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|ak 717 | Alltag |Reihe: Motherhoods

Sozialbetrug ist nicht das Problem

Von Jacinta Nandi

Nicht Sozialbetrug ist das Problem, sondern der Glaube, Armut sei selbstverschuldet, sagt unsere Kolumnistin. Foto: www.elbpresse.de / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Das macht mich so wütend!«, sagt meine Verwandte aus UK. Sie hatte kein einfaches Leben, keine einfache Kindheit. Ihre Eltern starben früh, aber schon davor hatte sie in staatlicher Obhut gelebt, zu ihrer eigenen Sicherheit. Jahre später nahm eine andere Verwandte sie bei sich auf, adoptierte sie sogar. Dann starb auch diese an Krebs, und meine Verwandte kam zurück ins Pflegesystem, aus dem sie mit 18 Jahren entlassen wurde. Ohne Netz, ohne Unterstützung, ganz auf sich allein gestellt – eine Wohnung, aber keine Hilfe. Wie hätte sie studieren sollen? Oder eine Ausbildung machen? Stattdessen heiratete sie einen gewalttätigen Mann. Heute lebt sie allein, mit körperlichen und mentalen Beeinträchtigungen. Manchmal machen wir gemeinsam Witze darüber, dass ihr Leben wie aus einem alten Country-Song klingt. 

Meine Verwandte hat immer versucht, sich über Wasser zu halten, hat gearbeitet, oft in prekären Jobs. Wer sich in einem klassischen Angestelltenverhältnis befindet, mit flexiblen Chefs und Urlaubsanträgen, weiß manchmal gar nicht: Das Problem an solchen Jobs ist nicht nur die schlechte Bezahlung oder die Überforderung. Es ist die permanente Entwürdigung. Wer in prekären Jobs steckt, hat oft einen Chef, der mobbt, beleidigt, bestraft. Ich weiß nicht warum. Einfach, weil er es kann? Oder wird er auch gemobbt von seinem Chef? Ich weiß es nicht. Aber für Menschen mit körperlichen oder psychischen Belastungen ist Arbeit in diesen Jobs mit Arschloch-Chefs besonders zerstörerisch. 

»Das macht mich so wütend!«, sagt meine Verwandte, die sich als links versteht, Jeremy Corbyn gewählt hat, politisch informiert ist. »Diese Sozialbetrüger! Die klauen unser Geld – das ist nicht ihr Geld, das ist unser Geld! Wegen denen werden Menschen wie ich verachtet. Ich hasse das! Gibt’s das auch bei euch in Deutschland?«

Ich schaue verlegen zu Boden. Ich mag meine Verwandte sehr. Ich respektiere sie. Und ich will ihr nicht widersprechen, sie ist zwei Jahre älter als ich (ein Teil von mir kann niemanden mehr respektieren als eine Verwandte, die zwei Jahre älter ist). Ich denke oft: Wenn sie mein Leben gehabt hätte, hätte sie mehr daraus gemacht als ich. Wir haben früher zusammen Deutsch geübt, und obwohl man so tat, als sei ich ein Sprachgenie, war sie genauso talentiert. 

Ich sollte ihr widersprechen, sollte ihr direkt ins Gesicht sagen: Was redest du für Müll? Stattdessen sage ich diplomatisch: »Weißt du, wenn diese Betrüger*innen wirklich so talentiert sind im Tricksen – warum machen sie dann nicht große Betrügereien? Mit Teppichläden oder Fake-Hotels in New York, wie Anna Delvey? Warum geht’s bei denen immer nur um 37 Pfund im Monat?« Sie schaut mich an. Schweigt. Und sagt dann: »Du glaubst also, Sozialbetrug ist kein echtes Problem?« »Ach«, sage ich. »Ich glaube, die meisten Fälle sind Kleinstsummen, die von Fehlern kommen, warum sind die Formulare so kompliziert, wenn man keine Fehler machen darf? Und ich glaube, dass die Obsession, mit der man angebliche Sozialbetrüger jagt, nur einem Zweck dient: Die Armen verächtlich machen, damit wir den Reichen brav dienen.«

Was mich wütend macht, ist nicht meine Verwandte. Es ist, wenn Menschen wie Bärbel Bas sich hinstellen und Dinge sagen, von denen sie wissen, dass sie nicht stimmen. Sie weiß, dass das Bürgergeld nicht reichen würde, um ihren Lieblingshund satt zu kriegen, geschweige denn gut zu leben. Sie weiß, dass keine so gut in Bürgergeldbetrug ist, dass sie mit Perlenkette und Austernteller im Seidenkleid am Strand sitzen und sich totlachen kann. Sie weiß, dass es Eltern gibt, die hungrig ins Bett gehen, damit ihre Kinder satt werden, dass Menschen nicht mehr teilhaben können an unserer Gesellschaft, weil das Geld so knapp ist. 

Der größte Betrug bei dieser Sache ist nicht »Sozialbetrug«. Der größte Betrug – der größte Betrug unseres Zeitalters eigentlich – ist der Glaube, dass Armut selbst verschuldet sei. Die Armen werden zu Sündenböcken gemacht. Und je schlechter es der sogenannten Mitte geht, desto mehr braucht sie jemanden, auf den sie zeigen kann. Die Reichen wissen das. 

Deutschland und Großbritannien können es sich leisten, für Menschen, deren Lebensgeschichten Country-Songs ähneln, zu bezahlen. Sie können es sich auch leisten, für alle zu bezahlen, die nicht genug zum Leben haben, PUNKT. Und wir sollten den Betrüger*innen wie Bas, die uns einreden, diese Menschen würden uns etwas wegnehmen, kein Gehör mehr schenken.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Kürzlich erschien ihr Roman »Single Mom Supper Club« bei Rowohlt.

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