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Jakarta kehrt zurück

Wie die indonesische Arbeitsmarktreform und globale »Ausnahmezustände« zusammenhängen

Von Mariyah L. M. und JN

Indonesiens Präsident Jokowi gut gelaunt und siegesgewiss. Hier beim Staatsbesuch des australischen Premiers Turnbull im Jahr 2015. Foto: Timothy Tobing /Flickr, CC BY 2.0

Im Januar begannen die bis jetzt anhaltenden Proteste gegen die neoliberale Arbeitsmarktreform in Indonesien, die schlussendlich am 5. Oktober verabschiedet wurde. Im Laufe des Jahres kam es zu Massenverhaftungen und Polizeigewalt bei den Demonstrationen: Eine Eskalation mit Ansage, denn Präsident Joko Widodo (Jokowi) betreibt schon seit 2019 verbales Säbelrasseln gegen linke Aktivist*innen und Gewerkschaften. Die Pandemie liefert seiner Regierung, wie so vielen anderen Regierungen auch, den Deckmantel, um drei unternehmensfreundliche »Omnibus-Gesetze«, von denen die Arbeitsmarktreform nur ein Teil ist, zu verabschieden. Im August 2020 veröffentlichte die linke Plattform Lausan.hk eine Analyse und Einordnung des Gesetzentwurfs, den wir hier als gekürzte Übersetzung abdrucken.

Das neoliberale Kochbuch

Mindestens drei Gesetze sollen in diesem Jahr vom indonesischen Parlament geprüft werden: Sie betreffen den Arbeitsmarkt, die Steuern und die geplante neue Hauptstadt in Ost-Kalimantan. Alle drei zielen darauf ab, wirtschaftliche Liberalisierung und ausländische Investitionen zu fördern, indem sie den Arbeitnehmerschutz schwächen und den monopolisierten Zugang von Unternehmen auf menschliche und natürliche Ressourcen vereinfachen. Ihre Hauptfunktion ist, die Arbeiterklasse Jokowis entwicklungspolitischen Infrastrukturprogrammen unterzuordnen, anstatt den Millionen zu helfen, die mit dem Verlust ihres Lebensunterhalts und einer wachsenden Anzahl von Covid-19-Infektionen zu kämpfen haben.

In den späten 1960er Jahren wurde die neoliberale Wirtschaftspolitik in Indonesien von einer Gruppe Ökonom*innen angeführt, die in Berkeley studiert hatten. Ein Mitglied der »Berkeley Mafia«, gab an, dem autoritären Präsidenten Suharto einen Leitfaden zur Umsetzung neoliberaler Reformen vorgelegt zu haben, ein »neoliberales Kochbuch zur Überwindung der wirtschaftlichen Probleme in Indonesien«. Suharto setzte diese von den USA befürwortete Politik der freien Märkte und Auslandsschulden um. Linke Proteste wurden brutal niedergeschlagen, das rechte Regime Suhartos festigte sich. Nur fünf Jahre nach Suhartos Amtsantritt 1967 tauchten in Chile Graffitis mit der Aufschrift »Jakarta kommt« auf, kurz vor dem von den USA unterstützten Putsch gegen Salvador Allende.

Nun scheint Jakarta wiederzukommen und Jokowi das Kochbuch der Berkeley Mafia erneut zu öffnen. Neoliberale Politik war nach dem Abdanken Suhartos 1998 in der Zeit der pro-demokratischen Reformen (»reformasi«) in Ungnade gefallen, aber nie wirklich verschwunden. Die Nachfolger*innen der Mafia halten weiter wichtige Wirtschaftsposten inne: Die in den USA ausgebildete Ökonomin Sri Mulyani, ehemalige Geschäftsführerin der Weltbank, ist Jokowis Finanzministerin und eine der Vordenker*innen der Omnibus-Gesetze.

Ein militarisiertes Handelsrecht

Die Regierung und der Unternehmenssektor bewerben das Gesetz zur Schaffung von Arbeitsplätzen (»Cipta Lapangan Kerja«, kurz »Cilaka«) als Allheilmittel für die angeschlagene Wirtschaft. »Bedrohungen für Investitionen« sollen beseitigt werden – ein verschleierter Hinweis auf eine stärkere Kriminalisierung von Aktivist*innen und Dissident*innen. In einer Rede erklärte Jokowi 2019, dass der wirtschaftliche Erfolg Indonesiens durch »das Schwert« und nicht durch Abstimmungen zustande kommen würde. Nicht durch das Volk, sondern durch ein militarisiertes Lex Mercatoria (Handelsrecht) – durch eine Zentralregierung, die Polizei und Militär befiehlt, die wiederum ein Rechtssystem schützen, das für und durch Unternehmensinteressen geschaffen wurde.

