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»Tschentscher hat für die Interessen der Bank lobbyiert«

Der Hamburger Cum-Ex-Untersuchungsausschuss legt einen Zwischenbericht vor – Vivien Otten über eine schwerfällige Spurensuche im Hanseatenfilz

Interview: Lene Kempe

Der erste Bürgermeister der Stadt Hamburg, Peter Tschentscher, steht an einem Rednerpult vor einer holzbetäfelten Wand, mutmaßlich im Hamburger Rathaus.
Peter Tschentscher (SPD), einst Finanzsenator und mittleierweile erster Bürgermeister der Stadt Hamburg: Auch dank seines persönlichen Einsatzes hätte die Warburg Bank ihre hinterzogenen Steuern beinahe behalten können. Foto: Sven Teschke/Wikimedia Commons, gemeinfrei

Nahezu jede große Bank in Deutschland war in Cum-Ex-Geschäfte involviert: eine spezielle Form von Steuerhinterziehung im Aktienhandel. Den Behörden war diese illegale Praxis spätestens seit 2002 bekannt, dennoch dauerte es noch zehn Jahre bis Gesetzeslücken geschlossen und Cum-Ex-Deals verunmöglicht wurden. 2013 begann die Kölner Staatsanwaltschaft zu ermitteln – mittlerweile gegen mehr als 1.500 Beteiligte. Auch die Hamburger Warburg Bank verdiente lange gutes Geld mit Cum-Ex-Deals. 2016 sollte die Bank die hinterzogenen Steuern in Höhe von 47 Millionen Euro an das Hamburger Finanzamt zurückerstatten. Dann aber zog das Amt seinen Bescheid wieder zurück. Warum, welche Rolle Hamburger Politiker dabei spielten und welche die Finanzverwaltung, diesen Fragen geht seit November 2020 der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zu Cum-Ex in Hamburg nach. Vivien Otten sitzt hier für die Linksfraktion. 

Anfang September soll es vom PUA einen Zwischenbericht geben. Was ist dein persönliches Fazit aus der Arbeit der letzten knapp drei Jahre?

Vivien Otten: In so einem Rahmen, gerade wenn staatliche Behörden beteiligt sind, ist es schwer, wirklich Beweise für kritische Sachverhalte zu finden. Die geladenen Zeug*innen sind zwar gesetzlich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, insofern haben die Aussagen vor den Untersuchungsausschüssen auch strafrechtliche Relevanz. Aber eine Vernehmung durch die Polizei oder Staatsanwaltschaft ist doch etwas anderes. Das sehen wir auch in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten, in denen viel mehr entscheidende Details stehen. Im PUA wird häufig erzählt, dass man sich nicht erinnern kann. Es ist also eher schwierig, durch solche Befragungen Dinge herauszubekommen, die man nicht schon vorher wusste. Trotzdem kann der Ausschuss zur weiteren Aufklärung der Cum-Ex-Fälle beitragen, deshalb ist er enorm wichtig.

Was sind Cum-Ex-Geschäfte?

Cum-Ex-Geschäfte waren bis 2012 noch in großem Stil möglich. Die Masche funktionierte so: Aktienbesitzer*innen erhalten pro Aktie jährlich eine Dividende, also eine Gewinnbeteiligung vom Unternehmen, das die Aktien ausgibt. Bei Privatpersonen werden von diesen Dividendengewinnen automatisch 25 Prozent Kapitalertragssteuer an das Finanzamt abgeführt. Institutionelle Anleger*innen, wie Banken oder Fonds, können sich diese allerdings zurückerstatten lassen. Dafür erhalten sie mit der Dividendenauszahlung eine Bescheinigung von ihrer Depotbank (die Bank, die die Aktien verwahrt), dass diese Steuer an das Finanzamt abgeführt wurde. Das Geld können sie sich dann vom Finanzamt zurückholen. Ein kompliziertes System, in das Banken, Aktieninhaber*innen und Zwischenhändler*innen eingebunden waren und in dem größere Aktienpakete rund um den Dividendenstichtag hin- und her geschoben wurden, ermöglichte, dass solche Steuerbescheinigungen von den Depotbanken zweimal ausgestellt wurden: an die*den ursprüngliche*n Depotbesitzer*in und an die*den Käufer*in, die*der das Aktienpaket kurz nach dem Dividendenstichtag für kurze Zeit in ihr*sein Depot auf der selben Bank gebucht und dann über eine*n Zwischenhändler*in wieder zurückverkauft hat. Beide ließen sich die (vermeintlich) gezahlte Steuer später vom Finanzamt zurückerstatten. Etwa 150 Milliarden Euro wanderten so in die Taschen der Finanzmarktakteur*innen. 

