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Hört ihr noch zu?

Zwei Jahre nach Hanau kämpfen die Hinterbliebenen weiter für ihre zentralen Forderungen: Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen 

Von Dîlan Karacadağ

Bild einer Kundgebung, Menschen halten Schilder mit den Gesichtern und Namen der in Hanau Ermordeten hoch, viele tragen Masken
Kundgebung anlässlich des Halbjahrestages des rassistischen Terroranschlags am 19. August 2020 in Hanau. Die ursprüngliche Großdemonstration war aus Infektionsschutzgründen kurz vorher verboten worden. Foto: Leonhard Lenz, gemeinfrei

Am 19. Februar jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau zum zweiten Mal. Die Familien kamen in den vergangenen zwei Jahren so gut wie nie zur Ruhe. Immer wieder kritisierten die Angehörigen und Überlebenden die Kette des behördlichen Versagens unter der Leitfrage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können. Die Frage ist rhetorisch. Denn: Ja! Der Anschlag hätte verhindert werden können. Wenn die rassistischen Anzeigen des Täters ernst genommen, ihm die Waffenbesitzkarte abgenommen worden wäre, wenn die Polizei Notrufe am Tatabend angenommen hätte, wenn wenn wenn …

Über diese vielen »Wenns« haben wir Journalist*innen und Aktivist*innen schon ausführlich geschrieben und gesprochen. Noch wichtiger ist, den Angehörigen, den Hinterbliebenen genau zuzuhören, ihre zentralen Forderungen zu verstehen und diese zu unterstützen: Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen. Diese Forderungen stehen dabei in engem Zusammenhang mit der Thematisierung von strukturellem und institutionellem Rassismus. 

Erinnerung

Die Erinnerung hat höchste Priorität. »Ohne Erinnerung keine Aufklärung und keine Veränderung. In der Geschichte dieses Landes steht aber oft das Vergessen im Vordergrund. Man möchte nicht an rechte Gewalt erinnern, sondern schnell zurück zur Normalität«, sagte Newroz Duman, Sprecherin der unmittelbar nach dem Anschlag gegründeten Initiative 19. Februar Hanau, erst kürzlich in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. »Das Erinnern ist die Voraussetzung für alles«, sagte sie außerdem – und erinnerte an den Satz eines CDU-Politikers, der schon bald nach den Morden der Meinung war, dass das Erinnern »auf den Friedhof« gehöre – statt in das Stadtbild, wie es die Angehörigen taten, die etwa am Grimm-Denkmal und an den Tatorten für alle sichtbar trauern und gedenken.

Das war eine Selbstidentifizierung als weiß, ignorant und rassistisch. Nicht-Betroffene möchten auch bei rassistischen Anschlägen entscheiden, wie rassifizierte, betroffene Menschen trauern und gedenken sollen. »Erinnern heißt verändern« ist dagegen der Slogan der Hinterbliebenen und Überlebenden seit dem Anschlag. Wer ihre Erinnerungskultur nicht verstanden hat, nicht verstehen will und nicht akzeptiert, der*die will auch nichts verändern und interessiert sich nicht für den rassistischen Hintergrund der Tat. Es ist und bleibt ungemein wichtig, dass die Betroffenen selbst und allein entscheiden, wie sie an jene gedenken wollen, die sie am 19. Februar 2020 verloren haben: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov.

Aufklärung

Die Familien, Hinterbliebenen und Überlebenden fordern Antworten auf Fragen und dass auch diejenigen Beamt*innen, die nicht nur in der Tatnacht, sondern all die Jahre davor bereits versagt und die Warnsignale ignoriert haben, beim Namen genannt und zur Rechenschaft gezogen werden. Für eine lückenlose Aufklärung mussten und müssen sie dabei selbst, mit Unterstützung von ein paar Aktivist*innen, sorgen.

Die Familien wollen kein Mitleid, sondern dass sich etwas verändert.

So haben die Familien, Hinterbliebenen und Überlebenden beispielsweise den Untersuchungsausschuss zu Hanau erkämpft: Seit Sommer 2021 beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags mit der sicherheitspolitischen Dimension des Falls. Ziel ist es, herauszufinden, ob Landesregierung und Sicherheitsbehörden Fehler gemacht haben. Die Angehörigen waren beharrlich, haben SPD, FDP und Linke überzeugt und letztlich sogar die Regierungskoalition aus CDU und Grünen gezwungen, einem Einreichungsantrag zuzustimmen. Am 3. Dezember 2021 fand im Hessischen Landtag die erste und am 21. Januar 2022 die letzte öffentliche Sitzung statt, in der die Familien als Zeugen geladen sind. Dabei ging es beispielsweise um den Notausgang am Tatort Arena-Bar. Er war in der Tatnacht verschlossen und wurde deswegen wohl für Hamza Kurtović und Said Nesar Hasehmi zur Todesfalle.