Cilaka ist der größte neue Gesetzesvorschlag und hat seit Anfang dieses Jahres in ganz Indonesien Widerstand hervorgerufen. Jokowi hatte der Öffentlichkeit anfangs nur 100 Tage Zeit gegeben, um die 1.028 Seiten des Gesetzes zu lesen. Das Gesetz wurde von einer von der Regierung ausgewählten Task Force aus 127 Industriellen und Unternehmensangehörigen entworfen. Es spiegelt dementsprechend Unternehmensinteressen wider: Steuersenkungen für Unternehmen, Deregulierung und Beseitigung hoher Beschäftigungskosten durch Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Indonesien wurde 2019 hinsichtlich dieser Punkte von der Weltbank auf Platz 73 eingestuft – Jokowis Ziel ist es, auf Platz 40 zu kommen.

Cilaka wird Arbeitnehmer*innen in noch prekärere Beschäftigungsverhältnisse drängen. Mit dem Slogan »Einfache Einstellung, einfache Entlassung« ermöglicht das Gesetz Unternehmen, Arbeitnehmer*innen ohne Entschädigung oder Widerspruchsmöglichkeit zu entlassen. Durch die Einführung eines unregulierten Stundenlohns und die Legalisierung von Zwölf-Stunden-Tagen und Sechs-Tage-Wochen wird auch der Pool an »dauerhaft befristeten« Vertragsarbeiter*innen erweitert. Massenentlassungen, die während der Pandemie bereits zugenommen haben, werden so normalisiert.

Die Orientierung an Unternehmensinteressen und die rasend schnelle Deregulierung wird und hat bereits erhebliche ökologische Konsequenzen. Unter Cilaka sind obligatorische Umweltverträglichkeitsprüfungen, die bereits jetzt von Korruption geprägt sind, nicht mehr erforderlich. Das wird sich vorwiegend auf indigene Ländereien, Wälder, Küstengebiete, abgelegene Inseln und andere »ressourcenreiche« Zonen auf dem gesamten Archipel auswirken. Das geht aus den Kapiteln über Öl- und Gasabbau, Geothermie, Land Banking und andere Privatisierungen natürlicher Ressourcen deutlich hervor.

»Tolak Omnibus Law« – »Lehnt das Omnibus-Gesetz ab« steht auf den Schildern der Protestierenden einer Gewerkschaft in Jakarta. Foto: Monitor Civicus/wikimedia , CC BY-SA 4.0

Die Unterordnung ökologischer Belange unter wirtschaftliche Interessen hat in Indonesien eine lange Geschichte. Suharto verschaffte Großunternehmen eine ganze Reihe von Vorteilen: vom Regierungsvertrag mit dem in den USA ansässigen Bergbauunternehmen Freeport, der die Kolonialisierung West-Papuas von 1967 bis heute ausweitete, bis zur Unterzeichnung des historischen »Letter of Intent« (LOI) mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im Jahr 1998.

Trotz der demokratischen Euphorie hat die Amtszeit von fünf Präsident*innen seit Suhartos Sturz nur dazu beigetragen, den weiterhin vorhandenen Autoritarismus zu verschleiern. Die Machtkonzentration hat sich von einer zentralen Figur auf eine Gruppe von Oligarchen verschoben, von denen eine nicht unbedeutende Zahl während Suhartos 32-jähriger Diktatur aufgestiegen ist.

Machtzentralisierung und Repression: das Jokowi-Kapitel

Cilaka zeigt, dass der Staat und sein Unternehmensapparat um jeden Preis versuchen, ausländisches Kapital anzuziehen. Kein Wunder also, dass die Fingerabdrücke der globalen kapitalistischen Elite überall auf den Gesetzentwürfen zu sehen sind. Sie lesen sich wie ein Lehrbuch der Weltbank zur strukturellen Anpassung. Es ist kein Zufall, dass sich Jokowi und die Weltbank einen Monat vor seiner ersten öffentlichen Erwähnung eines »Omnibus-Gesetzes« trafen.

