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Ein Balanceakt

In einer Zeremonie legten am 11. Juli einige PKK-Kämpfer*innen symbolisch ihre Waffen nieder – ob es nun seitens der Türkei wirklich zum erhofften Friedensprozess kommt, ist unklar

Von Jakob Helfrich

Man sieht eine Feuerschale mit Gewehren und Menschen, die ihre Gewehre dort hineintun.
Ob dieser Schritt zum Frieden führt? Foto: ANF/Roj News

Beinahe senkrecht stechen die Berge dort aus dem Boden, wo die Jasana-Höhle liegt. Die südlichen Ausläufer des Zagros-Gebirges, nordwestlich der Großstadt Suleimaniya, sind am vergangenen Freitag nicht zum ersten Mal Schauplatz historischer Ereignisse in der Geschichte kurdischer Aufstände geworden. Wo am 11. Juli PKK-Kämpfer*innen symbolisch ihre Waffen niederlegten und verbrannten, suchten schon vor über 100 Jahren Aufständische Schutz vor Bombardierungen oder druckten erste revolutionäre Zeitungen in kurdischer Sprache.

Vor den Augen kurdischer und türkischer Politiker*innen sowie Vertreter*innen der Zivilgesellschaft verbrannten dort also 30 Kämpfer*innen ihre Waffen und erklärten damit, einen weiteren Schritt im Prozess zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage leisten zu wollen.

Mit dem Schritt der Gruppe für Frieden und eine demokratische Gesellschaft, wie sie ihr Statement unterschrieben haben, hat die PKK einen Meilenstein gelegt und die Tür zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage weit aufgestoßen. Nicht nur hat sie die türkische Regierung unter Zugzwang gestellt, in dem seit Oktober laufenden Prozess endlich ähnlich weitgehende Schritte zu gehen, sondern auch der eigenen Anhänger*innenschaft klargemacht, welchen Weg sie in kommender Zeit einschlagen will.

Die rund 400 geladenen Gäste der Zeremonie verfolgten, wie das etwas mehr als eine Seite lange Statement von hochrangigen und langjährigen Kadern der PKK auf Türkisch und Kurdisch vorgetragen wurde. Vor Anhänger*innen und Gegner*innen erklärten sie, diesen Schritt zu gehen, um »den Kampf für Freiheit, Demokratie und Sozialismus mit Mitteln der legalen und demokratischen Politik« führen zu können.

Kritiker*innen zuvorkommend unterstrichen sie zudem, dass dies nicht das Ende eines aufopferungsvollen Kampfes, sondern der Eintritt in eine neue Phase bedeute, die selbst überzeugenden Kampf benötige. Dieser werde in Zukunft aber ohne Waffen geführt werden – wenn dafür die nötigen rechtlichen Grundlagen gelegt würden, fügte Besê Hozat hinzu, die als Ko-Vorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) durch die Zeremonie führte. Zweifellos war dies vor allem an die Vertreter*innen des türkischen Staates gerichtet, die als Parteivertreter*innen oder Presse ebenfalls an der Zeremonie teilnahmen.

Kaum Zugeständnisse der Türkei

Es ist ein schwieriger Balanceakt, den die kurdische Bewegung mit dieser Zeremonie auf eine neue Stufe hebt – von dem sie aber in gewohnter Manier fest überzeugt zu sein scheint. Die Waffen hätten sich in ein Hindernis verwandelt, führte Besê Hozat nach der Zeremonie in einem Interview mit PKK-nahen Medien aus. Man sei gewillt, an der legalen Politik in Nordkurdistan und der Türkei teilzunehmen und diese voranzutreiben.

Ob die Türkei dies zulassen wird, ist indes noch unklar. Als erwartbar, aber dennoch enttäuschend wurde von Beobachter*innen Erdoğans Statement am Samstag, mit dem er sich einen Tag nach der Zeremonie zu Wort meldete, bezeichnet. Die angekündigte parlamentarische Kommission zur Beilegung des Konfliktes ist das absolute Minimum, das seit Wochen von der türkischen Regierung gefordert wird, um den Prozess voranzubringen. Aufhorchen ließ allein, dass Erdoğan eingestand, dass auch der türkische Staat in der Vergangenheit Fehler gemacht habe. Die Geheimdienstmorde und Folterungen in Gefängnissen als Fehler zu bezeichnen, war bislang von keinem türkischen Präsidenten zu hören gewesen. Kritische Töne zum Handeln der eigenen Regierung blieben aber aus, und an dem schon zuvor kritisierten Framing der »terrorfreien Türkei«, unter dem AKP und MHP den Prozess bislang führen, will Erdoğan offenbar nicht rütteln. 

Die Waffen hätten sich in ein Hindernis verwandelt, führte Besê Hozat nach der Zeremonie in einem Interview mit PKK-nahen Medien aus.

