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|ak 698 | Geschlechter­­verhältnisse

Schockwellen aus Kassel

Das Bundessozialgericht greift in die medizinische Versorgung von trans* Personen ein

Von Freddy Mo Wenner

Foto von drei Personen die ein Transpi halten. Auf dem Transpi steht "action for trans health"
Die Forderung nach besserer Gesundheitsversorgung ist nicht neu. Foto: Ross Burgess/Wikimedia , CC BY-SA 4.0 DEED

Die Geschichte der Gesundheitsversorgung von trans* Personen ist eine Geschichte voller Missverständnisse – und sie ist eine unendliche Geschichte. Jüngste Episode: das mündliche Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) von Ende Oktober zur Kostenübernahme von körpermodifizierenden Operationen bei einer nicht-binären Personen.

Dabei schien sich gerade in den letzten 15 Jahren einiges zum Besseren zu wenden: Weltweit hatte ein Paradigmenwechsel in der klinischen Psychologie und der medizinischen Behandlung von trans* Personen einen neuen, einen besseren Rahmen gegeben. Und trotzdem steht nun plötzlich im Raum, dass die medizinische Versorgung von trans* und nicht-binären Personen in Deutschland für zwei bis drei Jahre zumindest teilweise ausgesetzt werden könnte.

Das Kasseler Gericht hat den Fortschritt im Umgang mit trans* und nicht-binären Personen, die medizinische Maßnahmen in Anspruch nehmen, nicht nur als Verständniszugewinn verstanden, sondern als eine neuartige Behandlungsform interpretiert. Aus Sicht des Gerichts gibt es in so einem Fall formal keinen Rechtsanspruch mehr, der sich auf die bisherige Rechtsprechung für die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung beziehen kann. Nun soll der Gemeinsame Bundesausschuss der Krankenkassen und Ärzte (mit ganzen zwei Patient*innen-Vertreter*innen) Nutzen und Wirtschaftlichkeit der Behandlungen überprüfen und beurteilen. Ein Verfahren, das sich ohne anderslautende gesetzliche Vorgaben über etwas mehr als zwei Jahre erstrecken könnte und das noch nicht einmal vom Bundessozialgericht selbst initiiert werden kann.

Bislang bezog sich der Leistungsanspruch von trans* Personen auf übernommene, medizinische Versorgung allein auf die Rechtsprechung seit 1987. Das war der Erfolg vieler verschiedener Einzelklagen gegen immer neue Ablehnungsversuche der Krankenkassen. Wie weitreichend sich das Urteil konkret auswirkt, wird sich erst mit dem schriftlichen Urteil in Kombination mit dessen Auslegung durch die Krankenkassen erweisen.

Die Kassen und ihr Medizinischer Dienst (MDK) sind dafür bekannt, dass sie aus einem unscharf formulierten Halbsatz einen formalen Ablehnungsgrund herauszuquetschen bereit sind. Nicht die Gesundheitsfürsorge, sondern die (nur vermeintliche) Kostenvermeidung scheint oft die Triebfeder im bürokratischen Ablauf zu sein.

Macht und Ohn-Macht

Im Kasseler Verfahren kommen patriarchale und cis-sexistische Machtverhältnisse zum Vorschein, die sich bis heute durch Gesellschaft, Wissenschaft und die staatlich organisierten Institutionen ziehen. Das Kasseler Urteil wurde möglich, weil ihm (mindestens) 35 Jahre politischer Untätigkeit im Bundestag seit der ersten gerichtlichen Anerkennung des kassenfinanzierten Leistungsanspruchs vorausgingen. Es wurzelt auch in den Herausforderungen, vor denen Richter*innen stehen, wenn sie über ihr juristisches Fachwissen hinausgehen und in den laufenden Prozess der »Entpathologisierung« einsteigen sollen. Hinzu kommen die zunehmenden anti-feministischen, rechten und evangelikalen Mobilisierungen mitsamt ihren Desinformationen. Auch einige kleine Zirkel, die Feminismus vereinnahmen und ihre trans-destruktive Fantasien zu Politik machen wollen, spielen eine Rolle. (ak 698) All diese Akteur*innen haben einen großen medialen Resonanzraum.

Geschlechtervielfalt wird meist in der angeblich enormen Differenz zwischen den Kategorien gedacht.