Der Einfluss der USA reicht noch weiter: 2018 veröffentlichten die American Chamber of Commerce Indonesia (Amerikanische Handelskammer Indonesien) und die US-Handelskammer einen Bericht über Jokowis erste Amtszeit, das »Jokowi-Kapitel«. Wie Indonesier*innen wissen und der Bericht hervorhebt, bewertet die Unternehmenswelt Jokowis unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik überwiegend positiv. Zu den noch zu verbessernden Punkten zählen nach Angaben der im Bericht zitierten multinationalen Unternehmen die »Effizienz auf dem Arbeitsmarkt« und eine unzureichend offene Wirtschaft. Es ist unschwer zu erkennen, dass der Bericht einen Grundstein für die Omnibus-Gesetzentwürfe gelegt hat.

Wie auch seine Vorgänger*innen ist Jokowi nicht nur mit wirtschaftlichen und politischen Eliten, sondern auch mit Militär und Polizei verbandelt geblieben. Der indonesische Staat ist lediglich ein Vermittler, der der Militärpolizei (Milipol) die rechtliche Rechtfertigung und die Waffen zur Verfügung stellt, um einen reibungslosen Ablauf kapitalistischer Operationen zu gewährleisten. Menschenrechtsverletzungen, die er in seiner ersten Präsidentschaftskampagne zu bekämpfen versprach, bleiben links liegen, während sich unter dem Banner der Entwicklungspolitik neue Verstöße häufen. Widerstand wird zunehmend kriminalisiert: Aktivist*innen, Gewerkschafter*innen, Landwirt*innen, LGBTIQ-Personen und religiöse Minderheiten sind zunehmender Polizeigewalt ausgesetzt. Dem indigenen Widerstand in West-Papua wird mit wachsender militärischer Präsenz und Unterdrückung begegnet.

Die Milipol ist auch an Megaprojekten wie der »Ibukota Negara«, der neuen Hauptstadt, beteiligt, deren Planung in einem der Omnibus-Gesetze geregelt wird. Die üblichen Verdächtigen – Polizei- und Militärangehörige im Ruhestand sowie Politiker*innen und wichtige Immobilienmagnat*innen – leiten die Unternehmen, die bevorzugten Zugang zu den 162 Landkonzessionen für Bergbau, Wälder, Palmenplantagen und Kohlekraftwerken rund um die neue Hauptstadt erhalten.

Die Milipol hat schon länger Einfluss auf die Politik. Seit 2004 arbeiten Indonesiens nationale Armee und Polizei zusammen, um sogenannte »zentrale nationale Objekte« zu bewachen. Die ungenaue Definition, was das alles beinhaltet, hat der Milipol unter Jokowi Spielraum gegeben, gegen linke Widerständler*innen vorzugehen. In Java wurde beispielsweise die staatseigene Industrieregion Kawasan Berikat Nusantara in Ost-Jakarta zum »zentralen nationalen Objekt« erklärt. Sie erhält seither militärischen Schutz vor Demonstrationen und Streiks.

Bereits im Januar 2020 wies Jokowi den nationalen Polizeichef und den Geheimdienst an, sich »an Organisationen zu wenden«, die den Omnibus-Gesetzen gegenüber kritisch eingestellt waren. Einen Monat später belagerte eine große Menschenmenge unbekannter Zugehörigkeit das Büro des Kongres Aliansi Serikat Buruh Indonesia (KASBI), einem der größten Gewerkschaftsverbände, die sich gegen die Gesetzesvorlage aussprachen. Studentische Aktivist*innen wurden ebenfalls eingeschüchtert. Diskussionsveranstaltungen gegen die Omnibus-Gesetze wurden von der Polizei aufgelöst.

Während der Proteste gegen die Gesetzesvorlagen im August verhaftete die Polizei mindestens 150 Demonstrant*innen in verschiedenen Regionen Indonesiens. Virtueller Widerstand wurde auf Grundlage des Internetgesetzes von 2008 kriminalisiert. Dieses ermöglicht kritische Äußerungen im Internet unter ein breites Dach von »Beleidigung, Verleumdung und Provokation« zu fassen, was Online-Diskurse in Indonesien massiv einschränkt. Zusätzlich hat Jokowi im Sommer 2020 eine Verordnung erlassen, die vorsieht, dass der Geheimdienst dem Büro des Präsidenten künftig direkt unterstellt ist.