Serpil Unvar, die Mutter des verstorbenen Ferhat Unvar, verwies vor dem Untersuchungsausschuss auf Videoaufzeichungen, auf denen zu sehen war, wie Polizisten an dem Tatort, einem Kiosk neben der Arena-Bar in Hanau-Kesselstadt, zweimal über Ferhat stiegen, ohne sich um ihn zu kümmern, seinen Puls zu fühlen oder seine Atmung zu kontrollieren. »Wie lange hat Ferhat noch gelebt?«, fragte sie die Anwesenden. Hätte er überleben können? Hier darf nicht vergessen werden, dass der leitende Notarzt Ferhat zwar um 23.21 Uhr als verstorben bezeichnet hatte, doch in der Sterbeurkunde des Standesamtes der Todeszeitpunkt mit 3.10 Uhr in der Nacht angegeben wurde. Warum? Auch, dass die Angehörigen über Stunden hinweg über die Identität der Opfer im Unklaren gelassen wurden und ihnen verwehrt blieb, zu angeordneten Obduktionen gehört zu werden, ist ein Teil des Versagens der Behörden. Das und einiges mehr sind weiterhin offene Fragen, um deren Aufklärung sich die Angehörigen und Überlebenden selbst kümmern. 

Gerechtigkeit und Konsequenzen

»Damit wir keine Angst mehr haben müssen, muss es politische Konsequenzen geben« heißt es in der Erklärung im Namen der Angehörigen und Überlebenden, die in einer Pressemitteilung der Initiative 19. Februar veröffentlicht wurde. Denn was bringt beispielsweise eine Verschärfung des Waffengesetzes, wenn es immer noch Beamt*innen gibt, die Rassist*innen Waffenscheine ausstellen? Ein Anliegen ist zudem die Entnazifizierung des Bundestags, wie auch aller Behörden und Institutionen. Die Initiative 19. Februar stellt im Namen der Angehörigen eine weitere Forderung in Bezug auf Gerechtigkeit und Konsequenzen: »Der Rücktritt des Hessischen Innenministers Beuth, dem das Versagen der Behörden vor, während und nach dem 19. Februar 2020 bewusst und bekannt war, und der es bis heute immer noch schön redet.« 

Mit ausgestelltem Mitleid und Kränzen an Gedenktagen bleibt Unterstützung indes nur formell. Der Anschlag von Hanau war rassistisch motiviert. Daher wollen die Familien kein Mitleid, sondern dass sich etwas verändert, damit Rassismus und Rechtsextremismus nicht mehr toleriert und akzeptiert werden und potenziell tödliche Folgen haben können. Solidarität mit den Hinterbliebenen und Überlebenden von Hanau heißt, ihnen zuzuhören und ihre Forderungen als unsere eigenen anzusehen. Es bedeutet aber noch mehr: Nur dann, wenn den Familien weitere Sorgen erspart bleiben und ihnen auch in ihrem zerrütteten Alltag und in Zukunft Erleichterung und Unterstützung zuteil wird – psychosozial wie finanziell – kann für Gerechtigkeit gesorgt werden. 

Finanzielle Unterstützung benötigen auch die nach dem Anschlag entstandenen Selbstorganisierungen: die Initiative 19. Februar selbst und die von Ferhats Mutter Serpil Unvar gegründete Bildungsinitiative Ferhat Unvar, die allen Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Eltern, die rassistische Erfahrungen im Alltag oder in der Schule machen, eine Anlaufstelle bieten soll. Auch das ist eine Art des selbstbestimmten Erinnerns: Mit ihrer Arbeit möchte Serpil Unvar das Gedenken an ihren Sohn aufrechterhalten. An Ferhat, der wie auch Gökhan, Sedat, Said, Mercedes, Hamza, Vili, Fatih und Kaloyan am 19. Februar 2020 in Hanau wegen Rassismus sein Leben verloren hat. 

Dîlan Karacadağ

ist kurdisch-deutsche Journalistin. Seit dem Anschlag von Hanau war sie regelmäßig vor Ort, hat vielfach aus Hanau berichtet und die Hinterbliebenen und Überlebenden unterstützt.

 

Bildungsinitiative Ferhat Unvar: bildungsinitiative-ferhatunvar.de/spendenkonto

Initiative 19. Februar: 19feb-hanau.org/spenden/