»Man kann nicht auf den Klimawandel schießen, aber auf die Antifa«
Der Autor Richard Seymour erklärt, was die heutige Neue Rechte vom historischen Faschismus unterscheidet und warum sie so viel Zulauf erhält
Interview: Larissa Schober

Noch ist der Faschismus nicht zurück an der Macht, aber wir sind auf dem Weg dahin, argumentiert der nordirische Autor Richard Seymour. Da dieser in einer anderen Welt gedeihe als der historische Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, werde er anders aussehen. Wer seine Träger*innen sind, welche Bedürfnisse die Neue Rechte befriedigt und was Linke dagegen anzubieten haben, erklärt Seymour im Interview.
Kann man die rechten Bewegungen, die wir heute sehen und die teilweise an der Macht sind, schon als faschistisch bezeichnen?
Richard Seymour: Ich denke, wir müssen hier sehr, sehr vorsichtig sein. Was wir sehen, ist beginnender Faschismus. Historisch gesehen ist der Faschismus eine revolutionäre Bewegung der Rechten, die im Wesentlichen politische Gewalt einsetzt, um die Straßen zu kontrollieren, dann die Staatsmacht übernimmt und alle bürgerlichen und politischen Rechte zerschlägt. So weit sind wir noch nicht.
Aber auf dem Weg dahin?
Wir befinden uns in einer Periode, in der sich faschistische Bewegungen und Führungsfiguren herausbilden. Es gibt dabei eine gewisse Kontinuität, gewisse Aspekte der faschistischen Ideologie und Praxis, die nie wirklich verschwunden sind. Wir sehen, dass einige Aspekte der faschistischen Ideologie wieder aufleben, und wir sehen, dass sich gerade das faschistische Potenzial akkumuliert. Seit 1945 gab es definitiv keine bessere Zeit, um Faschist zu sein. Die neuen rechtsextremen Milieus sind ideale Biotope, in denen faschistische Ideen wachsen und sich entwickeln können. Wir sehen auch mehr und mehr faschistische Symbolik. Ein faschistisches Erbe ist heute keine Peinlichkeit mehr, sondern ein Alleinstellungsmerkmal. Eine Reihe von Persönlichkeiten zeigt den Hitlergruß, am bekanntesten ist Elon Musk. In Italien kokettieren Fratelli d’Italia ganz offen mit ihrem faschistischen Erbe. Und ein Teil dessen, was gerade passiert, ist, dass die Rechten sich daran aufgeilen. Sie trollen die Liberalen und die Linken und genießen die Empörung.

Richard Seymour
ist Schriftsteller, Journalist und Sozialist. Er ist Redakteur der Zeitschrift Salvage und schreibt u.a. für den Guardian. Von ihm erschien zuletzt »Disaster Nationalism – The Downfall of Liberal Civilization« bei Verso Books.
Foto: privat
Was meinen Sie damit?
Zum Repertoire des Trollens gehört, durch Ironie Mechanismen der psychologischen Äquivokation zu schaffen. Wir haben das in den Altright-Online-Foren gesehen. Dort wurden jahrelang rassistische, homophobe und antisemitische Witze gemacht, und es wurde ein Raum geschaffen, in dem diese Ideen, gerade weil sie nicht ernst genommen wurden, in den Mainstream diffundieren und später zu ernsthaften Optionen werden konnten. Diese psychologischen Mechanismen der Äquivokation schaffen also einen Raum, in dem der historische Faschismus durch seine Symbole und Gesten wieder salonfähig wird.
Jenseits des Symbolischen schickt sich Donald Trump in den USA allerdings gerade an, bürgerliche Rechte von Queers zur zerschlagen. Und während die Straßen noch nicht von der Neuen Rechten kontrolliert werden, so hat diese doch ein hohes Gewaltpotenzial.
Auf jeden Fall. Es kann durchaus sein, dass es nicht mehr lange dauert, bis wir mit einem neuen Faschismus konfrontiert sind. Es gibt bereits Milizen, es gab mehrere Pseudo-Aufstände: in den USA und Brasilien und das Reichsbürger-Komplott in Deutschland. Und wenn dieser neue Faschismus entsteht, wird er nicht wie historischer Faschismus aussehen. Es werden keine Braunhemden durch die Straßen marschieren. Der neue Faschismus wird sehr viel vernetzter, dezentraler und graswurzelartiger sein. In Ländern wie den USA, in denen viele Menschen schwer bewaffnet sind, kann man theoretisch über Nacht eine Miliz über Facebook zusammenstellen. In Ländern wie Indien, Brasilien und den Philippinen baut der neue Faschismus zudem auf einem Vermächtnis der Gewalt auf. Anti-muslimische Pogrome, der angebliche Kampf den Drogen und so weiter ermöglichen rechten Führungsfiguren, auf Traditionen von staatlicher und öffentlicher Gewalt zurückzugreifen, die Jahrzehnte zurückreichen, im Fall der Philippinen bis in die Zeit der Diktatur.
