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System gegen Menschen

Die Antirassistische Initiative Berlin hat den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus gegen Geflüchtete der letzten Jahre dokumentiert

Von Dokumentationstelle der ARI

80 Meter ist das Transparent lang, auf dem die Namen von Geflüchteten stehen, die seit 1993 eines unnatürlichen Todes gestorben sind. Foto: ARI Berlin

In der Nacht vom 17. Oktober 2018 betritt der Leiter der Mainzer Ausländerbehörde zusammen mit zehn bis zwölf Polizist*innen das Zimmer einer iranischen Kurdin im Krankenhaus. Mit der Behauptung, sie sei reisefähig, will er sie in ihr Erstaufnahmeland Kroatien abschieben. Die Reisefähigkeit wird allerdings vom Klinikpersonal bestritten. Die Frau ist schwanger und wird als Risikopatientin stationär behandelt.

Dennoch wird sie aus dem Bett gezwungen und mit einem Krankenwagen quer durch die Republik zum Flughafen Hannover transportiert, wo ihr Ehemann, der aus der Abschiebehaft Ingelheim bereits dorthin gebracht worden war, wartet. Beide weigern sich so entschieden gegen ihre »Rückführung«, dass der Pilot der gecharterten Maschine ihre Beförderung ablehnt. Der Ehemann muss zurück nach Ingelheim in Abschiebehaft, die Frau erhält von den Polizist*innen hundert Euro und wird sich selbst überlassen.

Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik zeichnet sich immer noch durch einen repressiven und ideologisch motivierten Umgang mit Geflüchteten aus. Seit der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993,  also seit 29 Jahren, sind es die altbekannten Konstanten: Schutzsuchende werden systematisch entrechtet, sie werden menschenunwürdig in Lagern untergebracht, müssen eine diskriminierende Behandlung über sich ergehen lassen, erleben die Verweigerung grundlegender Rechte und werden in Kriegs- und Krisengebiete abgeschoben.

Die Dimension dessen und welche fatalen Auswirkungen das für die einzelnen Betroffenen hat, verdeutlicht die 29. Auflage der Dokumentation »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«, herausgegeben von der Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI). Sie ist im August 2022 erschienen.

Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik zeichnet sich immer noch durch einen repressiven und ideologisch motivierten Umgang mit Geflüchteten aus.

Die Dokumentation ist eine chronologische Sammlung von Einzelschicksalen, in denen Geflüchtete durch menschenunwürdige Lebensbedingungen oder direkte und indirekte Gewalt durch gesellschaftlichen und behördlichen Rassismus zu Schaden gekommen sind.  In Deutschland und an seinen Grenzen werden Asylsuchende, abgelehnte Asylbewerber*innen, Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere und von Abschiebung Bedrohte traumatisiert, verletzt und getötet.

Dass die deutsche und europäische Erzählung von universellen Werten wie der Achtung der Menschenwürde und -rechte oder der Bewegungsfreiheit  ein Privileg für wenige ist, belegt nicht nur die tödliche Abwehr Geflüchteter an den Außengrenzen. Das äußert sich auch in den Gesetzen gegen den freien Aufenthalt von Geflüchteten und der inhumanen Durchsetzungspraxis von Abschiebungen.

Die Abschiebepolitik hat im Zuge der europäischen Grenzpolitik einen Selbstzweck. Durch die Brutalität während der Abschiebung und das Warten auf den Termin soll bei den Betroffenen Angst und Unsicherheit erzeugt und Abschreckung wirkungsvoll demonstriert werden. Die psychische Belastung von ohnehin schon traumatisierten Menschen schlägt durch die drohende Rückkehr in die Krisengebiete oder gefährlichen Orte in Panik um. Als ihnen einzig verbleibende Protestform reagieren viele der Betroffenen mit Hungerstreik oder mit Selbstverletzungen bis hin zu Suiziden.

Kommt es dennoch zu einer Abschiebung, traumatisiert dies die Betroffenen noch weiter. Denn bei Abschiebeflügen ist brutale Gewaltanwendung gängige Praxis, insbesondere wenn sich die Betroffenen gegen ihre Abschiebung wehren. Neben Ganzkörper-Fesselungs-Systemen (Body Cuffs) und Klebebändern greifen Beamt*innen zu brutalen Gewaltanwendungen. So versuchen die Polizist*innen von hinten mit dem Arm den Hals zuzudrücken oder die Genitalien zu quetschen. Die zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka ist eine weitere Methode.

Kriminell wird es schließlich, wenn Abschiebungen auf fehlender rechtlicher Grundlage erfolgen, wie etwa bei schutzbedürftigen jungen Afghan*innen in einem Fall aus dem August 2018. Bei einer Sammelabschiebung nach Afghanistan ist der 21-jährige Karimullah S. mit im Flugzeug. Er ist labil und suizidal und gerät in Kabul erneut in Todesangst, denn seine Familie wurde von den Taliban angegriffen, schwer verletzt und seine Freunde getötet. Unter diesen Umständen hätte er nicht abgeschoben werden dürfen.

