentlich sollen die Geflüchteten hier nur zwei Tage verbringen, bis sie weiter aufs Festland gebracht werden. In der ersten Julihälfte kamen allerdings so viele Boote an, dass viele der Männer länger im provisorischen Lager verharren mussten. Erst kürzlich gab es Fälle, bei denen manche seit zehn Tagen in den Lagerhallen eingesperrt waren. Denn raus dürfen sie hier nicht. »Es ist ein unmenschlicher Zustand, es werden nur die allernötigsten Bedürfnisse abgedeckt«, kommentiert Zoe. »Die Menschen auf Kreta hatten bisher einen menschlichen Umgang mit Geflüchteten – sie waren aktiv, haben geholfen, sie mit dem Nötigsten versorgt. Aber die Stimmung schlägt gerade um«, erzählt sie. Wie auch Giorgos und Christiana kritisiert sie die rechtskonservative Regierung, ihre Rhetorik gegenüber Geflüchteten und die Asylverfahrensaussetzung auf Kreta scharf. Die Resentiments in der Gesellschaft kämen von denen, die in der Öffentlichkeit Panik verbreiten. Und die Politik fische mit den jüngsten Maßnahmen gegen Geflüchtete am rechten Rand.
Die Recherche für diesen Text wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.