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»Wo denn überhaupt noch sparen?«

Der Autor Simon Hannah beschreibt die britische Krise, die konservative Zwickmühle und die Reorganisierung der Arbeiter*innenklasse

Interview: Svenja Huck

In Großbritannien setzt der neue Premierminister der Konservativen, der Millionär Rishi Sunak, Steuererhöhungen und Kürzungen im öffentlichen Sektor auf die Tagesordnung. Gleichzeitig lassen Inflation und steigende Energiepreise große Teile der Bevölkerung verarmen. Können die Gewerkschaften und die Labour Party mit Streiks und politischer Mobilisierung Neuwahlen erzwingen und den Sparkurs der Regierung aufhalten? Darüber spricht der britische Unison-Gewerkschafter und sozialistische Aktivist Simon Hannah im Interview. 

Wie würdest du die aktuelle ökonomische und politische Lage in Großbritannien charakterisieren?

Simon Hannah: Sie ist chaotisch. Hinter uns liegen viele Jahre Austeritätspolitik und einige Jahre Brexit. Die führende Partei der Bourgeoisie, die Konservativen, drängt zunehmend in eine rechtspopulistische Richtung. Das ist nicht unbedingt, was die britische Kapitalistenklasse will, aber die Partei versucht damit Wählerstimmen zu gewinnen, ähnlich wie die Republikaner und Trump in den USA. 

Darüber hinaus gibt es offensichtlich ein massives Problem mit der Inflation und der schwachen britischen Wirtschaft, nicht erst seit dem Brexit. Ich denke, das politische Chaos innerhalb der konservativen Partei ist zum Teil ein Produkt sozialer und ökonomischer Probleme. Das macht es für sie umso schwerer, in einer stabilen Weise zu regieren. Die Lebenshaltungskosten steigen; vor allem die Energiekosten sind für viele Menschen kaum zu stemmen. Liz Truss kam mit einer radikalen Agenda ins Amt: Um die Energiepreise zu deckeln, wollte sie, statt die Energieunternehmen zu verstaatlichen, riesige Summen Geld borgen, das dann an die Unternehmen gezahlt werden sollte. Gleichzeitig sollte es Steuererleichterungen für die Superreichen geben. Das war zu viel für die Finanzmärkte. 

Rishi Sunak ist nun der dritte Premierminister in drei Monaten. Steht ein vierter bereits in den Startlöchern oder wird sich Sunak länger halten? 

Ich denke, Sunak wird als sicherere Partie gesehen. Er war bereits Schatzkanzler während der Pandemie. Damals handelte er sehr pragmatisch. Nun kündigt er Steuererhöhungen für alle an, sowohl für Werktätige als auch die Bessergestellten. Außerdem will seine Regierung im öffentlichen Sektor einsparen; ein Loch von 40 Milliarden Pfund soll gestopft werden. Aber dieses Loch existiert ja eigentlich nur nach ihren eigenen Finanzregeln. Eigentlich ist das allein keine Krise, aber sie präsentieren es als eine solche, um Sparmaßnahmen zu rechtfertigen. Ich frage mich, wo sie überhaupt noch sparen wollen. Bei der NHS, dem staatlichen Gesundheitssystem, können sie nicht noch mehr kürzen. Auch das Budget von Lokalregierungen wurde seit 2010 bereits um 50 Prozent gekürzt. Man darf auch nicht vergessen, dass die Konservativen bei den letzten Wahlen in einigen Wahlkreisen gewonnen haben, die eigentlich traditionell hinter der Labour Party stehen. Die Abgeordneten aus diesen Kreisen stehen unter Druck: Ihre Wählerschaft wird sicher keine Kürzungen akzeptieren, doch die True Blue Tories wollen keine Steuererhöhungen für Reiche. 

Ein Mann mit Brille und einer Fahne
Foto: Svenja Huck

Simon Hannah

ist linker Aktivist aus London und Autor. Er hat ein Buch über die Poll-Tax-Kampagne in den 1980er Jahren geschrieben und zuletzt das Buch »A Party with Socialists in It – A History of the Labour Left« veröffentlicht.

Momentan sind im ganzen Land zahlreiche Streiks angekündigt, bei der Post, bei der Eisenbahn und auch beim Pflegepersonal. Haben die Gewerkschaften das Potenzial, die Regierung unter Druck zu setzen? 

Die Tory-Regierung boxt momentan eine Reihe von Anti-Streik und Anti-Protest-Gesetzen durch. Dabei haben wir ohnehin schon eines der restriktivsten Gewerkschaftsgesetze in Westeuropa. Aktuell wird im Parlament über eine Regelung diskutiert, wonach auch bei einem Streik ein Drittel des Personals weiterarbeiten soll. Das widerspricht ja vollkommen dem Sinn eines Streiks. Ich denke nicht, dass die Gewerkschaften aktuell in der Lage sind, politische Streiks anzuführen. Die aktuellen Kämpfe sind Lohnkämpfe – die sind auch wirklich gut, die größte Streikwelle, die wir seit 2014 hatten. Jedoch sind sie auch alle von den Spitzen der Gewerkschaften kontrolliert und dauern nur mal einen, mal zwei Tage an. Eine Eskalation gibt es aktuell bei der Lehrer*innengewerkschaft UCU (University and College Union) und dem Pflegepersonal. Letztere organisieren gerade ihren ersten landesweiten Streik seit 1988. Allein am Royal College of Nurses stimmten 300.000 Mitglieder über ihre Streikbereitschaft ab. Nun sind ein Pfleger*innenstreik für den 15. Dezember sowie ein koordinierter Streik zwischen Pfleger*innen und Krankenwagenfahrer*innen am 20. Dezember geplant.