Und trotz der fehlenden Zugeständnisse haben viele, die den Prozess beobachten, vor allem aus einem Grund Anlass zur Hoffnung, dass dieser tatsächlich erfolgreich sein könnte. »Die Türkei kann nicht anders« – diese Einschätzung hört man sowohl von Analyst*innen, Journalist*innen wie auch Aktivist*innen. Zu massiv seien die Veränderungen im Mittleren Osten seit dem 7. Oktober, der eine umfassende Neuordnung in der Region eingeleitet habe. Eine Einschätzung, die sowohl Vertreter*innen der kurdischen Bewegung als auch der türkischen Regierung äußern. Fast schon mit apokalyptischem Unterton spricht der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli seit Oktober immer wieder von einem »Ring aus Feuer«, der die Türkei einkreise und bedrohe. Auch andere Regierungsvertreter sowie kemalistische Oppositionelle stimmen in diese Einschätzung mit ein.

Meist unterschwellig, selten auch explizit ist damit wohl ein Szenario gemeint, in dem die Türkei über eher kurz als lang nach der historischen Schwächung und weitgehenden Stilllegung der sogenannten »Achse des Widerstands« unter Führung Irans als letzter verbleibender Konkurrent Israels in der Region in dessen Fadenkreuz geraten könnte. Die Konsequenz daraus? Die innere Verfasstheit stärken und den historischen Widerspruch der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung, die immerhin 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, zu beseitigen. Konkret bedeutet dies für das Land, das seit dem Ende des letzten Friedensprozesses 2015 zehn Jahren lang einen erklärten militärischen Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Bewegung führt, diesen zu überdenken und den Dialog mit den bisherigen Todfeinden zu führen. Während innerhalb der Regierung und Opposition seit Monaten faschistische Hardliner*innen gegen mögliche Zugeständnisse an die kurdische Bewegung mobil machen, scheint die kurdische Bewegung sich auf dieses Szenario schon lange vorbereitet zu haben.

Jahrelanger Abwehrkampf

Seit Jahren befindet sie sich vor allem in einem Abwehrkampf gegen die immer neuen Waffen der Türkei und die stückweisen Offensiven gegen die Guerillagebiete auf irakischem Staatsgebiet. Und auch trotz der jüngsten Errungenschaften, wie der Möglichkeit, selbst die fortgeschrittensten Drohnen der Türkei vom Himmel zu holen, ist klar, dass die Zeiten, in der die Guerilla ganze Städte und Regionen in Nordkurdischen befreien und kontrollieren konnte, lange vorbei sind. Zeitgleich befindet sich die zivile Politik in den kurdischen Gebieten in der Türkei seit dem letzten Friedensprozess 2013-15 in einer Lage, in der sie sich zwar weiterentwickelt, ihr Potenzial aber wegen weitreichender Repression kaum voll ausschöpfen, geschweige denn ausbauen kann.

Der Deal, mit der »Kurdenfrage« einen der grundlegenden Widersprüche der türkischen Republik zu beseitigen und im Gegenzug den demokratischen Freiraum in der Türkei auszuweiten, könnte also momentan tatsächlich im Interesse beider Seiten sein. Zugleich könnten auch andere oppositionelle Gruppen und Bewegungen in der Türkei von dieser Entwicklung profitieren. Auch diese leiden seit Jahren unter Praktiken und Gesetzgebungen, die die türkische Regierung vor allem gegen die verschiedenen Teile der kurdischen Bewegung einsetzt. Das zumindest scheint auch das Kalkül der linken DEM-Partei zu sein, die in den letzten Monaten als Vermittlerin zwischen PKK und türkischer Regierung fungierte. Einem Szenario, in dem ihre abgesetzten Bürgermeister*innen wieder eingesetzt werden, aber andere Zwangsverwaltungen von etwa CHP-Gemeinden aufrechterhalten werden, erteilte sie schon jetzt eine Absage.

Wie weit aber gerade die AKP bereit ist, Szenarien zuzulassen, bei denen sie das Ruder im Zuge des Prozesses ein Stück weit aus der Hand geben muss, lässt sich kaum abschätzen. Bislang klammert sie sich wie gewohnt an die Macht. Eine weitere Frage, die entscheidend sein dürfte: Inwiefern sich die Stimmung in der Türkei tatsächlich innerhalb der Gesellschaft – nach Jahren der Kriegspropaganda und Stimmungsmache gegen Kurd*innen – ändern kann.

Das ist eine Frage, die auch nach der Zeremonie unter den Anhänger*innen und Sympathisant*innen der PKK in Suleimaniya immer wieder zu hören ist. Unter vielen Exilant*innen, die einst wegen der politischen Repression aus der Türkei geflohen sind und sich in Suleimaniya zu einer kleinen eigenen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben, ist eine Rückkehr in die Türkei erst vorstellbar, wenn auch die Stimmung in der Gesellschaft sich geändert hat. Vergleiche zum Friedensprozess in Kolumbien, bei dem auf eine Eingliederung in die Politik Morde nichtstaatlicher Akteure folgten, liegen nahe und werden teilweise auch offen geäußert.

Dass der vergangene Freitag trotz dieser unklaren Zukunft historisch ist, ist dennoch klar. Die Überreste der Waffen, die wie ein Newroz-Feuer zum kurdischen Neujahr aufgetürmt in Flammen aufgingen, sollen künftig in der Jasana-Höhle ausgestellt werden.

Jakob Helfrich

ist freier Journalist und schreibt schwerpunktmäßig zum Mittleren Osten und den kurdischen Gebieten.