Unter Trumps Gnade
Die Waffenruhe im Gazastreifen ist instabil, und die israelischen Siedlungen im Westjordanland wachsen
Von Chris Whitman

Nach über 15 Monaten konnten die Palästinenser*innen in Gaza am 19. Januar zum ersten Mal aufatmen. Vorher wurde der Alltag der Menschen von Fragen bestimmt wie: »Woher bekomme ich meine nächste Mahlzeit?«, »Wie finde ich Material, um mein Zelt vor dem kommenden Sturm zu reparieren?« oder »Sollen wir erneut umziehen, um einen sichereren Ort zu finden?« Nachdem verstärkt Lebensmittel in das Gebiet gelassen wurden, waren die Menschen in Gaza damit beschäftigt, ihre Angehörigen zu suchen, sowohl die Lebenden als auch die Toten, und zu entscheiden, ob sie den Weg nach Gaza-Stadt oder in den Norden Gazas wagen sollten. Alles in der Hoffnung, ihr Zuhause, welches ziemlich wahrscheinlich zerstört wurde, zu finden.
Doch mit dem jüngsten Scheitern des Waffenstillstands und der von den USA unterstützten Weigerung Israels, von Phase 1 zu Phase 2 überzugehen, hat sich die Lage erneut geändert. Phase 1 ermöglichte die Lieferung bestimmter Hilfsgüter (deren Blockade Israel 15 Monate lang bestritten hat) und einen Gefangenenaustausch. 33 Geiseln wurden aus Gaza freigelassen, während 1.904 Palästinenser*innen aus israelischen Gefängnissen und Gefangenenlagern entlassen wurden, die Mehrheit von ihnen wurde ohne Anklage inhaftiert.
Nach dem Ende der Waffenruhe bereiten sich die Gazaner*innen erneut auf das Schlimmste vor – diesmal in einer noch schlechteren Ausgangslage als vor dem Krieg. Über 70 Prozent der Gebäude in Gaza sind zerstört, insbesondere Schulen und Wohnhäuser. Mehr als 70 Prozent des Ackerlands ist durch den Krieg stark kontaminiert. Die Wasser- und Hygieneinfrastruktur ist verwüstet, dennoch lässt Israel keine Materialien oder Geräte zur Reparatur in den Gazastreifen. Die Fähigkeit Gazas zum Wiederaufbau, von Infrastruktur bis zur Gesellschaft, wäre selbst unter den besten Bedingungen ein langer und mühsamer Weg – eine erneute Eskalation durch Israel würde die Lage nur weiter verschärfen.
Neuer Einmarsch
Die entscheidende Frage lautet: Welche Folgen ergeben sich aus Israels Blockadepolitik und der aggressiven Kriegsführung? Kürzlich wurde der israelische Generalstabschef Herzi Halevi durch einen Netanjahu-treuen Hardliner, Eyal Zamir, ersetzt. Eine der ersten Anordnungen Zamirs war die erneute Mobilisierung von 400.000 Reservist*innen, darunter 50.000 für eine »Shock-and-Awe«-Offensive in Gaza. Solch eine Offensive würde die ethnische Säuberung der nördlichen 40 Prozent des Streifens und die Zwangsumsiedlung von Palästinenser*innen in kontrollierte Zonen beinhalten.
Die Trump-Regierung unterstützt Israels Vorgehen derzeit uneingeschränkt und hat zwei Großlieferungen von Hochleistungsbomben und militarisierten Bulldozern beschleunigt. Trump selbst wirbt offen für die ethnische Säuberung Gazas und die Verhinderung einer Rückkehr der Vertriebenen nach dem Wiederaufbau. Sein Verhandlungsführer Steve Witkoff gab Israel Rückhalt, um das aktuelle Abkommen zu untergraben, und versuchte, es durch für Hamas nachteilige Nebenabkommen zu ersetzen. Gleichzeitig führt die US-Regierung – entgegen der eigenen Doktrin, keine Verhandlungen mit Gruppen auf der eigenen Terrorliste zu beginnen – direkte Gespräche mit Hamas. Es wird davon ausgegangen, dass es bei den Gesprächen um die Freilassung von lebenden und toten Gefangenen mit doppelter Staatsbürgerschaft (israelisch-amerikanisch) im Rahmen eines Nebenabkommens ging. Aus diesen Nebenverhandlungen ist noch nichts Konkretes hervorgegangen, jedoch wurde hier ein bemerkenswerter Präzedenzfall geschaffen.
Würde es nach dem Willen Netanjahus gehen, er würde mit Freude wieder in den Gazastreifen einmarschieren.
