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Hoffnungen für 2021?

Die US-Linke hat sich zu sehr auf die Wahlen fokussiert und den Aufbau einer landesweiten Bewegung versäumt

Von Mike Davis

Eine verpasste Chance für die US-Linke: die Black Lives Matter Bewegung vergangenen Sommer, hier in Minneapolis, 28. Mai 2020. Foto: Dan Aasland / Flickr, CC BY-SA 2.0

Kürzlich schrieb mir jemand und fragte nach meinen Hoffnungen für 2021. Ich antwortete, dass wir, bevor wir über Hoffnungen und Möglichkeiten sprechen, zuerst die kollektive Schande eingestehen müssen, es im letzten Jahr nicht geschafft zu haben, eine landesweite Protestbewegung gegen jene Politik aufzubauen, die zum vermeidbaren Tod von Hunderttausenden und zum wirtschaftlichen Ruin von weiteren zehn Millionen Menschen geführt hat. Diese Effekte trafen Communities of Color und Niedriglohnarbeiter*innen mit grotesk verstärkter Wucht. Hier in Kalifornien tragen zwei Drittel der Toten spanische Nachnamen. Man schätzt, dass die Mehrheit der 110.000 Toten in Pflegeheimen, auf die die New York Times Anfang Januar hinwies, Angehörige von Minderheiten waren.

Seit Ende März 2020 haben Hunderte Betriebsproteste und Arbeitsniederlegungen von Beschäftigten im Gesundheitswesen, in der Lebensmittelindustrie und im Dienstleistungssektor den Schwung für eine solche landesweite Bewegung erzeugt. In einigen Gegenden organisierten Gruppen der DSA (Democratic Socialists of America) und Black-Lives-Matter-Gruppen unterstützende Aktivitäten, während Aktivist*innen für die Rechte von Migrant*innen und Gefangenen versuchten, die Aufmerksamkeit auf die Explosion der Corona-Infektionen in Untersuchungsgefängnissen, Haftanstalten und Abschiebeknästen zu lenken. Aber: Es gab keinen wirklichen Versuch, eine landesweite Koordination oder umfassende Koalition zu schaffen. Ich kann mich auch an keine einzige linke Publikation erinnern, die sich prominent für den Aufbau einer landesweiten Bewegung stark gemacht hätte.

Eine landesweite Protestbewegung im Sommer hätte eine zweite Front für Black Lives Matter eröffnen und die Wahldynamik verändern können.

Man hätte erwarten können, dass Bernie Sanders und sein Unterstützungsnetzwerk Our Revolution eine solche Entwicklung hätten anstoßen können. Doch obwohl Bernie Arbeiter*innen applaudierte und Vorschläge für progressive Maßnahmen im Kongress formulierte, war sein Lager fast vollständig damit beschäftigt, die Leute an die Urnen zu bringen. Damit verzichtete er auf das, was einst die Hauptprämisse seiner Kampagne gewesen war: die integrale Rolle des Protests bei der Mobilisierung von Wähler*innen. Die Reaktionen der Gewerkschaften waren ebenso wahlkampforientiert und teilweise erschreckend zurückhaltend. Während Black Lives Matter wiederholt unter Beweis stellte, dass mit Masken und Abstand Protest sicher auf die Straße zurückgebracht werden kann, igelten sich Liberale und zu viele Progressive ein und blieben harmlos.

In der Folge gelang es Trumps neofaschistischem Mob, die Pandemie oder, genauer, die wirtschaftlichen Opfer, die die Politik der Republikaner den Menschen abverlangte, für sich zu nutzen. Die träge und mechanische Biden-Kampagne ließ ihrerseits zu, dass Gesundheitsschutz und Arbeitsplätze als Prioritäten gegeneinander ausgespielt werden konnten – und verschenkte damit Millionen Stimmen an Trump. Auch verzichteten die Demokraten auf den offensichtlichsten populistischen Trumpf, der ihnen zur Verfügung stand: die immense Umverteilung von Reichtum zugunsten von Jeff Bezos und anderen Superreichen.

Eine landesweite Protestbewegung hätte eine zweite Front für Black Lives Matter eröffnen und die Wahldynamik verändern können. Sie hätte dafür sorgen können, dass Medicare for All ganz oben auf der Agenda bleibt, und sie hätte die Marginalisierung progressiver Stimmen innerhalb der Biden-Regierung verhindert. Die Linke muss sich der Tatsache stellen, dass wir trotz der großen Popularität unserer Ideen und trotz des dynamischen Beispiels von Black Lives Matter als landesweite Kraft hilflos und unorganisiert geblieben sind. Wir müssen aufhören, auf Wahlen als Hoffnungsschimmer am Horizont zu schielen, und uns zusammenraufen. Wir müssen unser Engagement für Black Lives Matter erneuern und mit aller Kraft daran arbeiten, ein multithematisches landesweites Bündnis für das Leben und für Gerechtigkeit zu schmieden.

Mike Davis

Mike Davis ist marxistischer Historiker, Autor und Stadtforscher. Viele seiner Bücher (City of Quartz, Planet der Slums) sind auch auf deutsch erschienen, seine Untersuchung »Vogelgrippe. Über die gesellschaftliche Produktion von Epidemien« (2005) gibt es beim Verlag Assoziation A zum freien Download.

Dieser Text erschien am 6. Januar unter dem Titel »Hopes for 2021?« im Sidecar Blog von New Left Review. Übersetzung und leichte Kürzung: ak-Redaktion