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Die Zeitbombe ist hochgegangen

Im nordsyrischen Hasakah wurde die größte koordinierte militärische Aktion islamistischer Kräfte seit 2019 zurückgeschlagen – die Gefahr aber bleibt

Von Sebastian Bähr

Rund 5.000 militante Islamisten waren im Sinaa-Gefängnis in Hasakah, auf das der IS jetzt den Angriff verübte, inhaftiert. Schon 2019 war das Gefängnis überbelegt und die Sicherheitslage äußerst prekär. Foto: Sebastian Bähr.

Das Sinaa-Gefängnis in der nordsyrischen Stadt Hasakah ist neben dem Flüchtlingslager Hol eines der bekanntesten Symbole für die Bürde, die das multiethnische Projekt Rojava trägt. Nach dem militärischen Sieg über den »Islamischen Staat« im Frühjahr 2019 musste die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien einen Umgang mit den radikalisierten Anhänger*innen des selbsternannten Kalifats finden. Dies betraf neben Zehntausenden Familienangehörigen vor allem etwa 12.000 gefangene IS-Kämpfer, unter ihnen bis zu 3.000 ausländische Dschihadisten aus mehr als 50 Nationen, inklusive mehrerer Deutscher. Alleine rund 5.000 dieser militanten Islamisten waren im Sinaa-Gefängnis untergebracht, der größten Haftanstalt in Rojava.

Die Gefahr, die von den Insassen ausging, war bekannt. Wer als Journalist*in Ende 2019 das Gefängnis besuchte, erhielt von der Anstaltsleitung eine Bitte: Im Gespräch mit den Gefangenen solle man möglichst nicht erwähnen, dass der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi tot war. Auch über die im Oktober begonnene Invasion der Türkei solle man nichts sagen. Beide Informationen könnten die Häftlinge zum Aufstand ermutigen. Dass dies kein abwegiger Gedanke war, zeigten die Sicherheitsvorkehrungen und die Anspannung des Wachpersonals. Die Corona-Pandemie hatte in den vergangenen zwei Jahren dazu die ohnehin schlechten Lebensbedingungen hinter den Mauern noch desolater werden lassen. Bereits im März 2020 brachten Gefangene für mehrere Stunden das Erdgeschoss des Gefängnisses in ihre Gewalt. Sie forderten den Zugang von NGOs und die Rückholung durch ihre Herkunftsstaaten. Über die Zeit gab es immer wieder Übergriffe und kleinere Ausbruchsversuche, zuletzt im November 2021. Das Gefängnis war eine tickende Zeitbombe.

»Hammer der Völker«

Zu Beginn diesen Jahres ging sie nun hoch: Am 20. Januar griffen mehrere IS-Zellen in einer umfangreichen und offenbar lange vorbereiteten Operation das Gefängnis an, während Tausende Häftlinge zeitgleich eine Revolte starteten – die größte militärisch koordinierte Aktion der islamistischen Kräfte seit 2019. Laut der Generalkommandantur der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), der Militärallianz von Rojava, zündeten die IS-Kämpfer am Eingang des Haftzentrums zu Beginn eine Autobombe. Sie griffen von drei Seiten das Gefängnis an und versuchten, die Kontrolle über den Gebäudekomplex zu erlangen. Den Häftlingen gelang es, Wachpersonal als Geiseln zu nehmen und sich teilweise zu bewaffnen, zahlreiche Gefangene konnten in die umliegenden Gebiete fliehen. Über Tunnelsysteme in den Nachbarvierteln Xiwêran und Zihûr wurde der Angriff unterstützt.

Die SDF-Truppen, die Polizeikräfte der Asayîş und Unterstützungseinheiten der US-geführten Anti-IS-Koalition zogen daraufhin einen Belagerungsring um das Haftzentrum, auch die umliegenden Viertel wurden abgeriegelt, eine Ausgangssperre verhängt. Ihre Operation zur Verteidigung der Region nannten sie »Hammer der Völker«. In erbitterten Kämpfen konnten die Sicherheitskräfte dann bis Ende Januar die vollständige Kontrolle über das Gefängnis sowie die umliegenden Stadtviertel zurückerlangen. Mehrfach führten sie dabei Razzien gegen Schläferzellen und Unterstützer*innen der Islamist*innen durch. Die SDF setzte während der Auseinandersetzungen gepanzerte Fahrzeuge ein, die Anti-Allianz-Koallition auch Hubschrauber und Kampfflugzeuge. Die Dschihadisten griffen mehrfach auf Selbstmordattentäter zurück.

