analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 683 | International

Vor aller Augen

Die Türkei droht erneut, Kurdistan anzugreifen – mit Rückendeckung des Westens

Von Erkut Bükülmez und Dastan Jasim

Der türkische Präsident Erdogan sitzt breitbeinig zwischen zwei Türkeifahnen auf einem prunkvollen Sessel in einem prunkvollen Raum, zu seiner Rechten sitzt Nato-Generalsektretär Stoltenberg auf einem weiteren Sessel
Seit Tagen beschießt die Türkei Rojava, eine Offensive und neue Annexionen stehen bevor. Die Nato stört das wenig. Generalsekretär Stoltenberg bei einem Besuch in Ankara im Oktober 2020. Foto: NATO North Atlantic Treaty Organization / Flickr, CC BY-NC-ND 2.0

In Rojava steht eine neue türkische Offensive bevor. Nachdem schon 2017, 2018 und 2019 Gebiete Rojavas von der Türkei und ihren islamistischen Schergen annektiert wurden, soll es dieses Jahr wieder so weit sein. Besonders im Auge hat Erdoğan laut eigener Aussage die restlichen kurdischen Gebiete im Nordwesten Syriens. Dazu gehören wichtige Städte wie Tel Rifaat, wo Hunderttausende vertriebene Kurd*innen aus Afrin von der Türkei und islamistischen Milizen einerseits und Assads Truppen andererseits umzingelt sind, sowie Manbij, die eine der ersten Großstädte war, die vom IS erfolgreich befreit wurde. Sogar von einem Angriff auf Kobani ist immer wieder von türkischer Seite die Rede.

Seit Tagen werden die Gebiete bereits durch Artilleriefeuer und einzelne Drohnenangriffe in Angst und Schrecken versetzt. Erst am 7. Juni wurde ein außerordentliches Treffen der Syrian Democratic Forces (SDF) einberufen, um angesichts der bedrohlichen zivilen Lage und der sich weiter destabilisierenden Anti-IS-Mission Kräfte zu koordinieren. Ethnische Säuberungen, IS-Rückendeckung, mit all dem kommt die Türkei davon und droht sogar noch, den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands zu verhindern.

Dem Außenbild der Türkei schadet das wenig, im Gegenteil: Während des Ukrainekriegs wird ihr eine Vermittlerrolle zugeschrieben. Wie sieht diese »Vermittlung« aus? Einerseits liefert die Türkei der Ukraine ihre Bayraktar-TB2-Kriegsdrohnen. Die Türkei »vermittelt« andererseits, indem sie Russland nicht sanktioniert, wie es die übrigen Nato-Länder tun, und sogar ankündigt, ein alternatives Zahlungssystem für russische Sommertourist*innen anzubieten, die einen Großteil der Türkei-Urlauber*innen ausmachen. Die Türkei »vermittelt« und kassiert also gleich doppelt. Sie gibt der Ukraine die Mittel, sich gegen die Invasion Russlands zu verteidigen und gibt Russland Mittel, diesen Krieg zu führen. Die Teile für die Drohnen stammen dabei aus den Niederlanden, den USA, aus England und Belgien sowie aus Deutschland. All diese Länder profitieren demnach ebenso direkt vom Ukrainekrieg.

Krieg macht Geld, so viel ist klar, doch selbst auf der normativen Ebene der vermeintlich feministischen Außenpolitik einer Annalena Baerbock bewegt sich nichts. Lediglich eine Corona-Infektion hat die deutsche Außenministerin, die zu Gesprächen erst nach Pakistan, dem Top-Unterstützer der Taliban, und dann in die Türkei reisen wollte, davon abgehalten, ihren Rundum-Besuch der Islamismus-Supporter abzuschließen.

Die Gründe für die Beanspruchung des Vetorechts der Türkei gegen den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens sind laut der bürgerlichen Presse die vermeintliche Unterstützung der PKK und YPG durch die beiden Länder sowie die bevorstehende Präsidentschaftswahl in der Türkei im Jahr 2023 und damit einhergehend die Notwendigkeit eines außenpolitischen Erfolgs. Weshalb aber sollte die Türkei, eines der ältesten Nato-Mitglieder, einer Stärkung des Bündnisses entgegenstehen? Die Intervention soll das spezifische Recht der Türkei und ihre Macht innerhalb der Nato unterstreichen. Woraus ergibt sich diese?

Istanbul trennt Europa vom Orient, die liberalen Kinder der bürgerlichen Aufklärung von den Terrorist*innen, die Demokratie vom (archaischen) Despotismus – so das eurozentrische, rassistische Denken und so auch der Gründungsmythos der kemalistischen Türkei, von dem Erdoğan weiterhin profitiert, ob man ihn nun Sultan nennt oder nicht.

Die Macht der Türkei, ihre Inanspruchnahme eines spezifischen Rechts erwächst daraus, dass sie eben diese Grenze markiert – und selbst zwischen den Grenzen oszilliert. Die jetzige Intervention innerhalb der Nato folgt sicherlich auch den oben genannten kurzfristigen Interessen, doch sie dient ebenso dazu, der Nato wie der EU die Grenzposition und damit auch die Rolle der Türkei bei den (noch kommenden) Flüchtlingsbewegungen in Erinnerung zu rufen.

Damit hat Erdoğan die besten Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen: Die Türkei wird mit irgendeinem Profit aus ihrer Intervention herausgehen – und was ist schon ein größerer außenpolitischer Erfolg, als weiterhin unbekümmert und ungestört eine ethnische Säuberung durchführen zu können?

Erkut Bükülmez

studiert Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt und arbeitet zum Verhältnis von Marxismus und Antirassismus.

Dastan Jasim

ist Politikwissenschaftlerin und Doctoral Fellow am German Institute for Global and Area Studies. Gerade ist sie in Sulaimaniya in der Kurdistan-Region Irak, wo sie Feldforschung zu ihrem Dissertationsprojekt über die politische Kultur von Kurd*innen durchführt.