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Was treibt den Militarismus an?

Einst galt ein sozialimperialistisches Versprechen: Weltherrschaft bringt Butter aufs Brot – und heute?

Von Ingo Schmidt

Marschierende Soldaten
Offenbar haben sie einen klaren Marschbefehl. Foto: Unsplash/ Filip Andrejevic

Mehr Kanonen braucht das Land. Darüber besteht von Ampel bis AfD Einigkeit. Dissens gibt es in der Frage, ob dafür irgendwer auf die Butter verzichten muss oder ob genug Geld für Kanonen und Butter aufgetrieben werden kann. Etwa über eine Reform der Schuldenbremse oder neue Sondervermögen.

Den Vorstoß der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken, Spitzenverdiener*innen höher zu besteuern, muss man nicht ernst nehmen. Zu sehr steht er im Widerspruch zu einem anderen Konsens in der deutschen Politik: Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit muss »die Wirtschaft«, zu deren Leistungsträger*innen Spitzenverdienende bekanntlich gehören, steuerlich entlastet werden. 

Wieso »unsere« Kriegsfähigkeit erhöht werden soll, ist weniger klar. Statt Kriegsziele zu formulieren, an denen die Militärs ihre strategischen und taktischen Planungen ausrichten und an denen sich die Regierungen bei Erreichen der militärischen Ziele in Friedensverhandlungen orientieren können, wird die Verteidigung westlicher Werte gegen die autoritäre Bedrohung durch Russland und China ins Feld geführt. Eine normative, militärisch und politisch nicht operationalisierbare Größe. 

Dieses hehre Ziel ist noch weniger ernst zu nehmen als Eskens Kanonen-statt-Kaviar-Vorschlag. Zu oft haben Regierungen und Konzerne des Westens mit Diktatoren paktiert, diesen zur Macht verholfen, Angriffskriege rund um den Globus geführt und die heimische Demokratie dem Diktat des Kapitals untergeordnet. Was treibt den gegenwärtigen Militarismus an, wenn es klar definierte Kriegsziele nicht gibt und Bedrohungsszenarien allzu offensichtlich Feindbildkonstruktionen sind?

Gut für die Kapitalakkumulation

Früher war diese Frage einfach zu beantworten. Wo die Unterbietung lokal hergestellter Waren durch Importe aus den entstehenden kapitalistischen Ländern sowie Anleihen und Kredite aus ebendiesen zur Erschließung neuer Märkte nicht ausreichten, wurde mit Waffengewalt nachgeholfen. Das war gut für die Rüstungsindustrie, schuf aber auch darüber hinaus Märkte zur Beschaffung von Rohstoffen und dem Absatz von Industriewaren, Anlagefelder für Kapital und Siedlungsgebiete für jenen Bevölkerungsüberschuss, der infolge der fortschreitenden Akkumulation in den kapitalistischen Zentren die eigenen Produktionsmittel, insbesondere Grund und Boden, verloren hatte, aber weder in der aktiven noch der industriellen Reservearmee gebraucht wurde. 

Mit anderen Worten: Die von Europa ausgehenden Welteroberungskriege waren gut für die Kapitalakkumulation. Aber damit kamen auch Krisen und sozialistische Arbeiter*innenbewegungen. Wie umstürzlerisch die dazugehörigen Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften, Kultur- und Sportvereine waren, sei dahingestellt. Doch ihre bloße Existenz und die Möglichkeit revolutionärer Bewegungen verunsicherten die herrschenden Klassen. Noch mehr Krieg, noch mehr Welteroberung sollten sie aus ihrer Bedrängnis erlösen. In den Worten des britischen Unternehmers und Politikers Cecil Rhodes: Wenn sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen sie Imperialisten werden.

Von der Suche nach Märkten, Anlagefeldern und Siedlungsgebieten und der Angst vor dem Sozialismus getrieben, eilten die politischen Eroberungen der kapitalistischen Durchdringung der eroberten Gebiete gegen Ende des 19. Jahrhunderts weit voraus. Die realisierten Extraprofite blieben hinter den Erwartungen zurück; nur wenigen Proletarier*innen gelang der Aufstieg in die Arbeiter*innenaristokratie. Und auch die wurden alsbald in die Schlachten geschickt, die die Kolonialmächte um die Verteilung ihrer Eroberungen führten. Erst nach zwei Weltkriegen, deren Ende mit der Ablösung der erschöpften europäischen Kolonialmächte durch Washington und Moskau als Zentren zweier konkurrierender Gesellschaftssysteme einherging, wandelte sich der Sozialimperialismus von einer Strategie zu einem Wesensmerkmal des kapitalistischen, US-geführten Westens.

Ab den 1970er Jahren sollte die neokoloniale Ausbeutung der Profitstabilisierung in den Zentren dienen, nicht mehr dem sozialen Ausgleich.

