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Das Ende der Isolation

In den Niederlanden wird die PVV von Geert Wilders stärkste Kraft und offenbart die rassistische Normalität im Land

Von Felix Sassmannshausen

Drei Männer stehen an Rednerpulten. Der Mann in der Mitte redet, der rechts schaut ihm zu.
Für Marc Rutte (Mitte) war nicht der Rassismus von Geert Wilders (rechts) die rote Linie, sondern seine Europapolitik. Jetzt ist Wilders’ PVV stärkste Kraft geworden. Foto: Minister-president Rutte / Flickr, CC BY 2.0 Deed

Die extrem rechte Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders ist bei den Parlamentswahlen im November in den Niederlanden stärkste Kraft geworden. Der Wahlerfolg ist Ausdruck einer rassistischen Geschichte und Normalität im Land. Die Regierungsbildung dürfte dennoch schwer werden.

Es ist kaum ein halbes Jahr her, dass sich der niederländische König und der nunmehr kommissarisch amtierende Ministerpräsident Mark Rutte für die Sklavereivergangenheit der Niederlande entschuldigt haben. Mit großem Staatsakt und nicht weniger großer Geste inszenierte die Regierung eine geläuterte Nation und versprach zwar keine Reparationszahlungen, aber Gelder zur weiteren Aufarbeitung – etwa zu den Verstrickungen des niederländischen Königshauses in den atlantischen Dreieckshandel.

Zeitgleich mit dem Festakt fanden mit Ketikoti auch die alljährlichen Feierlichkeiten zur Emanzipation von der Sklaverei in Suriname statt. Dabei wurde nicht nur auf die historische Verantwortung der Niederlande für die Sklaverei verwiesen, sondern auch auf das Fortleben dieser Vergangenheit in Form von Rassismus.

Dieser ist in den Niederlanden weitverbreitet. Einer repräsentativen Umfrage des Nachrichtensenders EenVandaag zufolge erfuhren im Jahr 2020 knapp zwei Drittel der People of Colour in ihrem Alltag rassistische Diskriminierung. Und in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts I & O Research vom Sommer dieses Jahres gaben nur 40 Prozent der Befragten Niederländer*innen an, die Entschuldigung der Regierung für die Kolonial- und Sklavereigeschichte mitzutragen.

Auch Geert Wilders lehnte dies grundsätzlich ab und konnte nun bei den niederländischen Parlamentswahlen im November seinen bisher größten Erfolg verbuchen. Mit 37 von insgesamt 150 Abgeordneten stellt seine Partei die stärkste Fraktion im Parlament. Wilders spielt damit eine Schlüsselrolle bei der Regierungsbildung und könnte der nächste Premierminister werden.

Rechte Rivalität

Während die Sondierungsgespräche bereits begonnen haben, wird es wohl eine Weile dauern, bis es eine neue Regierung gibt. Das ist zwar nicht ungewöhnlich in dem politisch fragmentierten Land – die letzte Regierungsbildung dauerte knapp 300 Tage. Allerdings steht Wilders vor einer besonderen Herausforderung: Er ist auf eine Zusammenarbeit mit rechten Parteien angewiesen, die einer Regierung unter seiner Führung ausgesprochen skeptisch gegenüberstehen.

So hat die bisher regierende neoliberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) angekündigt, nicht in einer Regierung unter einem Premierminister Wilders zusammenarbeiten zu wollen. Die Parteivorsitzende Dilan Yesilgöz erklärte unmittelbar nach der Wahl, man werde allenfalls eine Minderheitsregierung unterstützen, sofern Wilders sich an rechtsstaatliche Prinzipien halte.

Die VVD, die unter dem Ministerpräsidenten Mark Rutte seit 13 Jahren in wechselnden Koalitionen an der Macht war, gilt neben der linksliberalen Partei D66 als größte Verliererin bei den Wahlen.

Das letzte Kabinett unter Rutte war an der festgefahrenen Asyl- und Migrationspolitik der Niederlande gescheitert, die darum ein zentrales Thema im Wahlkampf war. Aufgrund mangelnder Finanzierung und fehlender Aufnahmeplätze für Asylbewerber*innen, darunter viele unbegleitete Minderjährige, mussten bereits im vergangenen Winter Hunderte Geflüchtete in der Kälte vor Aufnahmezentren wie in Ter Apel ausharren.