In der Konsequenz leben trans*, inter* und nicht-binäre Menschen als im Wortsinn macht-lose Minderheit. Denn an allen Entscheidungsstellen – in den Parlamenten, Gerichten, Redaktionen, Krankenkassen, ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen, in den Universitäten und Orten der Wissensproduktion – sitzen seit jeher in erdrückender Mehrheit Menschen, die endo (=nicht inter*) und cis (=nicht trans* oder nicht-binär) sind und sich selbst mit dem (hetero-)normativen, binären Geschlechtersystem zuordnen. Das Selbstverständnis der mehrheitlich cis positionierten Behandler*innen wird vom Trans*Sein und dem Variantenreichtum von Körpern herausgefordert, was dann traditionell mit Othering und Wir/Ihr-Konstruktionen zu lösen versucht wird. Geschlechtervielfalt wird meist in der angeblich enormen Differenz zwischen den Kategorien gedacht. Selten als die gelebte Bandbreite innerhalb der Kategorien oder gar als ein kleinteiliges Mosaik geschlechtlich interpretierter Aspekte in jedem einzelnen Menschen.

Abschied von der Cis-Normativität

Das cis-normative Selbstverständnis mit der Annahme, Transition sei eine zeitlich abgrenzbare, schrittweise und größtmögliche Angleichung des sichtbaren Körpers an das Aussehen von cis Frauen bzw. cis Männern zuzüglich einiger »sozialer« Veränderungen, ist Vergangenheit. Ebenso, dass die »Ursache« eine psychische »Identitätsstörung« sei. Ebenfalls ein Auslaufmodell ist, dass die Deutungshoheit der Identität vor allem bei Psycholog*innen und keinesfalls in der eigenen, reflektierten, erspürten, von bisherigen Zuschreibungen emanzipierten Selbstauskunft liegen soll.

Soweit die Theorie. In der gelebten Praxis löst sich ein Teil der cis Fachleute im Gesundheitssystem nur langsam von den gewohnten Denkmustern. Außerdem bleibt ihnen oft die Sorge, dass Menschen ihre informierte Entscheidung bereuen könnten. Das löst bei einem Teil der Behandler*innen dann einen paternalistischen Reflex oder das Gefühl einer moralisch-emotionalen Mitschuld aus. Manche haben Sorge, dass sie von »Regreter*innen« auf eine finanzielle Entschädigung verklagt werden, weil die Behandler*in noch mehr hätte hinterfragen, anzweifeln und prüfen sollen – wie es bisher auch eine ausdrückliche Aufgabe war, völlig ungeachtet der Tatsache, was für ein Übergriff und eine Fremdbestimmung das im Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Therapeut*in und Klient*in darstellen kann. Zu fremd bleibt cis Personen meist die Erfahrung von Inkongruenz oder Dysphorie, die Kollision mit der vermeintlich natürlichen Geschlechterzuschreibung.

Der Sinn von medizinischen Behandlungen von trans* Personen bei körperlicher Dysphorie gilt jedoch schon lange als gesichert: Die Gesundheitsdaten und die Erhebungen zur Teilhabe sprechen Bände. »Zugang zu medizinischer Versorgung rettet trans* und nicht-binären Menschen das Leben«, sagen viele, die sie in Anspruch nehmen und bestätigen damit die Zahlen zur Abnahme von Suizidalität und psychischen Folgeerkrankungen. Salutogenese heißt dieser Teil der Gesundheitsversorgung: Verbesserung und Erhalt von möglichst viel Gesundheit. Das Gegenteil nennt sich Pathogenese: Wenn Krankheiten oder Verletzungen so weit wie möglich geheilt werden.

Trans*Sein wird insgesamt nicht mehr gleichbedeutend mit der Inanspruchnahme medizinischer Versorgung als umfangreiches und relativ festes Gesamtpaket verstanden. Trans*Sein ist bei manchen Menschen auch überhaupt nicht mit einem medizinischen Versorgungsbedarf verbunden. Dies zeigen auch die in den Communities entwickelten Kurzdefinitionen, die nur noch sehr abstrakt sagen: Eine Person versteht sich meist dann als trans* und/oder nicht-binär, wenn sie sich nicht mehr (oder nicht mehr ausschließlich) der seit der Geburt zugeschriebenen Geschlechterkategorie zugehörig weiß. Derartige Definitionen sind damit auf viele, vergeschlechtlichte Aspekte anwendbar, seien sie kulturell konstruiert, auf das körperliche Selbsterleben oder das Aussehen bezogen.