In Hamburg gibt es vier prominente Figuren, die wegen Cum-Ex-Geschäften in der Medienöffentlichkeit standen. Neben dem Mitinhaber der Warburg-Bank, Christian Olearius, auch Bundeskanzler Olaf Scholz, der aktuelle Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher und der ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs. Was war deren Rolle?

Als wegen der Cum-Ex-Geschäfte im November 2016 vom Finanzamt Hamburg eine Rückzahlungsforderung in Höhe von 47 Millionen Euro erhoben wurde, behauptete Olearius, die Bank würde pleite gehen, wenn sie die hinterzogenen Steuern zurückzahlen müsste. Dieses Argument wurde immer wieder angeführt und bis hoch in die Chefetagen der Finanzverwaltung reproduziert. Eine Prokuristin der Bank hat uns aber bestätigt, dass das Thema Bankpleite intern überhaupt nicht auf dem Tisch lag. Es war also ein Scheinargument und ohnehin nicht tragfähig, denn Privatpersonen können sich so ja auch nicht vor der Steuer drücken. Trotzdem hat das Finanzamt auf die Rückzahlungsforderung wieder verzichtet. Das hat die Kölner Ermittler*innen auf den Plan gerufen. 2016 wurde die Warburg-Bank und 2018 das Haus von Olearius durchsucht. Hier wurden auch seine berühmten Tagebücher gefunden, in denen dann weitere Beteiligte auftauchten. 

Das Verfahren gegen Olearius startet erst im September. Wir sind gespannt, was da noch alles rauskommt.

Johannes Kahrs saß damals für die SPD im Haushaltsausschuss des Bundestags. Im August 2016 hatte er sich mit Scholz getroffen und mit Alfons Pawelczyk, auch so ein SPD-Urgestein mit besten Kontakten in die Wirtschaft. Kahrs und Pawelczyk waren das Bindeglied zwischen Olearius und Olaf Scholz, der sich danach mehrfach mit Olearius getroffen hat. Sie haben für die Bank lobbyiert. Das geht auch aus Christian Olearius‘ Tagebüchern hervor, die 2020 presseöffentlich wurden. 2017, als der Steuerbescheid bereits vom Finanzamt zurückgenommen wurde, gab es dann gleich zweimal eine Weisung aus Berlin vom Bundesfinanzministerium, das Finanzamt Hamburg solle endlich das Geld reinholen. Auch damals hat Kahrs sein Netzwerk genutzt und zwischen dem Bundesamt und der Warburg Bank vermittelt. Im selben Jahr erhielt die Hamburger SPD dann insgesamt 45.500 Euro Spenden von Warburg und von zwei mit der Bank verbundenen Unternehmen. Das Verfahren gegen Olearius startet erst im September. Wir sind gespannt, was da noch alles rauskommt.

Vivien Otten
Foto: privat

Vivien Otten

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro des Bürgerschaftsabgeordneten David Stoop und arbeitet für die Linksfraktion Hamburg im Untersuchungsausschuss Cum-Ex.

Olaf Scholz wird vorgeworfen, dass er Olearius in der Sache beraten und ihm geraten haben soll, sich wegen der Rückzahlungsforderungen an den damaligen Finanzsenator, Peter Tschentscher, zu wenden …