Im Sommer dieses Jahres eskalierte der Streit in der Viererkoalition aus VVD und christlich-konservativer CDA auf der einen sowie D66 und christlich-sozialer CU auf der anderen Seite. Anstatt die Versorgung in den Aufnahmezentren zu verbessern, wollten die VVD und CDA den Familiennachzug von Geflüchteten mit temporärem Asylstatus beschränken. Das war für die CU eine rote Linie. Nach mehreren Versuchen, einen Kompromiss zu finden, zerbrach die Koalition – der Grund für die vorgezogenen Neuwahlen im November.

Im Wahlkampf konnte Wilders von der rassistischen Stimmung und dabei vor allem von der Unzufriedenheit vieler VVD-Wähler*innen profitieren. Rund 15 Prozent von ihnen wechselten zur PVV, die zudem mehr Nichtwähler*innen mobilisieren konnte als bei der letzten Wahl.

Galt die Partei vielen bei vergangenen Wahlen noch als zu extrem, bemühte sich der rechte Politiker in seiner Wahlkampagne, gemäßigter aufzutreten als zuvor. Und nach seinem Wahlsieg erklärte er, dass er als Premierminister innerhalb der Grenzen des Rechts regieren und für alle Niederländer*innen unabhängig von Herkunft oder Religion da sein wolle.

Rassistische Affäre

Ob er dieses Versprechen als neuer Premierminister der Niederlande einhalten wird, hängt vor allem davon ab, ob seine künftigen Koalitionspartner*innen ihn bremsen. Dafür kommt in erster Linie die neu gegründete christlich-konservative Partei Neuer Gesellschaftsvertrag (NSC) des ehemaligen CDA-Spitzenpolitikers Pieter Omtzigt infrage, die mit 20 Parlamentssitzen aus dem Stand ein ebenso starkes Ergebnis erzielte wie die PVV.

Die Popularität Omtzigts erklärt sich unter anderem aus seiner Schlüsselrolle, die er bei der Aufklärung über die sogenannte Toeslagenaffaire spielte: Die niederländische Steuerbehörde hatte über Jahre hinweg mehr als 20.000 überwiegend migrantische Eltern zu Unrecht verdächtigt, bei Kinderbeihilfen betrogen zu haben.

Sie hatte dabei gemäß einer Regierungsrichtlinie gehandelt, die zum schärferen Vorgehen gegen »Sozialbetrug« anhielt. Zu dem Zweck entwickelte die Behörde einen Algorithmus, der ein Risikoprofil von Bürger*innen erstellte. Dabei wurden insbesondere Familien mit vermeintlich ausländischen Namen und mit Postleitzahlen in stark migrantisch geprägten Vierteln herausgestellt.

Der größte rassistische Skandal der niederländischen Nachkriegsgeschichte kam erst durch Klagen von Betroffenen ans Licht der Öffentlichkeit und führte zum Rücktritt des vorherigen Kabinetts Rutte im Jahr 2021.

Während die konservative Partei in den folgenden vorgezogenen Wahlen an der neuen Regierung beteiligt war, sollte Omtzigt nach geheimen Absprachen politisch kaltgestellt werden, weil er bei der Aufarbeitung des Skandals im Untersuchungsausschuss als entscheidende Triebkraft wirkte. Er war Rutte deshalb persönlich ein Dorn im Auge.

Nachdem auch dieser Skandal öffentlich wurde, sich die CDA aber nicht hinreichend hinter ihn stellte, trat der konservative Politiker Omtzigt aus der Partei aus. Die neu gegründete Partei NSC trat bei der aktuellen Wahl mit dem Versprechen an, einen Wandel der Regierungs- und Verwaltungskultur herbeizuführen und wurde nun als viertstärkste Kraft ins Parlament gewählt.

Sie landete gleich hinter dem grün-linken Wahlbündnis unter dem ehemaligen Eurokommissar Frans Timmermans und der neoliberalen Partei VVD von Rutte. Die Sozialistische Partei ist mit nur 5 Sitzen weit abgeschlagen.

Eine Koalition aus NSC und PVV wäre aufgrund der christlich-nationalen Ausrichtung von Omtzigt durchaus denkbar. Doch bislang will er sich noch nicht auf eine Zusammenarbeit mit der extrem rechten Partei festlegen. Als Bedingung für Koalitionsverhandlungen fordert er von Wilders ein grundlegendes Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie er dem öffentlich-rechtlichen Sender NOS gegenüber erklärte.