Wie vorherzusehen war, hat Jokowis Suche nach ausländischem Kapital zudem zu einer engeren wirtschaftlichen Beziehung mit China geführt. Wie in vielen anderen Ländern ist die chinesische Belt and Road Initiative (BRI) eine der gefragtesten Quellen für ausländische Investitionen in Indonesien. Die Omnibus-Gesetzentwürfe übernehmen das arbeitskraftintensive chinesische Modell hinsichtlich Entwicklungsreformen. Neben sechs aktuellen Projekten im Rahmen der BRI wirbt die indonesische Regierung um weitere 91 Milliarden US-Dollar chinesische Investitionen für mindestens 28 weitere Projekte im ganzen Land. Das Vorgehen von Militär und Polizei gegen die aktuellen Demonstrationen zeigt, wie wichtig staatlich sanktionierte Gewalt ist, um noch mehr BRI-Investitionen zu sichern und die weitere Verstrickung in globale kapitalistische Netzwerke zu fördern.

Das Anpreisen von »Reformen« unter Jokowi kaschiert kaum, dass die Regierung die katastrophale Politik der Berkeley Mafia recycelt und dem Mantra des Wirtschaftswachstums folgt. Während die Vorteile von Auslandsinvestitionen nur den Oligarch*innen zugutekommen, wird der schon lange widerlegte Ansatz, dass Vorteile für Unternehmen irgendwann auch die Bürger*innen erreichen, mithilfe von Slogans wie »mehr Auslandsinvestitionen = mehr Arbeitsplätze« durchgepeitscht. Aber die Indonesier*innen kennen die Handlung des nächsten »Jokowi-Kapitels« bereits und haben das auf den Straßen gezeigt.

Indonesier*innen sind nicht allein

Solange neoliberale Politik und Autoritarismus Hand in Hand gehen, ist es von Zeit zu Zeit nötig, dass der Staat einen Ausnahmezustand ausruft, um von den regulären Krisen des Kapitalismus abzulenken. Die anhaltende globale Pandemie hat die Möglichkeit dazu geschaffen. Ein gewaltsamer Regimewechsel mit ausländischer Unterstützung im Dienste des freien Marktes wurde zum Teil in Indonesien eingeübt – und er kann andernorts immer wieder imitiert werden.

Eine Reihe von Staaten in ganz Asien beruft sich derzeit auf »Sonderrechte« wegen der Pandemie, um drastische Sicherheitsgesetze zu erlassen. Das philippinische Anti-Terror-Gesetz kommt nicht nur zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie das Pekinger Gesetz zur nationalen Sicherheit in Hongkong: Beide kriminalisieren Widerstand. Die derzeitige Demokratiekrise in Thailand geht Hand in Hand mit der politisch großen Bedeutung des Militärs und den autoritären Tendenzen des Staates. Mit den Omnibus-Gesetzen und den Ansätzen einer militarisierten Durchsetzung dieser signalisiert Indonesien, dass es sich hier einreihen wird.

Einige Aktivist*innen konzentrieren sich in erster Linie darauf zu kritisieren, dass die nicht rechenschaftspflichtige Gesetzgebung einen schlechten Präzedenzfall für künftige politische Entwicklungen Indonesiens darstellen würde. Für uns ist aber wichtig darzustellen, wie Kapitalismus und Demokratie ihren gegenseitigen Missbrauch ermöglichen. Um die wirtschaftlichen Probleme in Indonesien wirksam anzugehen, müssen unsere Lösungen gleichzeitig auf die ideologische und die politische Ebene des Wirtschaftssystems abzielen.

Die indonesische Arbeiterklasse ist in diesem Kampf nicht allein. Kapitalistische Staaten auf der ganzen Welt – autoritär oder nicht – haben sich gegenseitig signalisiert, wie sie Macht zentralisieren und hart umkämpfte demokratische und aktivistische Siege mit repressiven Mitteln bedrohen können. Um Jokowis Zukunftsvision für Indonesien zu bekämpfen, in der eine Zentralregierung die Arbeiter*innen den Bedürfnissen massiver multinationaler Unternehmen unterwirft, müssen wir eine wirklich globale Front von Lohnabhängigen, einen neuen Internationalismus jenseits des Nationalstaates aufbauen.

Mariyah L. M. und JN

Mariyah L. M. und JN sind Autor*innen bei Lausan.

Übersetzung: Bilke Schnibbe