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Player, Potenziale, Positionen

Bei der US-Wahl ist nur eines sicher: Es wird Turbulenzen geben

Von Daniel Gutiérrez

Wer nach der Wahl am 3. November ins Weiße Haus einzieht ist noch unklar, sicher ist nur, dass politische Unruhen bevorstehen. Foto: kelly bell photografy/ Flickr , CC BY 2.0

Vorauszusagen, was zwischen jetzt und dem 3. November, dem Tag der US-Wahlen, passieren wird, ist in etwa so, als würde man das Ende eines Football-Spiels voraussagen wollen: Der Ball ist noch im Spiel und der Countdown zum Spielende noch lange nicht abgelaufen. Es ist noch Zeit, um sich zu positionieren, doch mit der ablaufenden Zeit sinkt die Zahl der Optionen. Um zu denkbaren Szenarien zu gelangen, müssen wir zuerst die Spieler und ihre Potenziale, ihre erreichten Positionen und den aktuellen Stand untersuchen.

Kapitalistische Klasse

Die kapitalistische Klasse insgesamt ist politisch kollabiert. Üblicherweise werden ihre Fraktionen teilweise von der Republikanischen und teilweise von der Demokratischen Partei repräsentiert. Und üblicherweise konkurrieren diese beiden Parteien innerhalb eines allgemeinen Konsenses um die wankelmütigeren Teile der Klasse.

Doch angesichts der aktuellen Krise wird deutlich: Der Konsens, ein gemeinsames Verständnis über die Spielregeln, existiert nicht mehr. Entsprechend fehlt jegliche Einigkeit in der Krisenbewältigung – oder Nicht-Bewältigung. Das betrifft die Wirtschaftskrise ebenso wie die Corona-Pandemie, die Krise der Legitimation der Institutionen und die Krise der Gesellschaft im Allgemeinen – schmerzhaft sichtbar geworden in den Kämpfen von Black Lives Matter (BLM) und jenen der sich organisierenden neokonservativen und rechten Kräfte.

Das Jacobin Magazine und zugehörige Medien haben in den letzten Wochen immer wieder verdeutlicht, wie die Demokratische Partei daran scheitert, das veränderte Spiel und seine Einsätze zu verstehen. Betrachtet man Politik als eine Partie Schach, lässt sich sagen, dass die Republikaner*innen das Spielbrett vom Tisch gefegt und das Haus in Brand gesetzt haben, während die Demokrat*innen im brennenden Haus weiter darauf bestehen, auf die Regeln des Spiels zu bestehen.

Doch die kapitalistische Unterstützung für US-Präsident Donald Trump bröckelt. Er hat die mehrheitliche Unterstützung des Finanz- und Techkapitals verloren. So erhielt Trump 2016 Wahlkampfspenden in Höhe von fast 21 Millionen US-Dollar aus diesem Wirtschaftszweig. Für die Wahlen 2020 ist dieses Budget auf 10,6 Millionen US-Dollar zusammengeschrumpft. Joe Biden, der demokratische Präsidentschaftskandidat, hat für seinen Wahlkampf 51 Millionen US-Dollar aus eben diesem Zweig erhalten.

Der repressive Staatsapparat

Der Staatsapparat ist selbst tief gespalten. Dies gilt insbesondere für den repressiven Staatsapparat. Menschen aus der Navy (Marine), mit denen ich gesprochen habe, berichten von tiefen Spaltungen der unteren Ränge, aber auch davon, dass die Offiziersklasse Trump generell ablehnt. Aktuelle Umfragen bestätigen die schwindende Unterstützung für Trump in den Streitkräften. Dem entgegen zeigt besonders der extrem große Einwanderungs- und Zollermittlungsdienst (ICE) eine erschreckende Loyalität zum Präsidenten. Und auch lokale Polizeikräfte und ihre Gewerkschaften sowie die DEA, die Drogenvollzugsbehörde, gehören meist zum Trump-Lager.

Die Arbeiterklasse bleibt fragmentiert und befindet sich in einer Art politischem Findungsprozess. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen sind zwischen der alten Garde der Demokratischen Partei und den neuen progressiven Kräften um die Justice Democrats und die Kampagne des linken Demokraten Bernie Sanders gespalten. Während Umfragen darauf hindeuten, dass Biden die mehrheitliche Unterstützung der Latinx- und asiatischen Community genießt und Schwarze Wähler*innen ihn in den Vorwahlen wählten, macht er bei Wähler*innen of Color – gerade bei Jüngeren -, die bei der letzten Wahl Trump gewählt hatten, keinen Boden gut. Dem entgegen fühlen sich große Teile der weißen Arbeiterklasse immer noch von Trumps Rassismus angesprochen.

