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|Thema in ak 685: Heißer Herbst

»Wir wollen, dass eine Million Haushalte ihre Energie­rechnungen nicht zahlen«

In Großbritannien explodieren die Energiepreise – Nellie Watson über die Kampagne Donʼt Pay UK, die zum Zahlungsboykott aufruft

Interview: Florian Kasiske

Drei junge Menschen halten an einem Stand an einer Straße Flyer hoch mit dem Slogan "Don't Pay" und "Don't Pay Energy Bills, Oct. 1"
Anwohner*innen in Bristol organisieren sich für den kollektiven Zahlungsboykott ihrer gnadenlos überteuerten Energiepreisrechnungen. Foto: Donʼt Pay Bristol / Twitter

Was hierzulande im Herbst erwartet wird, ist in Großbritannien für Hunderttausende schon Realität: Viele private Haushalte können ihre erhöhten Stromrechnungen nicht mehr bezahlen. Die Kampagne Donʼt Pay UK versucht, darauf kollektive und solidarische Antworten zu finden – mit großem Erfolg.

Wie ist die Energieversorgung in Großbritannien organisiert?

Nellie Watson: Der Energiemarkt in Großbritannien ist komplett privatisiert und unterteilt in Energiewiederverkäufer, die Strom und Gas an Kund*innen verkaufen und die großen Energieversorger wie British Gas. Die Energieversorgung läuft vor allem über Wind-, Wasser- und Atomkraft. Allerdings orientieren sich die Preise für alle Energien am Gaspreis. Auch Versorger, die nur Windstrom verkaufen, erhöhen also die Preise. Die Energiepreise werden insofern staatlich reguliert, als es mit Ogfem eine Aufsichtsbehörde gibt, deren einzige Aufgabe es ist, Preislimits festzulegen. Unter Liz Truss wurde nun eine neue Obergrenze von umgerechnet 2.900 Euro im Jahr für private Haushalte beschlossen. Aber das ist eine Mogelpackung.

Zum einen wird sie über die nächsten 20 Jahre durch allgemeine Steuern finanziert und zum anderen ist die Obergrenze immer noch so hoch, wie wir am Beginn unserer Kampagne dachten, dass sie sein würde. Noch immer geraten viele Menschen in Energiearmut. 80 Prozent der Haushalte zahlen ihre Energierechnungen monatlich. Die anderen haben Prepayment Meters (Vorauszahlungszähler) eingebaut. Ihr Strom wird erst freigeschaltet, nachdem sie bezahlt haben. Davon sind überwiegend Menschen mit sehr geringen Einkommen betroffen. Sie zahlen mehr als Haushalte mit regulären Verträgen. Das heißt, wer wenig Geld hat und keinen Vertrag bekommt, muss noch mehr für seinen Strom zahlen. Die großen Energieunternehmen sind die Gewinner der Krise. Sie haben unglaubliche Profite erwirtschaftet: Letztes Jahr eine Milliarde, dieses Jahr elf Milliarden. Das ist es, was die Energiepreise zum Steigen bringt.

Wie habt ihr eure Kampagne gestartet, und was hat euch zur Idee des Zahlungsboykotts gebracht?

Unsere Kerngruppe bestand zunächst nur aus sieben bis zehn Leuten. Wir haben dann bei einer großen Gewerkschaftsdemo 20.000 Flyer verteilt. Die Idee hinter der Kampagne war: Es war für alle absehbar, dass die Energiekosten explodieren und dass das massive soziale Verwerfungen mit sich bringen würde. Unser Vorbild war der Zahlungsboykott gegen die Poll Tax Anfang der 1990er Jahre, eine Pro-Kopf-Steuer, die unabhängig von Eigenheim- und Grundbesitz plötzlich alle Bürger*innen zahlen sollten. Seit den Poll-Tax-Protesten gab es keine Situation mehr, in der so viele Menschen vor dem gleichen Problem stehen. Wir rechnen damit, dass 70 Prozent der Bevölkerung von Energiearmut betroffen sein wird – das bedeutet, dass mehr als zehn Prozent eines Einkommens für Energiekostenpreise draufgeht.  