Die neokoloniale Ausbeutung des Südens im Zusammenspiel mit innerer Landnahme und der dritten industriellen Revolution ermöglichte Lohnerhöhungen, die nicht gleich auf die Profitraten drückten. Rüstungswettlauf und Militärkeynesianismus stabilisierten Konjunktur und Beschäftigung, ohne neue Produktionskapazitäten zu schaffen. Damit konnte die Tendenz zu Überproduktionskrisen erst einmal eingedämmt werden. Neben Stellvertreterkriegen im Süden trug das Wettrüsten zur Erschöpfung der Sowjetunion bei, deren Industrialisierung erst in den 1930er Jahren begonnen und durch den Zweiten Weltkrieg massiv zurückgeworfen worden war.

Margarine statt Butter

Nachdem die Sowjetunion und ihre Vasallenstaaten unter dem Druck der äußeren Konkurrenz und der inneren Last ihrer Bürokratendiktatur zusammengebrochen war, schienen in den US-Eliten lang gehegte Vorstellungen eines globalen, nach amerikanischen Regeln operierenden Kapitalismus Wirklichkeit zu werden. An die Stelle des Wettrüstens zwischen Ost und West trat eine amerikanische Militärmaschinerie, deren Feuerkraft und Reichweite die Armeen aller anderen Länder der Welt um ein Vielfaches übertraf, deren Macht dennoch begrenzt war und ist. 

Die seit Beginn des Wettrüstens mit der Sowjetunion angestrebte nukleare Übermacht haben die USA auch gegenüber dem heutigen Russland nicht erreichen können. Und das, obwohl Russland die Weltmachtstellung der Sowjetunion ökonomisch nicht halten konnte und obwohl die USA achtmal so viel Geld in die Rüstung stecken wie Russland. Im Krieg gegen den Terror zeigte sich, dass das US-Militär ungeliebte Regimes stürzen, aber nicht nach Belieben freundlich gesinnte Regimes etablieren kann. Im Krieg gegen den Irak zeigte sich zudem, dass selbst die westeuropäischen Verbündeten nicht bedingungslos kriegswillig sind.

Die Erfahrung der begrenzten Macht einer numerisch weit überlegenen Armee spricht, rein ökonomisch betrachtet, für eine Politik der Abrüstung und des diplomatischen Ausgleichs statt einer neuen Welle des Militarismus. Dass sich in den US-Eliten, quer zu parteipolitischem Hickhack und Spannungen zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen, dennoch ein Konsens für den neuen Militarismus herausgebildet hat, liegt an gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen und ihren sozialen Folgen.

Als Reaktion auf militante Klassenkämpfe von unten, Erschöpfung der mit der dritten technologischen Revolution verbundenen Produktivitätszuwächse und trotz Keynesianismus, einschließlich der permanenten Rüstungswirtschaft, entstandener Überkapazitäten hatte das Kapital in den Zentren den Klassenkompromiss mit der Lohnarbeit schon in den 1970er Jahren aufgekündigt. Künftig sollte die neokoloniale Ausbeutung der Profitstabilisierung in den Zentren dienen und nicht mehr dem sozialen Ausgleich. Daran hat sich bis heute nichts geändert. 

Hoffnungen, die globale Landnahme nach Zusammenbruch der Sowjetunion und Weltmarktwende der chinesischen Kommunist*innen würden zu anhaltender Prosperität im Westen führen, erfüllten sich nicht. Auch wenn der große China-Boom gerade auszulaufen scheint: China war der Gewinner der von den USA vorangetriebenen Globalisierung. Weil sich chinesischen Eliten politisch nicht gängeln lassen wie die alten Kompradoren des Südens oder die neuen Kompradoren Osteuropas, erklärten die US-Eliten das Land zum Hauptfeind. Auch wenn nicht klar ist, ob sie sich vor einer kommunistischen Herausforderung oder einer kapitalistischer Konkurrenz fürchten. 

Die Eliten des alten Europa, die zeitweilig von der EU als sozialer und friedliebender Alternative zum marktradikalen und militaristischen Amerika träumten, sind untereinander so zerstritten, dass sie sich den neuen Marschbefehlen aus Washington einzeln unterordnen. Neben den aus Globalisierungstagen bekannten Konkurrenzdruck zur Erhöhung der Mehrwertraten treten die Erfordernisse zur Finanzierung des neuen Militarismus. Das sozialimperialistische Versprechen, durch Weltbeherrschung Butter aufs proletarische Brot zu streichen, hat sich erschöpft. Davon sollen die Feindbilder Russland und China ablenken. Und daran erinnern, dass in Kriegszeiten froh sein darf, wer überhaupt noch Margarine aufs Brot bekommt.

Ingo Schmidt

ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.