Die pluralistische Linke

Die größte und kohärenteste linke Kraft sind die Democratic Socialists of America (DSA) mit etwa 70.000 Mitgliedern. Doch auch sie haben sich zum Beispiel während der jüngsten BLM-Proteste als ziemlich schwach erwiesen. Ihr Problem: Sie haben keinen Einfluss auf produktive oder reproduktive Funktionen.

Als Bewegung hat außerdem BLM große Mobilisierungskraft. Doch jenseits von Mobilisierungen und einfacheren Formen der Verweigerung und Blockade ist die Bewegung nicht in der Lage, aktiv die Richtung der Veränderung vorzugeben. Besonders die jüngsten Proteste, die zweite Welle dieser Protestbewegung, beweist das. Dazu kommt, dass staatliche Akteure sich immer wieder an einer tödlichen Umarmung versuchen, einer Demobilisierung durch Einbindung. Das deutet an, dass sie BLM durchaus das Potenzial zutrauen, die Macht ebendieser staatlichen Akteure infrage zustellen. Doch wie ist derzeit unklar.

Die faschistische Rechte

Es ist offensichtlich, dass die BLM-Proteste im Vergleich zu den rechten Kräften zahlenmäßig überlegen sind. Doch die politische Inkohärenz von BLM und der Mangel an politischer Organisierung verschafft den trumpistischen Kräften einen klaren Vorteil. Diese Kräfte profitieren vom Machtapparat – ihr Anführer ist schließlich niemand Geringeres als der Präsident selbst. Was vorher ein loses Netzwerk von lokalen faschistischen Konglomeraten war, versammelt sich geeinter als je zuvor hinter Donald Trump.

Das Besondere: Die faschistische Rechte hat keinen eigenständigen Parteiapparat aufgebaut, weil sie diesen überhaupt nicht benötigt. Sie kann ihren Einfluss durch eine gute Vernetzung in die Staatsapparate geltend machen, und für koordinierte und gemeinsame Aktionen sind sie durch ein dezentrales Imperium von YouTube-Channels, Internetforen, Podcasts, Gun Clubs, Kirchengemeinden, evangelikalen Netzwerken, Männer-Clubs und Gruppen aus der Männerrechtsbewegung, Milizen, Truppenstandorten und Polizei-Gewerkschaften verbunden. Es ist ein dichtes Netzwerk, und Trump ist die Personifizierung des roten Fadens geworden, durch den sich die Akteure des Netzwerks zu einer mehr oder weniger kohärenten politischen Kraft, ganz ohne eigene Partei, formiert haben.

Vereint sind sie in ihrem fanatischen Antikommunismus. Der Autor und Aktivist Richard Seymour beschreibt diese Feindbildentwicklung einprägsam über Rückbezüge auf Sigmund Freuds Traumtheorie. Alles Bedrohliche wird unter dem Dach des Antikommunismus in einen einzigen, diabolischen Feind komprimiert. Die Rechten bedienen auf diese Weise das alte antisemitische Bild von der jüdisch-bolschewistischen Krake mit diversen Tentakeln, so Seymour. Er sieht den Antikommunismus als eine Projektion von Gedanken, Wünschen und Trieben, die anders nicht eingestanden werden können. Diese These scheint nicht allzu fernliegend angesichts der Forschungsergebnisse der Wissenschaftlerin Chiara Migliori: Sie fand im ländlichen Ohio ganze Kommunen in Angst vor einer fürchterlichen kommunistischen Verschwörung.

Das größte Problem: Dieses verschwörungsideologische Weltbild delegitimiert den (vermeintlich kommunistisch unterwanderten) Staat und legitimiert so den Einsatz von außerparlamentarischer Gewalt. Der psychoanalytisch aufgeladene Feind hat die bürgerliche Demokratie völlig entwaffnet und vollständig delegitimiert: die Medien inklusive aller Trump-Kritik, die sie äußern, das Postamt, die Demokraten, die Protestierenden und selbst die Wahl als solche.

Nach der in der US-amerikanischen Geschichte beispiellosen Abschaffung der politischen Spielregeln hat Trump klar gemacht, dass er die Wahl nur als seine Wiederwahl anerkennen wird. Da die Regeln nicht mehr gelten – warum sollte er sein Amt abtreten?