Die Selbstverwaltung in Rojava hatte wiederholt die Staatengemeinschaft aufgefordert, ihre Angehörigen zurückzuholen oder alternativ einen internationalen Gerichtshof vor Ort zu etablieren.

Die Bilanz der Kämpfe ist verheerend: Die IS-Zellen und die revoltierenden Häftlinge töteten laut der Selbstverwaltung 121 Menschen, darunter 77 Angehörige des Gefängnispersonals, 40 Kämpfer*innen sowie vier Zivilist*innen. Gleichzeitig kamen 374 IS-Anhänger*innen ums Leben. Wie viele davon Kinder oder Jugendliche sind, ist unbekannt. In einem Extra-Bereich des Gefängnisses wurden männliche Heranwachsende untergebracht, die unter dem IS in der Jugendorganisation »Junglöwen des Kalifats« militärisch ausgebildet worden waren. Teile des Gefängnisses sowie der Nachbarschaft sind zerstört. Tausende Anwohner*innen flohen nach Angaben der Vereinten Nationen zeitweise vor den Gefechten.

Wie ist das Ergebnis der Kämpfe zu bewerten? Die Sicherheitskräfte von Rojava haben letztlich die Kontrolle über die Region behauptet und den Aufstand niedergeschlagen. Ein hochrangiger IS-Kommandeur, der »Emir« Abu Abaida, hat sich ergeben. Die Selbstverwaltung konnte damit einen taktischen Sieg erringen und Schlimmeres verhindern. Bei einem anderen Verlauf der Kämpfe hätten die IS-Anhänger möglicherweise auch andere Städte verstärkt angegriffen und im Falle eines Erfolgs eine neue Territorialherrschaft etabliert. Sie hätten vermutlich versucht, das nicht unweit gelegene Flüchtlingslager Hol mit seinen Zehntausenden IS-Angehörigen einzunehmen, die nur gering befriedete Region Deir ez-Zor zu erreichen oder Korridore bis zur irakischen Grenze und der türkischen Besatzungszone zwischen Serêkaniyê und Girê Spî zu erkämpfen. Zumindest das ist ihnen nicht gelungen.

Propagandaerfolg für den IS

Der IS konnte jedoch teilweise einen strategischen Sieg erringen. So stellt der Angriff einen enormen Propaganda-Erfolg dar, lässt sich doch suggerieren, dass man noch immer über erhebliche militärische Kräfte und Handlungsmöglichkeiten verfüge. Darüber hinaus konnte offenbar auch eine beträchtliche Anzahl an gefangenen Islamisten, darunter wohl auch Kommandeure, befreit werden. Die genaue Zahl ist bisher unbekannt, doch es könnten Hunderte sein. Die Gefahr, die von diesen Dschihadisten-Veteranen ausgeht nicht nur, aber vor allem für die Menschen in der Region ist enorm. Die weiterhin in Rojava aktiven IS-Zellen sowie die mit der Türkei verbündeten syrisch-arabischen Milizen dürften sich ermutigt fühlen, weitere Gewalttaten zu begehen.

Hierbei lohnt auch ein Blick auf die Rolle der Türkei. Eine zumindest indirekte Unterstützung des IS-Angriffs durch Ankara liegt nahe. »Eine Attacke in diesem Ausmaß hat es seit unserem militärischen Sieg über den IS nicht gegeben es ist erkennbar, dass es sich um einen strategisch geplanten und organisierten Angriff handelt«, vermutete auch Zaidan Al-Assi, der Ko-Vorsitzende im Verteidigungsausschuss von Rojava gegenüber der kurdischen Agentur ANF-News. Alles deute daher für ihn daraufhin, dass die IS-Zellen von einer internationalen Kraft gefördert wurden. »Der Zweck dahinter besteht darin, die von uns etablierte Stabilität in den Autonomiegebieten zu zerstören«, so Al-Assi.