Was fordert ihr?

Wir haben drei Hauptforderungen: das Energiepreislimit auf das Niveau von April 2021 zurücksetzen, keine zwangsweise Installation von Prepayment Meters mehr, und niemand soll im Winter frieren müssen, alle müssen Zugang zu Energie haben. Dafür braucht es einen sozial gestaffelten Notfallstromtarif. Der soll über eine Besteuerung der Unternehmen finanziert werden, die fossile Energiequellen verwenden.  

Wenn sich eine Million Haushalte am Boykott beteiligen, wird es sehr schwer, gegen alle gerichtlich vorzugehen.

Nellie Watson

Wie funktioniert der Boykott?

Es gibt drei Möglichkeiten, wie man sich daran beteiligen kann: Leute können ihre Lastschriften stornieren. Das beinhaltet das Risiko, dass die Kreditwürdigkeit herabgesetzt wird. Eine andere Option ist, die Lastschrift zu stornieren und den Prozess eines Rückzahlungsplans zu starten. Das bedeutet, ein juristisches Verfahren mit Schuldenberatung zu beginnen, bei dem am Ende ein Plan steht, wie die nichtgezahlten Rechnungen bezahlt werden können. Je mehr Menschen sich dafür entscheiden, desto mehr Probleme bekommen die Energieunternehmen. Die dritte Option betrifft Leute mit Prepayment Meter. Sie sollen auf keinen Fall aufhören, für ihre Energie zu zahlen und sich stattdessen anders in die Kampagne einbringen. Für diese Option haben wir uns entschieden, weil es die Kritik gab, dass ausgerechnet die Menschen, die es am härtesten trifft, ansonsten nicht Teil der Boykottbewegung sein könnten.

Womit muss ich rechnen, wenn ich die Zahlung komplett verweigere?

Zunächst muss das Energieunternehmen Rechtsverfahren einleiten. Wenn du weiterhin nicht zahlst, kann es dazu kommen, dass du zivilrechtlich zur Zahlung verurteilt wirst. Das bleibt in deinen Akten und wirkt sich negativ auf die Kreditwürdigkeit aus. Aber wenn sich eine Million Haushalte am Boykott beteiligen, wird es sehr schwer, gegen alle gerichtlich vorzugehen. Die Gerichte arbeiten jetzt schon sehr, sehr langsam. Außerdem können Energieunternehmen einen Prepayment Meter bei dir installieren.

Nellie Watson

kommt aus Birmingham und ist seit zwei Monaten aktiv bei Donʼt Pay UK.

Was macht ihr, wenn ihr die eine Million erreicht?

Dann gehen wir direkt in den Streik. Aber ich denke, dass die Kampagne auch auf irgendeine Art berücksichtigen wird, was aktuelle Umfragen und Statistiken zeigen: dass mehr als eine Million Menschen nicht in der Lage sind, die Energiepreise zu zahlen. Die Frage ist: Wie erreichen wir all die Menschen, die nicht in der Lage sind zu zahlen? Wie kollektivieren wir diesen Moment? Deswegen gehen wir mit unserer Kampagne in Richtung Nachbarschaftsarbeit. Dabei geht es auch darum, Unterstützung zu organisieren für anstehende Prozesse und Rückzahlungspläne.

Wie wollt ihr es schaffen, dass sich eine Million Menschen am Zahlungsboykott beteiligen?