Katastrophen-Nationalismus und die halluzinatorische Katastrophe erschaffen einen Feind, gegen den Menschen zu den Waffen greifen können. Er schafft so ein Gefühl der Handlungsfähigkeit und der Wirksamkeit.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Neue Rechte von der Katastrophe besessen ist. Wieso ist das so und wieso sind Katastrophen für viele so attraktiv?
In gewisser Weise sind wir alle von der Katastrophe besessen, weil wir in einer Welt voller Katastrophen leben: Überschwemmungen, Waldbrände, Klimawandel, die Covid-19-Pandemie, Rezession, Krieg. Es ist nicht so, dass es nicht genug reale Katastrophen gäbe, aber die Rechte ist besessen von halluzinierten Katastrophen. Der Große Austausch, Völkermord an den Weißen usw. In Indien unter Premierminister Modi ist die Verschwörungstheorie weit verbreitet, dass junge muslimische Männer einen sogenannten Romeo-Dschihad führten, bei dem sie Hindu-Mädchen verführen und konvertieren, um die ethnische Struktur der Nation zu verändern. Das Gerede von der Gender-Ideologie ist allgegenwärtig. Viele dieser Panikmomente sind tatsächlich erotisch aufgeladen und haben einen sexuellen Bezug zu ihrem Gegenstand.
Dieser Besessenheit mit halluzinierten Katastrophen liegt zu Grunde, dass die realen Katastrophen und die Ursachen dieser Katastrophen viel schwieriger zu bewältigen sind. Nehmen wir als Beispiel die Waldbrände in Oregon im Sommer 2020. Klimawandelbedingt waren diese die heftigsten Brände seit Jahrzehnten. Die Menschen vor Ort begannen spontan, »die Antifa« für die Brände verantwortlich zu machen, die angeblich die Brände legte, weil sie hinter den weißen konservativen Christ*innen her sei. Das Narrativ vom »White Genocide« machte die Runde, und Menschen sahen sich bemächtigt, zu den Waffen zu greifen und Kontrollpunkte zu errichten. Sie wollten unter keinen Umständen ihre Viertel verlassen, selbst wenn sie ihr Leben damit in Gefahr brachten.
Ist vor allem der Klimawandel eine dieser realen Katastrophen, die, weil sie so groß sind, als kaum bewältigbar erscheinen?
Der Klimawandel ist schwierig und abstrakt. Natürlich gibt es konkrete Realitäten, die wir alle sehen können, aber das Konzept des Klimawandels an sich ist ähnlich abstrakt wie Kapitalismus. Beide sind reale Probleme, aber man kann sie schwer direkt greifen. Was ist also konkret und damit bewältigbar? Man kann den Kapitalismus nicht vor Gericht bringen, man kann nicht auf den Klimawandel schießen. Aber man kann auf die Antifa schießen und auf Black-Lives-Matter-Demonstrationen.
Mit anderen Worten: Katastrophen-Nationalismus und die halluzinatorische Katastrophe erschaffen einen Feind, gegen den Menschen zu den Waffen greifen können. Er schafft so ein Gefühl der Handlungsfähigkeit und der Wirksamkeit. Er lässt Menschen glauben, etwas Reales gegen ein Problem tun zu können, das sie sonst völlig überfordern würde.
So wie in Oregon?
Ja. Wenn wir wieder zurück nach Oregon schauen: Die Menschen in den von den Waldbränden betroffenen Regionen haben die Hölle durchgemacht: Rezession, steigende Selbstmordraten und Armut, Alkoholismus. Sie haben mit Sicherheit Feinde. Sie wissen nur nicht, wer sie sind, und sie wissen nicht, worin diese Feindschaft besteht. Dann kommen noch die Brände hinzu, es gibt keine verlässlichen Lokalmedien, die Menschen verlassen sich auf Soziale Medien und glauben Fake News.
