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Aufruhr im Musterland

Nach Massenprotesten in Panama gegen Preissteigerungen und das neoliberale Wirtschaftsmodell hat die Regierung Reformen versprochen – umgesetzt sind sie bislang nicht

Von René Thannhäuser

Ein großes (leeres) Containerschiff in einer Anlegestelle in einem Kanal, im Hintergrund grüne Hügel und ein weiteres, mit Containern beladenes Schiff
Etwa Dreiviertel der Wirtschaftsleistung Panamas hängen mit dem Panama Kanal zusammen, bei der Bevölkerung kommt davon nur wenig an. Schleuse in Miraflores, kurz vor dem Pazifik. Foto: Patrick Rohe / Flickr, CC BY-ND 2.0

Die Massenproteste, die Panama im Juli für drei Wochen lahmlegten, kamen in ihrer Wucht und ihrem Ausmaß vollkommen überraschend. Denn vielen galt das zentralamerikanische Land aufgrund seiner stabilen politischen Verhältnisse und seines hohen Wohlstandsniveaus als Vorzeigeland in Lateinamerika. Doch unter der Oberfläche rumorte es schon seit längerem gewaltig. Ein Aktivist der Lehrer*innengewerkschaft ASOPROF beschrieb den Beginn der Proteste entsprechend als einen »Vulkanausbruch«.

Der unmittelbare Anlass für die Eruption der Unzufriedenheit waren die extremen Preissteigerungen von Lebensmitteln, Treibstoffen und Medikamenten in der ersten Jahreshälfte. Zehntausende beteiligten sich an Streiks, Straßenblockaden und Demonstrationen im gesamten Land und forderten die Regierung dazu auf, Maßnahmen zu ergreifen. Schnell richteten sich die Proteste eines Teils der Massen jedoch gegen das panamaische Entwicklungsmodell selbst. Denn in Lateinamerika hat Panama neben Chile in den vergangenen Jahrzehnten den radikalsten neoliberalen Umbau der Gesellschaft vollzogen.

Extreme Einkommensungleichheit

1989 hatten die USA in einer Invasion den Diktator Manuel Noriega gestürzt. In den Folgejahren privatisierten panamaische Regierungen Staatsunternehmen, bauten Arbeitsrechte ab und schufen ein für Investitionen ausländischen Kapitals attraktives Klima. Spätestens seit der Veröffentlichung der Panama Papers ist das Land auch als Steueroase bekannt. Investor*innen schwärmen vom Finanzzentrum Panama-Stadt als »Dubai von Amerika«.

Doch die ökonomische Lebensader des Landes ist der Panamakanal, der den Atlantischen mit dem Pazifischen Ozean verbindet. Etwa Dreiviertel der Wirtschaftsleistung Panamas hängen mit dem Kanal zusammen. Durchfahrtsgebühren, Freihandelszonen um den Kanal herum und das lukrative Geschäft mit Schiffsregistrierungen – jedes fünfte Handelsschiff der Welt ist in Panama gemeldet – sorgen für kontinuierliche Einnahmen.

Laut der Ökonomin Maribel Gordón ist der Kanal indes nur »eine Enklave der Wirtschaftseliten, die nicht der nationalen und sozialen Entwicklung dient«. Denn die Weltbank zählt Panama zu den 14 Ländern mit der höchsten Einkommensungleichheit. Seit dem neoliberalen Umbruch in den 1990er Jahren hat sich die Wirtschaftsleistung pro Kopf verdreifacht und ist heute die dritthöchste Lateinamerikas. Doch Armut und Prekarität eines großen Teils der Bevölkerung ist das Fundament dieses Wohlstandes.

Im Jahr 2019, also noch vor den verheerenden Auswirkungen der Corona-Pandemie, bezifferte das panamaische Wirtschaftsministerium die Armutsquote im Land auf 21,5 Prozent und die der extremen Armut – also einer Situation des Hungers – auf zehn Prozent. In peripheren ländlichen Regionen und unter den Indigenen, die rund ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen, ist die Lage deutlich dramatischer. Anfang 2022, nachdem sich die Wirtschaft wieder einigermaßen von der Corona-Rezession erholt hatte, wurde der stetig wachsende Anteil der informell Beschäftigten auf über 50 Prozent geschätzt.

Generalstreik und »Nationaler Dialog«

In dieser Situation war der Stein des Anstoßes der Massenproteste ein am 6. Juli durch die Lehrer*innengewerkschaft ASOPROF ausgerufener dreitägiger Generalstreik. Dem Aufruf schlossen sich unmittelbar Gewerkschaften, soziale Organisationen und Verbände von Studierenden und Indigenen an. Wie ein Lauffeuer erfasste der Generalstreik das gesamte Land. Mancherorts reagierte die Polizei mit dem Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas.