Damit wendet er sich vor allem gegen den Rassismus von Wilders und dessen Angriffe auf die unabhängige Justiz. So wurde der extrem rechte Politiker 2020 vor einem niederländischen Gericht für rassistische Aussagen über Marokkaner*innen verurteilt. In seiner Reaktion auf das Urteil insinuierte Wilders, das Gericht habe auf Geheiß der niederländischen Regierung gehandelt. Und auch seine islamfeindlichen Forderungen verstoßen, sollte er sie umsetzen, gegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit, wie etwa seine Forderung aus dem Jahr 2007, den Koran verbieten zu wollen.

Allerdings zeigte sich Wilders in dem Zusammenhang zuletzt kompromissbereit. Gegenüber dem niederländischen Sender Nieuwsuur erklärte er, dass andere Themen als der Islam aktuell höhere Priorität für ihn besäßen. Dies habe er auch Omtzigt gesagt, dessen Zurückhaltung er als politisches Spiel bezeichnete und dabei auf ein Gespräch zwischen den beiden Politikern verwies, in dem sie über mögliche Eckpunkte einer gemeinsamen Koalition gesprochen hätten.

Soziale Probleme

Eine derartige Koalition wäre mit großen Herausforderungen konfrontiert, darunter zunehmende Armut, Wohnungsknappheit und hohe Mieten in den Ballungsräumen. Darüber hinaus haben die Klimapolitik und insbesondere die sogenannte Stickstoffkrise in den letzten Jahren viele Landwirt*innen gegen die bisherigen Regierungen aufgebracht. Um die Stickstoffemissionen zu reduzieren und damit EU-Vorgaben einzuhalten, müssen Landwirt*innen in den Niederlanden ihren Viehbestand und ihren Düngergebrauch in der Nähe von Naturschutzgebieten drastisch reduzieren.

Eine derartige Koalition wäre mit großen Herausforderungen konfrontiert, darunter zunehmende Armut, Wohnungsknappheit und hohe Mieten in den Ballungsräumen.

Davon konnte bei der Wahl insbesondere die rechtslibertäre Partei Boer Burger Beweging von Caroline van der Plas profitieren, die schon zuvor bei den regionalen Wahlen zur Ersten Kammer der Niederlande, vergleichbar mit dem Bundesrat in Deutschland, stärkste Partei geworden war. Mit sieben Prozent der Stimmen bei der nun erfolgten Parlamentswahl gilt die Bauernpartei von van der Plas als sichere Koalitionspartnerin für Wilders.

Da sich die meisten rechten Parteien in Bezug auf die Klima-, Asyl- und Migrationspolitik ohnehin einig sind, dürfte es hier keine größeren Spannungen geben. Und auch in sozial-, wohnungs- und wirtschaftspolitischen Fragen gibt es mit Wilders an der Spitze der Regierung wohl keine großen Streitthemen, da die PVV in diesen Politikbereichen als flexibel gilt.

Dennoch könnte sich eine von der VVD geduldete Minderheitsregierung unter Führung der PVV nur kurz im Amt halten – allerdings nicht wegen des Rassismus von Wilders. Vielmehr überschreitet insbesondere die Europapolitik der PVV bei der langjährigen Regierungspartei VVD eine rote Linie. Letztere steht wie keine andere politische Kraft für eine neoliberale Integration der Niederlande in die Europäische Union. Die lehnt Wilders indes fundamental ab und hatte in der Vergangenheit schon für einen Nexit plädiert, einen niederländischen Exit aus der EU.

Und auch dies hat eine Vorgeschichte: So hatte ein Konflikt zwischen den beiden Parteien mitten in der sogenannten Eurokrise bereits im Jahr 2012 zu einem fundamentalen Bruch geführt. Nachdem eine von Rutte geführte Minderheitsregierung unter Duldung der PVV an einer Blockade von Wilders zerbrochen war, wurde die extrem rechte Partei in der niederländischen Politik jahrelang formal isoliert – bis zu ihrem jetzigen Wahlsieg.

Felix Sassmannshausen

ist freier Journalist und Politikwissenschaftler. Er arbeitet schwerpunktmäßig zu den Benelux-Ländern und schreibt über soziale Konflikte, insbesondere um Arbeit.