Entsprechend ist eine Phase politischer Instabilität nicht auszuschließen. Diese ist bereits angelaufen, wird sich aber am Wahltag kristallisieren. Um den Sieg zu sichern, sind die Republikaner dabei, 50.000 »Wahlbeobachter*innen« zu rekrutieren, die sich aus Polizist*innen (die am Wahltag nicht im Dienst sind) und aus faschistischen Milizen zusammensetzen werden. Trump hat bereits angekündigt, sie in mehrheitlich demokratisch wählenden Nachbarschaften einzusetzen. Eine gewalttätige Auseinandersetzung ist also durchaus möglich. Dass Trump den Proud Boys, eine rein männliche Organisation, die den Widerstand gegen die Staatsgewalt propagiert, nach der ersten TV-Debatte gesagt hat, sie sollen »sich zurück und in Bereitschaft halten« kann auch als Drohung an antifaschistische Kräfte verstanden werden.

Die bevorstehende Gewalt

Sollte die Wahl abgebrochen werden oder Trump verlieren, wird mit der amerikanischen Tradition gebrochen und politisches Neuland betreten. Wie Barton Gellam in The Atlantic schreibt, gibt es »keinen Präzedenzfall oder Verfahren zur Beendigung der Wahlen für den Fall, dass Biden die Mehrheit der Stimmen erhält, Trump sich aber weigert abzutreten. Wir werden eines erfinden müssen.«

Von der Führung der Demokratischen Partei kann nichts Neues erwartet werden: Theatralik, aber nichts mit ernsthafter politischer Substanz. In diesem Sinne fehlt nicht nur ein gesetzliches, sondern auch ein politisches Verfahren. Biden erwartet, dass Trump im Zweifel von irgendjemandem vom Stuhl getragen wird. Völlig unklar ist: von wem?

Es bleiben zwei weitere Spielzüge. Eine ist die Möglichkeit eines Generalstreiks, um Trump zu einem Rückzug zu zwingen. Die jüngsten wilden Streiks in der Basketball-Profiliga NBA haben deutlich gemacht, welche Macht in der Arbeitsverweigerung liegen kann. Und der NBA-Streik war bereits das zweite Mal, dass unter Trump ein politischer Streik mit Wirkung ausgerufen wurde: Am 25. Januar 2019 hatte Sarah Nelson, Gewerkschaftspräsidentin der Association of Flight Attendants, zu einem Generalstreik zur Beendigung der Haushaltskrise aufgerufen und maßgeblich zum Ende der Regierungsblockade beigetragen.

Es ist vorstellbar, dass Sarah Nelson – eine enge Verbündete von Bernie Sanders, der DSA und den Justice Democrats – gemeinsam mit populären und einflussreichen Sportler*innen zu einem Generalstreik aufruft. Damit könnte der Schritt zu wirtschaftlichen Massenaktionen vollzogen werden. Während und nach der Wahl müssen wir allerdings auch mit gewalttätigen Angriffen durch faschistische Milizen rechnen. Ihre politische Organisierung und Radikalisierung ist in den oben beschrieben kulturellen Kämpfen neokonservativer Kräfte vorangetrieben worden.

Um diese außerparlamentarische Auseinandersetzung zu verhindern, ist es auch denkbar, dass das Militär einschreitet und Donald Trump aus dem Amt entfernt. Ein solcher Schritt würde das Vertrauen in die Finanzmärkte wiederherstellen. Weshalb es durchaus realistisch ist, dass zahlreiche Vertreter*innen aus beiden Parteien einen solchen Schritt mittragen würden. Aus der Perspektive der Kapitalist*innen wäre dies wohl der schlauste Weg.

Alle Szenarien für Trumps Wahlniederlage erfordern jedoch, dass Biden sich zu einer politischen Strategie verpflichtet, in der die faschistische Lebenswelt entwaffnet und rechts-radikale Kapitalist*innen eingehegt werden – etwas, worauf er mit seiner Schachspieler-Partei nur kläglich vorbereitet ist.

Und dann gibt es noch den Fall, dass Trump die Wahl gewinnt. Denn die Prognosen lagen schon vor vier Jahren daneben. Mögliche Folge davon: das Ende der US-Hegemonie und – damit verbunden – verzweifelte Manöver eines sterbenden Empires (wie ein Krieg gegen China). Die Weichen wären gestellt für ein Szenario, dass national wie international kaum friedliche Lösungen ermöglicht.

Daniel Gutiérrez

Daniel Gutiérrez ist Mitglied von DIE LINKE und CounterPower/ContraPoder sowie Mitbegründer der Werkstatt für Bewegungsbildung. Als Doktorand an der Freien Universität Berlin forscht er zu Organisation, Macht und Strategien der Arbeiterklasse.

Übersetzung: Jan Kossak. Eine englische Version des Artikels gibt es hier.