Direkte Angriffe gab es dabei auch: Während der Kämpfe in Hasaka wurde ein militärischer Konvoi der SDF von türkischen Kampfdrohnen beschossen, Artillerie feuerte verstärkt auf Ortschaften entlang der Besatzungszone. Anfang Februar bombardierte die Türkei zudem mehrere Gebiete in Rojava, in der irakischen Sindschar-Region sowie das irakische Flüchtlingscamp Mexmûr. In Deutschland gab es als Reaktion in mehreren Städten Proteste. Brisant ist dabei, dass für die vergleichsweise umfangreicheren Bombardements in Nordsyrien die internationale Anti-IS-Koalition offenbar der Türkei den Luftraum überlassen hatte. Der Ko-Vorsitzende des Volksrates der beschossenen Stadt Derik, Muhammad Abdul Rahim, erklärte: »Die Garantiemächte (der internationalen Waffenstillstandsabkommen in Nordsyrien, gemeint sind die USA und Russland, Anm. des Autors) sollten sich entweder an ihre Versprechen halten und gegen diese Angriffe Stellung beziehen oder sich aus unseren Gebieten zurückziehen.« Nur kurz nach den Luftangriffen in Rojava hatten US-Spezialkräfte in der syrischen Region Idlib unweit der Grenze zur Türkei den IS-Anführer Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi getötet. Beobachter*innen vermuten, dass es hier möglicherweise eine Absprache zwischen Washington und Ankara gab beide Staaten sollten sozusagen einen »Erfolg« verbuchen können.

Westliches Desinteresse

Angesichts der Tragweite des islamistischen Aufstands sowie der erneut zweifelhaften Rolle Ankaras ist das öffentliche Desinteresse auffällig. Von den Staatsregierungen gab es kaum Reaktionen. Die neue Bundesregierung mit ihrer »wertebasierten Außenpolitik« hielt sich komplett zurück. In den hiesigen Medien wurde dazu verhältnismäßig wenig berichtet. Dies einzig mit der Corona-Pandemie zu erklären, wäre zu kurz gegriffen. Schon gegenüber den letzten türkischen Aggressionen in Nordsyrien und Nordirak herrschte auf der Weltbühne weitestgehende Gleichgültigkeit. Der türkische Faustpfand des Flüchtlingsdeals sowie die Position als südliche Nato-Flanke scheint einen großen Handlungsspielraum zu ermöglichen. Seit dem militärischen Sieg über den IS wird dazu der Verbleib der IS-Gefangenen und ihrer Angehörigen von weiten Teilen der internationalen Öffentlichkeit vornehmlich als »syrisches Problem« betrachtet.

Die Selbstverwaltung in Rojava hatte dabei wiederholt die Staatengemeinschaft aufgefordert, ihre Angehörigen zurückzuholen oder alternativ einen internationalen Gerichtshof vor Ort zu etablieren und bei der Unterbringung der Häftlinge Unterstützung zu leisten. Die meisten Länder zeigten sich jedoch sehr zurückhaltend und suchten nach Ausflüchten. Deutschland erklärte, es gebe keine formellen Kontakte zur syrischen Regierung, von daher könne man nicht handeln. Bis zum Oktober 2021 hatte die Bundesregierung dann lediglich acht Frauen und 32 Kinder von der Selbstverwaltung übernommen, auch aufgrund entsprechender Gerichtsurteile, die dies einforderten. Etwa 100 weitere IS-Anhänger*innen mit deutscher Staatsbürgerschaft befinden sich jedoch noch in den Lagern und Gefängnissen in Rojava. Ob welche von ihnen in den Kämpfen von Hasakah ums Leben kamen oder fliehen konnten, ist unbekannt. Insgesamt dürften bis auf den Irak auch die anderen Staaten bisher nur einige Hundert ihrer Staatsbürger*innen zurückgeholt haben, vornehmlich Frauen und Kinder.

Klar ist: Die Präsenz Tausender ausländischer IS-Kämpfer und ihrer Angehörigen stellt eine anhaltende enorme Belastung für das Projekt in Nordsyrien dar – ökonomisch, humanitär und aufgrund der Gefahr, die von diesen Menschen ausgeht. Sollte die Türkei eine weitere völkerrechtswidrige Invasion beginnen, muss mit parallelen umfangreichen Aktionen gestärkter IS-Zellen und Aufstandsversuchen gerechnet werden. Die fehlende Verantwortungsübernahme der Staatengemeinschaft schafft so selbst die Voraussetzungen für neuen Terror – in Rojava wie auch im Rest der Welt.

Sebastian Bähr

ist Journalist. Bis Ende 2021 war er Redakteur der Tageszeitung neues deutschland.