Gleichzeitig sind diese Rachefantasien für sie zutiefst befriedigend. Sie ermöglichen ihnen, ihre Aggression zu kanalisieren. Eine rebellische, aufrührerische Aggression. Aber eine, die das System nicht wirklich in Frage stellt. Selbst in der Vorstellung der Qanon-Variante vom »Tag des Seils«, an dem alle Linken zusammengetrieben, ermordet oder nach Guantanamo geschickt werden sollen. In seiner Gewalttätigkeit wäre das ein radikaler Schritt, aber es würde nichts an dem System ändern, unter dem wir leben. Der neue Faschismus hat also ein Element dessen, was Wilhelm Reich die Rebellion des kleinen Mannes nannte.
Mit dem kleinen Mann sind aber nicht die Abgehängten gemeint. In vielen Diskursen über die extreme Rechte heißt es, es seien die Abgehängten, es ist die weiße Arbeiter*innenklasse, die diesen Ideen anhängt. Soweit ich das beurteilen kann, ist es nicht die Arbeiter*innenklasse, bei der diese Ideen auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Was die Anhänger*innen der Neuen Rechten eint, ist, dass sie eine Form des Niedergangs erlebt haben. Sie haben einen langsamen Klassenabstieg erlebt. Aber nicht zwangsweise aus der Arbeiter*innenklasse, sondern aus der Mittelschicht. Dieser Abstieg macht sie anfälliger für die Ideologie des ressentimentgeladenen Nationalismus.
Dennoch taucht diese Argumentation in linken Diskursen immer wieder auf. Simpel ausgedrückt: Wenn diese Leute anständige Jobs hätten, wenn sie sozial abgesichert wären, würden sie nicht für Trump stimmen. Was sagen Sie dazu?
Das ist schlicht falsch. Die Vorstellung, dass die Arbeiter*innenklasse für Trump stimmt, ist eine Illusion. Die meisten Abgehängten in den USA gehen nicht wählen. Jene die wählen, wählen historisch gesehen in der Regel die Demokraten. 2024 war das erstmals anders, es gibt also Verschiebungen. Aber das Hauptproblem ist der Einbruch der Wahlbeteiligung für die Demokraten. Und ich denke, das wird ein längerfristiges Problem sein.
Aber das Argument bleibt auch falsch, wenn man den Blick weitet. Schauen wir uns zusätzlich zu den USA Indien, die Philippinen und Brasilien an, alles Länder mit hohen Bevölkerungszahlen. Dort zeigen die Statistiken, dass rechte Bewegungen normalerweise mit Unterstützung in der etablierten Mittelschicht beginnen. Und von dort aus wachsen sie. Duterte erhielt am wenigsten Unterstützung im ärmsten Teil der Bevölkerung. Bolsonaros Unterstützung war stark in der etablierten Mittelschicht konzentriert. Schließlich muss man bedenken, was mit der Bourgeoisie passiert. Im Großen und Ganzen hat es die Kapitalist*innenklasse vorgezogen, beim Status quo zu bleiben und nicht die Neue Rechte zu wählen. Aber bedeutende Fraktionen und Minderheiten des Kapitals haben sich mit dieser verbündet. Offensichtlich haben wir das bei Trump im Jahr 2024 mit Elon Musk und Jeff Bezos gesehen.
Aber warum pochen so viele Linke auf diese Deutung, dass vor allem die Arbeiter*innenklasse und die Abgehängten Träger der Neuen Rechten seien?
Eine der Grundannahmen von linkem Denken ist, dass die Menschen letztendlich nicht schlecht sind, nur vielleicht auf falsche Weise ihre Interessen verfolgen. Diese Vorstellung hat eine lange Tradition und ist nicht falsch. Das Problem ist aber die Reduzierung auf ökonomische Interessen im engeren Sinne. Das ist eine falsche Vorstellung davon, was es bedeutet, Interessen in der Welt zu haben, und es geht auf ein Missverständnis zurück, das aus der liberalen politischen Ökonomie stammt. Diese nimmt an, dass wir die potenziell kriminellen Leidenschaften der Massen zähmen müssen. Und das geht am besten, indem man ihre Habgier fördert. Und wenn wir dieses Eigeninteresse, wie wir es neutral beschreiben, fördern, dann werden sie konformer und gemäßigter sein und sich an die Gesetze halten. Das ist die Idee dahinter.
Was wäre eine treffendere Konzeption von Interessen?