Die Hoffnung auf die nächste Phase der Waffenruhe hängt vollständig von der Trump-Regierung ab. In dieser Phase sollen größere Gefangenenaustausche und langfristige Probleme, die den Gazastreifen seit Jahrzehnten aufgrund der israelischen Politik plagen, wie z. B. die Blockade, geregelt werden. Falls die Regierung Trumps keinen eigenen Handlungsbedarf sieht oder innenpolitisch von einer Intervention profitieren würde, wird sie Israel freie Hand lassen, ähnlich wie unter US-Präsident Joe Biden. Ein erneuter Einmarsch würde nicht nur 59 Israelis in Gaza zurücklassen, lebendige und tote, sondern Zehntausenden Palästinenser*innen das Leben kosten. Auch wenn Trump die ethnische Säuberung öffentlich billigt, so ist doch unklar, ob seine Regierung dies tatsächlich wollen würde. Sollte die USA nicht dahingehend eingreifen, dass die Verhandlungen zur zweiten Phase der Waffenruhe aufgenommen werden, dürfte Netanjahu eine möglichst umfassende ethnische Säuberung Gazas anstreben.
Denn wenn es nach dem Willen des derzeitigen Premierministers gehen würde, er würde mit Freude in den Gazastreifen einmarschieren, Gaza so weit wie möglich von Palästinenser*innen »säubern« und dort eine dauerhafte israelische Präsenz aufbauen, in Form militärischer wie auch ziviler Siedlungen. Getrieben wird Netanjahu dabei von seiner eigenen Ideologie als auch vom Druck der ultrarechten Koalitionsparteien HaTzionut HaDatit (Religiöser Zionismus) und Otzma Yehudit. Dabei ist wichtig zu betonen, dass diese Parteien keine Anomalien innerhalb der israelischen Gesellschaft darstellen, sondern die sich verändernde Demografie im Land und die von der Gesellschaft vertretenen »Werte« widerspiegeln.
Israels Rechtsruck ist ein langwieriger Prozess, der die gesamte Gesellschaft umfasst. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat ihn für eine breitere Basis verdaulicher gemacht und es verschiedenen Bevölkerungsgruppen ermöglicht, den rechtsradikalen Diskurs in ihr Weltbild zu integrieren. Dies lässt sich am israelischen Vorgehen gegenüber dem Westjordanland ablesen. Dieses Vorgehen hat sich seit dem 7. Oktober noch verschärft: Mehr als 900 Palästinenser*innen wurden bei militärischen Übergriffen, gezielten Tötungen und über 125 israelischen Luft- und Drohnenangriffen getötet.
Geplante Vertreibung
Das Westjordanland wurde von der israelischen Armee, aber auch von Siedler*innen und zahlreichen von ihnen gebildeten »inoffiziellen« Milizen abgeriegelt. Die Angriffe der Siedler*innen haben seit Herbst 2023 um das Dreifache zugenommen und kosteten seitdem fast ein Dutzend Palästinenser*innen das Leben. Dutzende von palästinensischen Gemeinden im C-Gebiet, das direkt vom israelischen Militär verwaltet wird, wurden von Siedler*innen vertrieben. Die Straßen im C-Gebiet wurden de facto ethnisch getrennt, da die Armee die Zahl der Kontrollpunkte mehr als verdoppelt hat. Dazu kommt der Entzug von über 150.000 Arbeitsgenehmigungen von Palästinenser*innen, die zu einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage geführt hat, in der mindestens 40 Prozent der palästinensischen Bevölkerung arbeitslos, das Pro-Kopf-Einkommen gesunken und die Preise gestiegen sind.
Als ob all dies nicht schon schlimm genug wäre, startete die israelische Armee zwei Tage nach der vereinbarten Waffenruhe in Gaza eine Militäroperation unter dem Namen »Operation Eiserne Mauer«. Diese umfasst eine groß angelegte Invasion und vollständige Besetzung der drei palästinensischen Städte Dschenin, Tulkarem und Tubas sowie die »Säuberung« der dortigen Flüchtlingslager, was zur Vertreibung von mehr als 45.000 Palästinenser*innen führte. Der israelische Außenminister Israel Katz erklärte anschließend, dass die Geflüchteten mindestens ein Jahr lang nicht zurückkehren dürften und eine ständige israelische Präsenz eingerichtet wird. Im Zuge der Besetzung der Städte und Lager wurden über 600 palästinensische Häuser von der Armee in die Luft gesprengt, was an das Vorgehen der Armee im Gazastreifen erinnert.
Derzeit ist es wahrscheinlich, dass die Armee im Westjordanland ein noch breiteres Mandat aus der Knesset erhalten wird und sich die Operationen, Zerstörungen und Vertreibungen, auf Qalqalia, Nablus und andere Orte ausweiten werden. Die israelische Regierung kann und wird nur so weit gehen, wie es die Regierung Trumps und das Schweigen der Staaten der Europäischen Union zulassen.