Genau, Tschentscher war als Finanzsenator zugleich Chef der Finanzbehörde und den Ämtern gegenüber weisungsbefugt. Er darf allerdings keinen Einfluss auf einzelne Steuerfälle nehmen. Olearius hatte beim Senat Beschwerde gegen den Steuerbescheid eingereicht. Anstatt das Schreiben an das zuständige Beschwerdemanagement weiterzureichen, hat Tschentscher diesen persönlich in die Finanzverwaltung gegeben. Eine Frau Petersen war damals dort mit dem Fall befasst und längst in Kontakt mit der Bank. Sie hatte bereits einen langen Vermerk dazu verfasst, warum die hinterzogenen Steuern von Warburg zurückgezahlt werden müssten, und diesen an die Finanzbehörde geschickt. Sie änderte ihre Meinung aber wieder, weil die Bank angab, in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken. Frau Petersen hat der Bank auch empfohlen, sich politischen Beistand zu holen. Und von ihr stammt die bekannt gewordene Chatnachricht an eine Freundin, mit der Formulierung, ihr »teuflischer Plan sei aufgegangen«. Kurz zuvor hatte die Finanzbehörde in einer Sitzung entschieden, auf die Rückzahlung der Warburg Bank zu verzichten. Der weitere Chatverlauf legt nahe, dass man die Forderung gegenüber Warburg verjähren lassen wollte. Tschentscher hatte sich zuvor intensiv mit dem Fall befasst und mit seinen Bereichsleitern über die Entscheidungsvorlage von Frau Petersen beraten. Das können wir durch die beschlagnahmten Kalenderdaten und die Zeug*innenaussagen genau nachvollziehen. Nur sind all diese Vorgänge nicht veraktet. Auch als 2017 dann die eigentlich bindenden Weisungen aus dem Bundesfinanzministerium kam, das Hamburger Amt solle die Steuerrückzahlung doch noch einholen, hat sich die Finanzbehörde unter Führung von Peter Tschentscher zuerst vehement gewehrt, bevor sie dem Druck aus Berlin nachgegeben hat. Die Bank musste schließlich doch zahlen.

Gegenüber Tschentscher gab es mehrmals Rücktrittsforderungen, unter anderem von Seiten der CDU und der NGO Finanzwende. Siehst du das auch so? Sollte er zurücktreten?

Wenn man sich die Beweislast anguckt und die Indizien, hat er auf jeden Fall fahrlässig gehandelt, als er in den Steuerfall eingegriffen hat. Er wusste ganz genau, worum es geht und wusste, dass es rechtswidrige Geschäfte sind, weil es schon 2013 den Fall der HSH Nordbank gab, die auch in Cum-Ex-Deals verwickelt war. Trotzdem hat Tschentscher für die Interessen der Bank lobbyiert, anstatt das Geld zurückzufordern. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass er zurücktreten sollte. Er war immerhin der Chef der Behörde.

Es gab im August 2022 noch einen viel beachteten Bargeldfund: 200.000 Euro in einem Schließfach von Johannes Kahrs. Da wurde viel über eine Verbindung zum Fall Warburg und den Vermittlungsbemühungen von Kahrs spekuliert. Erwartet ihr dazu neue Erkenntnisse aus Köln?

Der Fall ist eher schwierig, denn solange nichts Schriftliches gefunden wird, wird die Herkunft des Geldes wahrscheinlich nicht aufzuklären sein. Ich vermute, das wird erstmal nicht weiterverfolgt, es sei denn, jemand sagt noch aus, etwas dazu mitbekommen zu haben.

Es könnte also sein, dass Kahrs mit der Geschichte einfach damit davonkommt?

Ja.

Im PUA richtet ihr euer Augenmerk schon wieder auf den nächsten großen Player in der Causa Cum-Ex, die staatliche HSH Nordbank, die mittlerweile Hamburg Commercial Bank heißt. Worum geht es da?

Bei der HSH-Geschichte gab es im Grunde überhaupt keine öffentliche Aufklärung seitens der Politik. Die Bank hatte 2013 ein Gutachten in Auftrag gegeben, das ergab, dass 2008 bis 2011 rund 127 Millionen Euro Steuern und Zinsen mittels Cum-Ex Geschäften hinterzogen worden waren, und sich dann selbst angezeigt. Vermutlich gab es einfach Akteur*innen in der Bank, die von den Geschäften nichts wussten und den Prozess in Gang gesetzt haben. Jedenfalls hat die HSH das Geld 2014 zurückgezahlt. Ob damit der gesamte Schaden abgedeckt ist oder es noch weitere illegale Geschäfte der Bank gab, wurde von Seiten der Behörden nie nachgeprüft. Es ist auch überhaupt nicht aufgearbeitet, wer da Bescheid wusste, ob es Absprachen mit dem Finanzamt gab und so weiter. Die erste Sichtung von Korrespondenzen zu dem Fall lässt erahnen, dass da noch ein paar Leichen im Keller liegen.