Verzweiflungstaten gegen Ohnmacht

Seit 1993 begingen 415 Menschen im Zuge der deutschen Abschiebepolitik Suizid. Mindestens 4.914 Betroffene haben sich aus Angst vor einer Abschiebung oder aus Protest dagegen selbst verletzt oder versucht, sich selbst zu töten, was sie teilweise nur schwer verletzt überlebten. Das sind im Schnitt drei Geflüchtete pro Monat, die sich töten und 43 Personen pro Monat, die sich selbst verletzen oder Suizidversuche unternehmen. Was mit den Menschen nach den Abschiebungen passiert, kann nur selten dokumentiert werden, da die Recherche in den Herkunftsländern schwierig ist, weil die Betroffenen aus Angst vor politischer Verfolgung untertauchen oder in Gefängnissen »verschwinden«.

Das Jahr 1993 markiert nicht nur ein Ende des Asylrechts, es ist seitdem auch kaum noch möglich, dass Schutzsuchende legal nach Deutschland einreisen. Folglich nehmen sie lebensgefährliche Risiken in Kauf, um die Grenze ins Bundesgebiet zu überqueren, oftmals mit tödlichen Folgen. Allein an den Ost-Grenzen der BRD starben bis zur EU-Osterweiterung 2004 mindestens 121 Geflüchtete. 305 Schutzsuchende wurden verletzt und dies meistens durch Bisse von Hunden, die Zoll oder Polizei eingesetzt hatten.

2004 sanken die Zahlen für die deutsche Grenze – das Sterben an den EU Außengrenzen ging und geht dagegen weiter. Die Bilder der katastrophalen Situation Geflüchteter an der polnisch-belarussischen Grenze im vergangenem Winter gingen weltweit durch die Presse. Haben es Geflüchtete geschafft, den illegalen Pushbacks zu entkommen und die Grenze nach Deutschland zu überqueren, bedeutet dies noch keine Sicherheit für sie. Ohne entsprechende Papiere von den Behörden aufgegriffen zu werden, bedeutet kriminalisiert und gejagt zu werden. Ein Fall aus 2021 dokumentiert, wie die Jagd auf Geflüchtete geht.

Im Dezember kommt es nach Mitternacht auf der A7 bei Dettingen in Baden-Württemberg zu einer Kollision von einem Kleinbus mit einem Sattelschlepper. Der Kleinbus überschlägt sich, durchbricht einen Wildzaun und landet auf einem Acker. Die Polizei findet am Unfallort einen tödlich Verletzten und weitere sieben teils Schwerverletzte. Ein Polizeihubschrauber sucht die Umgebung mit einer Wärmebildkamera ab. Die Suche geht noch am nächsten Tag intensiv weiter.

Nach vier Tagen ermitteln die Behörden, dass es sich bei dem Fahrer und dem Beifahrer um Inder mit in Italien ausgestellten Papieren handelt. Auch die anderen Männer, darunter der Verstorbene werden aufgrund ihres Gepäcks und ihrer Ausweise als Inder identifiziert, die aus Italien nach Deutschland gebracht wurden. Nach diesem verheerenden Unfall warten auf den Fahrer und den Beifahrer Untersuchungshaft, der Vorwurf: Schleusung.

Aber auch jenseits staatlicher Maßnahmen bleibt das Leben für Geflüchtete in Deutschland gefährlich. Es kommt immer wieder zu rassistisch motivierten Übergriffen und Gewalttaten durch Nazis im privaten und öffentlichen Raum wie etwa an Bushaltestellen, auf Straßen und in Häusern. Der versuchte Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft am 26. August dieses Jahres in Leipzig zeugt davon, wie aktuell die Gefahr rechter Gewalt bleibt.

Auffällig ist auch, dass bei vielen Angriffen anwesende Passant*innen oder Fahrgäste sich kaum solidarisch zeigen und selten einschreiten. Bei einer Ticketkontrolle in einer Dresdener Straßenbahn im März 2019 wird ein Mann aus Benin dreimal kontrolliert. Als er sich beschwert, schlägt ihm einer der Kontrolleure ins Gesicht und auf den Kopf. Attacken mit Schlägen ins Gesicht, mit Flaschen, Tritten und Messern, begleitet von rassistischen Beleidigungen, sind die gängigen Muster.

Kein Ende der Polizeigewalt

Fernab der Alltäglichkeit von Abschiebungen gibt es mit der normalen Polizei eine weitere Gefahr für Geflüchtete und Migrant*innen. Die Zahl der Toten und Verletzten sowie sich wiederholende Muster der Vorfälle zeigen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern wie sehr rassistische Gewalt in den staatlichen Strukturen verankert ist Die Erschießung des 16-jährigen Senegalesen Mohammed D. durch Polizist*innen mit einer Maschinenpistole in Dortmund am 8. August dieses Jahres ist ein Beweis dafür, dass die Sicherheitsbehörden nicht gewillt sind, dieser Praxis ein Ende zu setzen.

Die vielfältigen Einzelgeschehnisse zeigen die Gefahren und die Feindschaft bundesdeutschen Alltags für und gegenüber Geflüchteten.  Die schlimmsten Auswirkungen des rassistischen Systems auf Geflüchtete will die Chronik sichtbar machen.

Dokumentationstelle der ARI

aus Berlin recherchiert seit 27 Jahren Fälle rassistisch motivierter Gewalt in Gesellschaft und Institutionen.

Anmerkung:

Der gesamte Inhalt der Chronik befindet sich auch in einer Datenbank mit Suchfunktion im Internet. Der Zugang und die Recherche zu den über 17.000 Einzelgeschehnissen wird dadurch erleichtert. Web-Dokumentation:ari-dok.org/webdokumentation