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|ak 717 | Geschichte

Die Schönheit der Devianz

Vor 80 Jahren wurde Marsha P. Johnson geboren, eine Pionierin für die Rechte von trans Personen of Color – jetzt gibt es eine Biografie über ihr Leben

Von Isabella Caldart

Nahaufnahme von Marsha P. Johnson. Sie lacht in die Kamera. Sie trägt roten, glänzenden Lippenstift und Rouge, sowie Lidschatten in Rosetönen. In den glänzenden lockigen Haaren hat sie Blumen gesteckt. Etwas Schleierkraut ragt über die Augenpartie, fast wie ein echter Schleier. Um den Hals trägt sie mehrere goldene Bänder, die an Schleifenband von Geschenken erinnern. Sie trägt eine pinke Satinbluse mit Carmenausschnitt und Perlenohrringe. Im Hintergrund ist ein Regal zu sehen, darauf ein halbgefülltes kristall Stilglas und eine Evian-Wasserflasche.
Warf Marsha P. Johnson den ersten Stein bei den Stonewall-Protesten oder war sie vielleicht nicht mal zugegen? Die neue Biografie geht auf Spurensuche. Foto: gemeinfrei

Jahrzehntelang war sie nahezu in Vergessenheit geraten, inzwischen sind sie und ihr Vermächtnis so bekannt, dass die erste Biografie über ihr Leben nur ihren Vornamen trägt: Marsha. Marsha, das ist Marsha P. Johnson, die zu den wichtigsten Persönlichkeiten der LGBTQ-Geschichte sowie der Geschichte New York Citys im 20. Jahrhundert gehört. Seit einiger Zeit gibt es eine regelrechte Marsha-Renaissance: Der queeren Ikone wurde vor fünf Jahren anlässlich des Tages, der ihr 75. Geburtstag gewesen wäre, ein öffentlicher Park in Williamsburg, Brooklyn, gewidmet, der seitdem offiziell Marsha P. Johnson State Park heißt. Ihr Gesicht ziert Wandgemälde und T-Shirts, auf Netflix gibt es einen Dokumentarfilm über sie, auf TikTok wird ihre Bedeutung für die queere Befreiung betont.
 
Dennoch existierten bisher viele Ungereimtheiten und Unwissen über Marsha P. Johnson. Um mit diesen Mythen aufzuräumen und Marsha P. Johnson die Ehre zukommen zu lassen, die ihr gebührt, hat die US-amerikanische trans Aktivistin, Filmemacherin und Autorin Tourmaline endlich die erste umfassende Biografie über sie verfasst.
 
Geboren wurde Marsha P. Johnson am 24. August 1945 in ein Schwarzes Arbeiter*innenklasseviertel in Elizabeth, New Jersey. In dieser stark segregierten Stadt erlebte sie in ihrer Kindheit und Jugend mehrere Aufstände der Schwarzen Bevölkerung gegen rassistische Diskriminierung und tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Prägungen, die sie mitnahm, als sie im Alter von 17 Jahren nach New York City zog, wo sie zunächst als Kellnerin und Sex Workerin am Times Square arbeitete. Der Times Square ist heute für seine haushohen Neonreklamen und die vielen Tourist*innen bekannt. Bis in die 1990er-Jahre hinein aber galt er als Ort der Subkultur, Prostitution und Drogen, der vor allem von Menschen aufgesucht wurde, die die Dominanzgesellschaft nicht akzeptierte. In dieser Szene am Times Square legte sie ihren männlichen Vornamen ab und wurde von nun an Marsha P. genannt – wobei das P vermutlich für »Pay it no mind« (Kümmere dich nicht drum) stand.
 
Auch wenn Marsha als trans Frau in New York City mehr Freiheiten hatte als in New Jersey, war die Metropole in den 1960ern kein sicherer Ort für queere Personen. Ja, es existierten Kneipen für LGBTQ-Klientel; trans Frauen wurde der Zutritt allerdings öfter verwehrt. Die Bars unterstanden der Mafia, weswegen Razzien der NYPD zumeist mit informeller Vorwarnung durchgeführt wurden; zugleich aber wurden Inhaber*innen wie auch Gäste von der Mafia erpresst. In New York City gab es außerdem damals eine Regel, laut der man mindestens drei Kleidungsstücke, die eindeutig dem Geburtsgeschlecht zuordbar waren, tragen musste. Die Folge dessen war eine ständige Belästigung von queeren Menschen durch die Polizei. Offiziell abgeschafft wurde diese »Three Articles Rule« übrigens erst im Jahr 2020.
 
Aus diesen zahlreichen Repressionen und einer nicht vorher angekündigten Polizeirazzia in der Bar Stonewall Inn in Greenwich Village, Manhattan, entsprang am 28. Juni 1969 der Aufstand, der später als Christopher Street Day in die Geschichte eingehen sollte. Um Marshas Rolle bei den Stonewall Riots wurde viel spekuliert – warf sie den ersten Stein? Oder war sie am Ende gar nicht anwesend? Tourmaline stellt eindeutig fest, dass Marsha eine tragende Rolle bei den Riots spielte und »unerlässlich für die Mobilisierung der Bewegung« war. Dass sich Marsha im Verlauf ihres Lebens selbst in Widersprüche über diesen Abend verstrickte, führt Tourmaline auf die vielen Traumata zurück, die Marsha als arme Schwarze trans Frau zu Zeiten von massiver Diskriminierung und später auch von HIV erleben musste und die Erinnerungslücken zur Folge hatten.
 
Ihre schlimmen Erfahrungen verwandelte Marsha aber auch in Positives: 1970 gründete sie gemeinsam mit Sylvia Rivera, einer langjährigen Freundin und weiteren trans Ikone jener Zeit, die Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR), um queeren Jugendlichen, die auf der Straße lebten, ein Dach über dem Kopf zu verschaffen und zugleich gegen die transfeindliche Diskriminierung von einigen Schwulen innerhalb der queeren Bewegung zu kämpfen. Auch nach dem Ende von STAR 1973 setzte sich Marsha unermüdlich für mehr Rechte für sie und ihre Community ein, sogar zu Zeiten, in denen sie teilweise selbst obdachlos war.

Bei all dem Aktivismus darf eine weitere Facette ihrer Persönlichkeit nicht vergessen werden: Marsha P. Johnson war auch eine leidenschaftliche und populäre Performancekünstlerin. Sie liebte es, sich mit auffälligen Kleidern und Blumen zu schmücken und die Menschen in ihrem Umfeld zu entertainen. Sie verkörperte, wie Tourmaline es formuliert, »die Schönheit der Devianz«. Am 6. Juli 1992 wurde sie tot im Hudson River gefunden; erst zehn Jahre später wurde die Todesursache offiziell von »Suizid« auf »unbestimmt« geändert. Marshas Geist aber lebt weiter – nicht zuletzt jeden Sommer seit den Stonewall Riots im Jahr 1969, wenn überall auf der Welt der Christopher Street Day gefeiert wird.

Isabella Caldart

ist freie Journalistin und Literaturvermittlerin. Zuletzt erschien von ihr »Nirvana. 100 Seiten« im Reclam Verlag.

Tourmaline: Marsha. The Joy and Defiance of Marsha P. Johnson, Tiny Reparations Books, 320 Seiten, 25,99 EUR.

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