Und was wurde aus den Eisenbahnstreiks, die für Anfang November geplant waren?

Die Eisenbahnstreiks wurden gerade abgesagt, ohne dass ein neues Angebot vorlag. Es hieß nur, man würde intensiv verhandeln. Doch obwohl diese Verhandlungen absolut nichts Neues brachten, tat die Gewerkschaftsspitze ganz überrascht und sagte, sie sei betrogen worden. Dennoch sind die Eisenbahnstreiks noch nicht vom Tisch. Das Management greift auch die Arbeitsbedingungen an; es geht um mehr als nur den Lohn. Die Gewerkschaft, die RMT, ist eine der militantesten Gewerkschaften in Großbritannien. Doch auch sie hat den Streik ausgesetzt, nachdem die Queen verstorben war. Es gibt eine Basis, die einen Generalstreik fordert, nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch auf den Streikkundgebungen. Um diesen durchzusetzen, müssten die Gewerkschaften aber das Gesetz brechen, denn Generalstreik ist in Großbritannien verboten, der letzte fand im Jahr 1926 statt.

Kann die Labour-Partei von der Krise der Tories profitieren?

Labour liegt aktuell weit vor den Tories in den Wählerumfragen. Gestern gab es eine Nachwahl in Chester, da haben die Tories herbe Verluste erlitten. Auch aus diesem Grund wollen die Konservativen um jeden Preis Neuwahlen verhindern. Letztens habe ich eine Berechnung gesehen, wonach bei einer Wahl derzeit nur mehr 50 Abgeordnete der Konservativen im Parlament sitzen würden. Andererseits kann niemand sagen, wofür genau Labour eigentlich steht. Und ich denke, das ist auch so gewollt. Sie versuchen in erster Linie, die Konservativen und deren Minister*innen unter Druck zu setzen, beispielsweise die Innenministerin Suella Braverman, schon fast eine Faschistin, die von einer »Migranten-Invasion« spricht und antisemitische Verschwörungstheorien reproduziert. Ich kann aber nicht sagen, was eine Labour-Regierung umsetzen würde, wenn sie jetzt an die Regierung käme. 

Wäre das denn aus sozialistischer Perspektive wünschenswert?

Ja, aber nicht, weil ich denke, dass sie wirklich richtig gute Politik machen würde. Ich denke, es wäre ein massiver Rückschlag für die britischen Kapitalist*innen, wenn die Tories verlieren. Labour hingegen ist nach wie vor die Partei der Gewerkschaften, es gibt eine tiefe organische Verbindung. Sie in der Regierung zu haben, würde aus meiner Perspektive als Sozialist auch die Debatte um eine Reihe von Klassenfragen in der Linken intensivieren. Aktuell unterstützen viele Menschen Labour sowieso, einfach weil sie nicht an der Macht sind und damit besser dastehen als die Tories. So ist es für Linke schwer, eine Alternative zu entwickeln. 

Als Jeremy Corbyn Labour-Vorsitzender war, traten viele radikale, sozialistische Linke der Partei bei, auch du. Was passierte mit diesen Leuten, als Keir Starmer neuer Vorsitzender wurde? 

Rund 150.000 Menschen sind wieder ausgetreten. Viele von ihnen sind leider mittlerweile sehr verbittert und auch inaktiv. Aber ich würde sagen, Corbyns Politik war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Entweder durch die Opposition innerhalb seiner eigenen Partei oder auf höherer Ebene an der Regierung wäre er geschlagen worden. Es hätte einfach keinen Weg gegeben, wie das britische Kapital und die Medien und der rechte Flügel von Labour Corbyn erlaubt hätten, ungestört zu regieren. Dieser Verlust hat viele Linke zu Zyniker*innen gemacht. Ich habe beobachtet, wie in den Fraktionskämpfen Leute drangsaliert wurden: Ein wirklich übles Umfeld, das Leute komplett aus der politischen Aktivität gedrängt hat. Ich würde sagen, die Linke steht heute schwächer da als vor Corbyn. Nun geht es darum, sich wieder zu konsolidieren, und zwar über die Organisierung einzelner Demonstrationen und Kundgebungen hinaus.

Svenja Huck

promoviert an der FU Berlin zu Istanbuler Arbeiter*innengeschichte und arbeitet als freie Journalistin hauptsächlich zur Türkei. Sie lebt in Berlin und Istanbul.