Auch die West LB und die LBBW, beides Landesbanken, haben Cum-Ex-Geschäfte getätigt. Hier sitzen auch Politiker*innen in den Aufsichtsräten. Da steht die Frage im Raum, was die wussten?

Dass Politiker*innen irgendwo in Aufsichtsräten sitzen, heißt noch nicht, dass sie auch an den Geschäften beteiligt waren. Zumal es immer Leute gab, die dafür gesorgt haben, dass die entsprechenden Finanzprodukte am Ende seriös aussahen. Cum-Ex-Geschäfte funktionieren nur mit engen Absprachen, weil die »Beute«, also die zurückerstattete Steuer, am Ende unter allen beteiligten Akteur*innen aufgeteilt werden muss. Und es werden Aktien hin- und hergeschoben und Leerverkäufe getätigt. Auch die Finanzämter haben meist gar nicht gemerkt, dass Steuern hinterzogen wurden. Schon hier fehlte also die Expertise, und in den Aufsichtsräten ist man noch weiter weg vom Alltagsgeschäft der Bank, wo teilweise täglich neue Finanzprodukte erfunden werden.

Zur Verhinderung von Cum-Ex-Geschäften wurde 2012 eine wichtige Gesetzeslücke geschlossen, auch bei einem ähnlichen Geschäftsmodell, sogenannten Cum-Cum-Deals, wurde 2016 gesetzlich nachgebessert. 2021 hat ein Rechercheteam nachgewiesen, dass vor allem diese Cum-Cum-Geschäfte trotzdem in großem Stil und zwar auf globaler Ebene weiter gehen. Wie ist das möglich?

Ja, es gibt eine Reihe solcher Geschäftsmodelle, die darauf ausgerichtet sind, Steuervorteile für Banken oder andere Akteur*innen zu schaffen. Und es gibt Anwaltskanzleien, die darauf spezialisiert sind, genau dafür gesetzliche Regelungslücken aufzuspüren. Genau dafür werden dann immer neue Finanzprodukte entwickelt, um in diese Lücken reinzugehen und Gewinne abzuschöpfen. In den Steuerbehörden gibt es nicht genug Personal, um solche Fälle zu verfolgen, das wissen auch alle. Obwohl einige Geschäftsmodelle eindeutig illegal sind: Die Zeit und die Ressourcen sind nicht da, auch bei den Strafverfolgungsbehörden nicht. Betriebsprüfer*innen und Staatsanwält*innen, die sich mit dieser speziellen Materie auskennen, fehlen sowieso. Und irgendwann verjähren solche Sachverhalte. Das ganze Ausmaß solcher Geschäfte kann ich nicht wirklich abschätzen, aber es gibt Hinweise, dass es schon wieder eine ganze Reihe neuer solcher Finanzprodukte auf dem Markt gibt.

Die CDU hat jüngst einen Untersuchungsausschuss auf Bundesebene gefordert, der explizit die Rolle von Olaf Scholz und sein Verhältnis zur Warburg Bank ermitteln soll. Von der Ampelregierung wurde das mit Verweis auf formale Gründe zurückgewiesen. Meinst du, ein weiterer PUA könnte Olaf Scholz doch noch gefährlich werden?

Von Olaf Scholz wird in so einem PUA nicht viel mehr kommen, das ist klar. Aber es gibt viele Indizien, die Scholz belasten. Und es gibt durchaus noch offene Prozesse, der Prozess gegen Olearius zum Beispiel hat noch gar nicht angefangen. Es könnte natürlich sein, dass Olearius darin nochmal mehr auspackt und Scholz belastet. Insofern ist es wichtig, dass der PUA auf Bundesebene kommt. Wir wissen zwar schon sehr viel, trotzdem sind wir auch in Hamburg noch längst nicht allen Indizien nachgegangen. Das gilt auch für die Rolle von Tschentscher. Es fühlt sich manchmal so an, als hätten wir gerade erst angefangen mit unserer Arbeit.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.