Ein zentrales Tool ist unsere Webseite. Dort können sich Leute unserem Boykottaufruf anschließen. Sie können Flyer bestellen, und sie können sich als Organizer*innen eintragen. Wer sich eingetragen hat, kann über die Webseite eine lokale WhatsApp-Gruppe erstellen und alle, die die gleiche Postleitzahl haben, bekommen automatisch einen Einladungslink geschickt. Die Arbeit der Nachbarschaftsgruppen besteht momentan vor allem in Haustürgesprächen und Infotischen, aber auch in Aktionen, die darauf abzielen, lokale Medienaufmerksamkeit zu gewinnen, zum Beispiel mit Demonstrationen oder Banner Drops. Bis jetzt haben sich 30.000 als Organizer*innen registriert. 10.000 sind in 340 WhatsApp-Nachbarschaftsgruppen organisiert. Wir haben über zwei Millionen Flyer unter die Leute gebracht. In den letzten drei bis vier Wochen waren wir in allen wichtigen Nachrichtensendungen. 75 Prozent der Menschen in UK haben laut Umfragen schon von unserer Kampagne gehört, und über 50 Prozent unterstützen sie.

Wie ist euer Verhältnis zu anderen linken Kampagnen wie etwa Enough is Enough?

Aus der Linken bekamen wir zuerst wenig Unterstützung, denn unsere Kampagne zielte vor allem darauf ab, Betroffene sprechen zu lassen und nicht Aktivist*innen. Viele waren misstrauisch, weil sie nicht wussten, wer dahintersteckt. Mittlerweile sind wir aber auch in der Linken generell akzeptiert.

Enough is Enough ist vor allem auf Arbeitskämpfe fokussiert und damit auf den industriellen Sektor und andere Bereiche mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Andere werden mit der Forderung nach höheren Löhnen nicht erreicht – zum Beispiel Rentner*innen oder Beschäftigte von Restaurants, die wegen der hohen Energierechnungen vor dem Bankrott stehen. Unsere Kampagne reicht über den Bereich der Arbeit hinaus. Donʼt Pay gibt uns die Möglichkeit, mit all den Menschen in Kontakt zu treten, die richtig angepisst sind über ihre Energierechnung. Darauf aufbauend lassen sich dann Diskussionen starten über Streiks, Vermieter*innen und über alle möglichen anderen Dinge, über die es gut ist, mit Leuten zu sprechen, die wir sonst nicht erreichen würden.

In den ersten beiden Monaten ging es nur um die Stromrechnungen. Wir haben noch nicht mal über das Klima geredet.

Ihr seid anfangs anonym aufgetreten und wolltet nicht klar als Linke erkennbar sein. Warum?

Der wichtigste strategische Grund war, dass wir die ganzen Streitigkeiten der Linken ignorieren und uns auf die Sache fokussieren wollten. In den ersten beiden Monaten ging es nur um die Stromrechnungen. Nicht um mehr. Wir haben noch nicht mal über das Klima geredet. Wir fingen erst an, über Klimapolitik zu sprechen, als wir unsere Forderungen präsentierten, die beinhalten, dass wir nicht für die Profite fossiler Energieversorger zahlen möchten. Und wir wussten, wir sind eine kleine Kampagne. Wenn wir eine Chance haben wollen, größer zu werden, müssen wir die Grenzen der linken Filterblase durchbrechen. Das ist uns auch gelungen, wir haben eine große organische Reichweite gewonnen.

Wie reagiert die radikale Rechte in UK auf die Krise?

Wir haben es mit unserer Kampagne geschafft, den Raum zu besetzen, der besetzt werden musste. Wenn wir es nicht mit unseren Forderungen gemacht hätten, hätte es sicherlich Antworten von Konservativen, Rechtsradikalen oder Verschwörungsideolog*innen gegeben. Und ich glaube, die etablierte Linke und die Gewerkschaften waren überfordert mit dieser Aufgabe. Ich bin froh darüber, dass wir das mit unserer Kampagne geschafft haben, denn es geht hier um eine dringende soziale Frage, die beantwortet werden muss. Jetzt sind wir auf diesem Terrain und haben breite Unterstützung.

Florian Kasiske

ist aktiv unter anderem bei St. Pauli selber machen und im Hamburger Netzwerk Recht auf Stadt.

Übersetzung: Florian Kasiske und Philipp Sack

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