Die Linke kann in ihre eigene Geschichte schauen, um zu verstehen, dass das Interesse nicht auf den Geldbeutel reduziert werden kann. Marx entwarf eine sehr interessante Dialektik der Bedürfnisse, die meiner Meinung nach ein besseres Konzept ist als das der Interessen. Zum Beispiel die Idee, dass man mit dem Bedürfnis nach besseren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen anfängt. Und indem man sich mit seinen Kolleg*innen zusammentut, erreicht man das. Gleichzeitig entwickelt man aber auch ein Bedürfnis füreinander. Bürgerliche Ökonom*innen waren oft fassungslos, wenn Arbeiter*innen streikten, um ihre Gewerkschaft zu verteidigen, auch wenn sie das ihren Lohn kostete. Sie brauchen einander genauso, wie sie das Geld brauchen. Und das radikalste Ziel, das radikalste Bedürfnis für Marx ist das Bedürfnis nach Universalität – was im Grunde genommen Kommunismus ist.
Wenn wir uns anschauen, warum und wie die Menschen auf den Weg des Katastrophen-Nationalismus kommen, gibt es durchaus ein legitimes rationales Moment in dem, was sie tun. Der Klassenabstieg spielt eine Rolle. Aber: Es gibt keinen Zugang zu wirtschaftlicher Erfahrung außer durch die libidinöse Ökonomie. Mit anderen Worten, über die Emotionen. Diese müssen wir in unsere Analyse mit einbeziehen. Anstatt eine automatische Beziehung zwischen materieller Deprivation und einem bestimmten politischen Verhalten herzustellen, könnten wir so verstehen, dass materielle Entbehrungen durch bestimmte psychische und emotionale Erfahrungen und dann durch bestimmte Ideologien und historische Formationen in Bezug auf die Persönlichkeit vermittelt werden müssen, damit sich jemand der extremen Rechten anschließt. Es gibt eine Menge Leute, deren Leben jeden Tag vom Kapitalismus zerstört wird, und die sich nicht als Faschist*innen entpuppen.
Die Mittelschicht hat einen Niedergang erlebt. Sie hat etwas verloren oder droht, etwas zu verlieren. Neben realen Verlusten haben gerade weiße Männer aber auch Privilegien und die Vorherrschaft über andere verloren. Wie kann die Linke mit diesen realen, aber äußerst problematischen Verlustgefühlen umgehen? Wie kann der neue Faschismus bekämpft werden?
Historisch gesehen war eine linke Analyse stets, dass diese Privilegien falsch und eine Illusion sind. Die Idee des psychologischen Lohns von W.E.B Du Bois erklärt, wie gewöhnliche weiße Männer der Arbeiter*innenklasse im Süden der USA, die keinen Besitz hatten, trotzdem emotional an ein System gebunden waren, das sie ausbeutete. Am Ende lief es auf »Wenigstens bist du nicht schwarz« hinaus.
Unser Argument muss sein, und wir müssen das in der Praxis zeigen, dass man viel bessere und komplexere Freuden am Leben hat, wenn man nicht versucht, jemanden zu beherrschen. Dass der Sozialismus oder etwas Ähnliches viel schönere und ausgefeiltere Vergnügungen bietet. Aber wie durchbrechen wir die Anziehungskraft der kindlichen Vergnügungen, die wiederum die extreme Rechte bedient? Ich denke, dass die allgemeine Infantilisierung auf dem gesamten politischen Terrain ein großes Problem dafür darstellt.
Können Sie ein positives Beispiel nennen, wo das gut funktioniert hat?
Ich fand diesbezüglich die Kampagne von Bernie Sanders sehr interessant, die Massenbewegung, die sich um ihn herum entwickelt hat. Warum war die Leidenschaft so groß? Es hatte fast etwas von einer religiösen Erweckung. Und warum? Weil es nicht nur um Gesundheitsversorgung und all diese Dinge ging, die natürlich wichtig sind. Aber er hat den Menschen immer wieder gesagt: Wenn wir zusammenhalten, können wir uns gemeinsam auf das unwahrscheinliche Abenteuer einlassen, das Land von Grund auf zu verändern. Menschen wollen genau das: die Erfahrung, dass man etwas tun kann. Der neue Faschismus bietet nur eine Pseudo-Befriedigung dieses Bedürfnisses. Seine Bekämpfung von Symptomen und Sündenböcken führt zu einer immer weiter eskalierenden Gewaltspirale, der eine genozidale Logik zugrunde liegt. Spinnen zu töten hilft nicht gegen Arachnophobie. Die Linke kann etwas Besseres anbieten: Ein echtes Gefühl der Handlungsfähigkeit, ein echtes Gefühl des Aufbegehrens und schlussendlich die Beseitigung der Ursachen des Elends.