Darum haben auch die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APA) 2009 und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2019 in ihren Diagnose-Katalogen für Krankheiten und Gesundheitsfürsorge die Begrifflichkeit ohne »trans« gestaltet. Im Rahmen von Anamnese und Diagnostik wird jetzt der konkrete und individuelle Behandlungsbedarf aufgrund von körperbezogener Geschlechts-Inkongruenz und -Dysphorie erhoben. Die Diagnose ist dementsprechend im WHO-Katalog ICD-11 nicht mehr im Kapitel für die psychische Gesundheit, sondern unter »Zustände in Bezug auf sexuelle Gesundheit« zu finden.

Unerwartete Rückwärtsrolle im Sozialrecht

Der Schock über das mündliche BSG-Urteil in den Communities sitzt tief, die Sorge und die zusätzlichen, psychischen Belastungen sind groß. Angetreten waren die klageführende Person Robin Nobicht und die erfahrenen Rechtsanwält*innen Friederike Boll und Kathrin Niedenthal mit zwei spezifischen Fragestellungen: ob eine kassenfinanzierte, operative Maßnahme eine Verortung als ausschließlich männlich oder weiblich erfordert und ob offene Nicht-Binarität vom MDK und den Krankenkassen weiter als Ablehnungsgrund eingesetzt werden darf.

Nun rächt sich die erfolgreiche Verzögerungstaktik von FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann beim sogenannten Selbstbestimmungsgesetz in Bezug auf den Geschlechtseintrag doppelt: Das zähe Ringen um den Fortschritt dort (wobei »Fortschritt« sich nur auf den zeitlichen Prozess und keinesfalls die inhaltliche »Ausgestaltung« des Gesetzentwurfs (siehe ak 694) beziehen kann) scheint alle queerpolitischen Kräfte in der Koalition gebunden zu haben. Weder von der überfälligen Reform des Abstammungsrechts für die Kinder in Regenbogenfamilien, noch den Verbesserungen beim Schutzgesetz für intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche ist bislang etwas zu sehen; erst recht nicht für den in der Koalitionsvereinbarung verabredeten Gesetzentwurf zur gesetzlichen Verankerung der Gesundheitsversorgung von trans Personen.

Die Grünen, die FDP und die Linksfraktion hatten die Verankerung bereits 2020/21, als Grüne und FDP noch Opposition waren, in ihren Gesetzentwürfen bzw. in einem Antrag gefordert. Dies wäre die überfällige gesetzgeberische Verwirklichung des Grundrechts auf Gesundheit. Ein Grundrecht, das sich selbst im bürgerlichen Rechtsstaat aus den Prinzipien der körperlichen Unversehrtheit und des Sozialstaats in den Artikeln 2 und 20 des Grundgesetzes ableitet. Eine gesetzliche Regelung würde die Entscheidungsmacht der Krankenkassen über trans* Personen, die eine Gesundheitsversorgung benötigen, beenden. Statt Antragsverfahren würde endlich alles, wie sonst üblich, mit Überweisungen zwischen den qualifizierten Behandler*innen laufen.

Für eine linke, feministisch-machtkritische Praxis gehören eine gemeinschaftlich-solidarische Finanzierung von Gesundheitskosten und das Ende patriarchaler, cissiger Selbstzentriertheit ohnehin zusammen.

Trans* und nicht-binäre Personen organisieren seit der Nachricht aus Kassel Community Care. Das reicht von der Organisierung des Informationsflusses und geschützter Austauschrunden über Entwürfe für Widerspruchsschreiben bis hin zum emotionalen Support im direkten Umfeld. Sie werden demnächst noch mehr als bisher solidarische Umverteilung von Geld für den Erhalt und Ausbau der psychosozialen Peerberatungs-Strukturen sowie der Zwischen- oder Vorfinanzierung medizinischer Versorgung einzelner Personen benötigen. Haltet Augen, Arme und wem es möglich ist, die Geldbeutel offen. Trans*Gesundheitsversorgung rettet Eure Genossin*nen.

Freddy Mo Wenner

berät seit 2011 Menschen in verschiedenen Kontexten, moderiert Gruppen und Gespräche, hält Vorträge und gibt Seminare und Workshops.