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So will es die Stadt Wien

Jedes Frühjahr werden die Schlafplätze für obdachlose Menschen in Österreichs Hauptstadt künstlich verknappt  – nun gibt es Proteste

Von Karl Winter

Karl-Marx-Hof in Wien, ein orange-gelbes Gebäude vor einem Rasen unter einem halb bewölkten Himmel
Wien galt mal als Vorbild des kommunalen Wohnungsbaus, diese goldenen (roten) Zeiten aber sind vorbei. Foto: C.Stadler/Wikimedia Commons / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Es ist 5:30 am Morgen, draußen dämmert es schon, an der Bürotür steht ein Klient der Wiener Wohnungslosenhilfe. Der Mann kann nicht schlafen. »Ich weiß nicht, wo ich hin soll«, sagt er. Grund für die schlaflose Nacht ist das Ende des sogenannten Winterpakets, eines Programms des Fonds Soziales Wien, der als Kostenträger über die Wintermonate (von 29. Oktober bis 29. April) rund 1.000 zusätzliche Schlafplätze für obdachlose Menschen bereitstellt. Wenn das Winterpaket endet, werden die meisten Notquartiere geschlossen, mit Anfang Mai verlieren dadurch jedes Jahr viele hundert Menschen ihren Schlafplatz. So auch der Mann, der an diesem frühen Morgen an die Bürotür eines Caritas-Obdachlosenheimes am Stadtrand von Wien klopft. Die Mitarbeiter*innen können ihm nicht helfen, sie können ihn nur an eine Beratungsstelle verweisen – in dem Wissen, dass die Beratungsstellen in diesen Tagen völlig überfordert sind. Wie soll eine Beratung aussehen, wenn jemand ein Bett braucht, aber die Stadt entscheidet, dass es nicht genug davon geben soll?

Wien galt mal als Vorbild des kommunalen Wohnungsbaus. In den 1920ern und frühen 1930ern baute die Sozialdemokratie rund 400 Gemeindebauten mit insgesamt 65.000 Wohnungen in denen 200.000 Arbeiter*innen Platz fanden. Die Mieten waren sehr preiswert, weil niemand damit Profit machte.

Die goldenen oder besser gesagt roten Zeiten des Wiener Wohnungsbaus sind vorbei. Heute treiben private Investor*innen auch in Wien die Mieten hoch, und eine verblasste, neoliberal gewendete Sozialdemokratie lässt es zu, dass 100.000 Wohnungen leer stehen, während für den Mann an der Bürotür kein Platz sein soll im Sommer. Im Jargon der Wiener Wohnungslosenhilfe nennt man den Mann einen »nicht anspruchsberechtigten Wohnungslosen«, also jemanden, der keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat.

Viele der Menschen, die »keinen Anspruch« auf Hilfe haben, kommen aus Osteuropa.

Wie hoch die Zahl der Menschen in Wien ist, die »keinen Anspruch« haben, was in Wahrheit bedeutet, dass man ihnen nichts geben will, ist unklar. Viele dieser Menschen kommen aus Osteuropa, aus Ländern, in denen auf den Abriss des Sozialismus Massenarbeitslosigkeit und Verelendung folgten. Aus Ländern, aus denen Kapital nach Österreich abfließt, weil es auch österreichische Banken und Konzerne sind, die vom Ausverkauf Osteuropas profitieren, bis heute.

Viele, die aus Osteuropa nach Wien kommen, arbeiten prekär, oft ohne Vertrag und damit auch ohne Absicherung. Und dann gibt es auch die, die keine Arbeit finden und betteln gehen. Hunderte von ihnen haben keine Bleibe und schlafen in Notquartieren. Sie werden von keiner städtischen Statistik erfasst, so informell wie ihr Arbeitsleben ist auch die Unterbringung mancher rumänischer, slowakischer, ungarischer, polnischer oder bulgarischer Migrant*innen. Wer keinen Arbeitsvertrag hat oder nicht genug verdient, bekommt in der Regel auch keinen Mietvertrag.

Für offene Notquartiere

Zwei Tage vor Ende des Winterpakets, das erst nach Protesten gegen Wohnungslosigkeit und mehreren Kältetoten im Jahr 2010 geschaffen wurde, protestieren Ende April zwei oder drei Dutzend Mitarbeiter*innen verschiedener Träger vor der Zentrale des Fonds Soziales Wien. Die Kernforderungen: Alle Notquartiere sollen offen bleiben. Außerdem geht es um bessere Arbeitsbedingungen in der Wohnungslosenhilfe. »Wir wollen nicht, dass jeden Sommer Kolleg*innen ihre Jobs verlieren, und wir wollen auch keine Kettenverträge!«, ruft ein Kollege ins Megaphon.

Kettenverträge, also eine Abfolge mehrerer befristeter Arbeitsverträge nacheinander mit einer Beschäftigten, sind in Österreich arbeitsrechtlich nicht erlaubt, im Sozialbereich aber gängig. Um zu verhindern, dass es Ärger mit dem Betriebsrat gibt, lässt die Caritas Mitarbeiter*innen in der Wohnungslosenhilfe zu Beginn des Arbeitsverhältnisses teils einvernehmliche Kündigungen unterschreiben. Wer nicht mitspielt, wird nicht eingestellt. Auch bei anderen Trägern, die mit der Caritas um die Aufträge der Stadt zum Betrieb von Winternotquartieren konkurrieren, ist das Praxis.

Die Bedingungen für das Führen von Arbeitskämpfen sind unter diesen Vorzeichen nicht die besten. Die Initiative Sozial Aber Nicht Blöd, ein Vernetzungsprojekt linker Kolleg*innen im Sozialbereich, versucht trotz der schwierigen Bedingungen, Kämpfe zu unterstützen und zu organisieren. Sozial Aber Nicht Blöd hat auch die Kundgebung vor dem Fonds Soziales Wien angemeldet. Daneben gibt es weitere Vernetzungen, unter anderem die Initiative Sommerpaket, die sich auf die Forderung konzentriert, dass die Winternotquartiere auch im Sommer offen bleiben.

Wenige Tage nach dem Ende des Winterpakets, es ist inzwischen ein ungewöhnlich heißer Mai in einem anderen Notquartier in Wien: Vor dem Büro, in dem Mitarbeiter*innen Zettel sortieren, stehen mehrere junge Menschen aus Bulgarien. Sie brauchen einen Schlafplatz, aber werden abgewiesen. Die Mitarbeiter*innen drücken ihnen noch ein Informationsblatt für die Sozial- und Rückkehrberatung der Caritas in die Hand, eine der zentralen Anlaufstellen für wohnungslose Menschen, die keinen österreichischen Pass haben. Doch auch die Beratungsstelle wird in diesen Tagen keine Schlafplätze für die Männer und Frauen finden können. Es gibt keinen Platz. Es soll keinen geben, so will es die Stadt Wien.

Karl Winter

ist freier Journalist.