Präsident Laurentino Cortizo, von der nominell sozialdemokratischen, praktisch jedoch neoliberal-konservativen und den ökonomischen und kulturellen Eliten des Landes nahestehenden PRD führte in einer Fernsehansprache am 14. Juli die Situation auf »die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine, also auf externe Faktoren« zurück. Im Gegensatz zu einigen lateinamerikanischen Regierungschefs, die in den vergangenen Jahren durch anhaltende Massenproteste gestürzt worden waren, lud Cortizo unmittelbar einige Vertreter*innen der Protestbewegung zu einem »Nationalen Dialog« ein.

In Lateinamerika hat Panama neben Chile in den vergangenen Jahrzehnten den radikalsten neoliberalen Umbau der Gesellschaft vollzogen.

Militante Fraktionen der Protestbewegung, insbesondere die Allianz des vereinten Volkes für das Leben (APUV), blieben ausgeladen. Die Organisationen der APUV, darunter die ASOPROF und die mächtige Baugewerkschaft SUNTRACS, verkündeten, keine Verhandlungen anzuerkennen, an denen nicht alle Sektoren der Protestbewegung beteiligt seien. Unter Vermittlung der katholischen Kirche begannen dann am 21. Juli Verhandlungen zwischen der Regierung und Repräsentant*innen der Protestbewegung. Langsam ebbten die Straßenproteste ab und Anfang August beendete auch die ASOPROF ihren Generalstreik.

Die Regierung versprach bald Maßnahmen, die von Teilen der Protestbewegung als großer Erfolg gefeiert wurden. So wurde versprochen, die Preise für Lebensmittel, Treibstoffe und Medikamente zu deckeln. Alleine 200 Millionen US-Dollar sollen bereitgestellt werden, um Treibstoffe zu subventionieren. Die Preise für 72 Güter des täglichen Bedarfs sollten um 30 Prozent reduziert werden. Außerdem sicherte die Regierung zu, die Ausgaben für Bildung schrittweise auf sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erhöhen.

Zertrümmerter Verhandlungstisch

Doch es scheint, als würden verschiedene Kapitalfraktionen die Abmachungen torpedieren. Aus dem gesamten Land wurde gemeldet, dass Tankstellen sich nicht an den vereinbarten Höchstpreis für Treibstoff hielten. Supermärkte erhöhten im August zunächst die Preise der 72 Güter des täglichen Bedarfs. Anfang September wurde berichtet, dass viele dieser Güter gänzlich aus den Regalen verschwunden seien.

Saúl Méndez, der für die Baugewerkschaft SUNTRACS am »Nationalen Dialog« teilnimmt, sprach am 3. September nach rund 40 Verhandlungstagen davon, dass die Regierung »den Verhandlungstisch zertrümmert hat«. Nicht einmal die Mindestversprechen seien gehalten und über die strukturellen Ursachen der Probleme des Landes gar nicht erst gesprochen worden. Er rief die Bevölkerung dazu auf, sich bereitzumachen, wieder auf die Straßen zu gehen. Bereits im Juli hatte Méndez geäußert, dass die Verhandlungen nur dazu dienten, die Dynamik der Mobilisierungen zu stoppen. Präsident Cortizo hätte in seiner gesamten Amtszeit keinerlei Anstalten gemacht, Politik im Sinne der Mehrheit der Menschen gegen die das Land regierende »Unternehmer-Mafia« durchzusetzen.

Teile der Protestbewegung bereiten sich nun mit Hoffnung auf die 2024 in Panama anstehenden Wahlen vor. Die politische Linke, die in den vergangenen Jahren keine parlamentarische Vertretung gehabt hat, hofft auf Rückenwind. Doch die in den Händen weniger Oligarchen konzentrierten Medien warnen schon seit Wochen vor »Gewerkschaftsterrorismus« und Zuständen wie in Kuba oder Venezuela. Der Antikommunismus in Panama sitzt tief und das hegemoniale Bewusstsein der Panamaer*innen beschreibt die Journalistin Andrea Ivanna Gigena als unpolitisch und konsumistisch.

Dem Kapital könnte das zugutekommen. Bei einer Unternehmer*innen-Konferenz im August sprachen Mitglieder rechter Think-Tanks aus Chile vor. Sie rieten zu massiven Kampagnen in den (Sozialen) Medien. Mit Blick auf das Ergebnis des Verfassungsreferendums in Chile vom 4. September ist dies eine Strategie, die auch in Panama auf fruchtbaren Boden stoßen könnte.

René Thannhäuser

ist Soziologe und schreibt als freier Journalist über Mexiko und Mittelamerika.