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Mehr Selbstreflexion, genau so viel Rassismus

Auf jahrelange Kämpfe gegen Racial Profiling reagiert die Polizei mit Diversity-Schulungen – das geht am Kern des Problems vorbei

Von Katharina Schoenes

Ein Demozug läuft durch Berlin, im Juni 2017. Auf einem roten Transparent ist zu lesen: Ban Racial Profiling. Gefährliche Orte abschaffen.
Black Lives Matter-Demo 2017 in Berlin: Protest gegen rassistische Polizeiarbeit bleibt auch 2023 notwendig, denn bislang wurden vor allem symbolische Verbesserungen erkämpft. Foto: Montecruz Foto (2017) , CC BY-SA 4.0

Der Begriff des ›Racial Profiling‹ ist aus den USA bekannt.« So antwortete die Bundesregierung 2008 auf eine parlamentarische Anfrage zu institutionellem Rassismus. Weiter heißt es in der Antwort: »In der Bundesrepublik verbietet sich eine solche Vorgehensweise schon aufgrund des Grundgesetzes und des rechtstaatlichen Systems. Daher bedienen sich weder das Bundeskriminalamt (BKA) noch die Bundespolizei eines solchen Instruments.« Heute klingt das etwas anders: Zwar bestreitet die Bundesregierung weiterhin hartnäckig die Tatsache, dass Polizist*innen in Deutschland Personen aufgrund von Hautfarbe oder anderen rassifizierten Merkmalen kontrollieren. Jedoch betont sie inzwischen den hohen Stellenwert, den die Menschenrechte und die Verhütung rassistischer Diskriminierung in der Aus- und Weiterbildung von Bundespolizist*innen hätten. In Antworten auf neuere parlamentarische Anfragen hebt das Bundesinnenministerium zudem hervor, dass den Beamt*innen bei Schulungen mit Referent*innen aus der Zivilgesellschaft auch die »Perspektive der Betroffenen« vermittelt werde.

Offenbar sieht die Bundesregierung sich also mittlerweile gezwungen, eine Auseinandersetzung mit Kritik an institutionellem Rassismus zumindest vorzutäuschen. Das ist eine Reaktion auf anhaltende Proteste gegen Racial Profiling in den letzten Jahren. Der Diskurs um rassistische Polizeikontrollen hat sich verschoben – das geht auch an der Bundesregierung nicht spurlos vorbei.

Kontrollen vor Gericht

Der langjährige Aktivist und Mitbegründer der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), Biplab Basu, erinnert sich, dass es zunächst kaum Resonanz gab, als KOP in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre begann, öffentlich Racial Profiling zu thematisieren. Geändert habe sich das erst ab 2012, als zum ersten Mal ein deutsches Verwaltungsgericht (VG) über eine rassistische Zugkontrolle zu entscheiden hatte. Geklagt hatte ein Schwarzer deutscher Student, der bei einer Fahrt in einem Regionalzug von Kassel nach Frankfurt als einziger von der Polizei kontrolliert worden war. Das VG Koblenz vertrat damals die Auffassung, dass es zulässig sei, wenn die Bundespolizei auf bestimmten Strecken Personen nach Hautfarbe kontrolliere. Die Entscheidung wurde noch im selben Jahr in der zweiten Instanz durch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz revidiert, löste aber zunächst großen öffentlichen Protest aus.

Zum Beispiel startete die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) gemeinsam mit anderen Gruppen die Kampagne »Stoppt Racial Profiling«. Diese war mit einer Petition an den Deutschen Bundestag verbunden, die Forderungen wie die Einrichtung einer unabhängigen Meldestelle, die Abschaffung verdachtsunabhängiger Kontrollen und eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes enthielt. Die Petition wurde nicht angenommen, aber von knapp 16.000 Personen unterzeichnet. Zu den Reaktionen auf das Urteil gehörte außerdem der Dokumentarfilm »ID without colors« des Filmemachers Riccardo Valsecchi, der im Sommer 2013 in Berlin Premiere feierte. Darin sprechen verschiedene Personen – Aktivist*innen, Kulturschaffende, Passant*innen, Autor*innen – über ihre Erfahrungen mit rassistischen Polizeikontrollen. So wird deutlich, dass Racial Profiling in der BRD für viele Menschen eine alltägliche Erfahrung ist. Der Film stieß bundesweit auf enormes Interesse. Basu erzählt, dass er in dieser Zeit durch die ganze Republik reiste, um den Film zu zeigen und mit Gruppen zu diskutieren, die davon ausgehend begannen, sich mit Rassismus bei der Polizei auseinanderzusetzen.

Es folgten weitere strategische Klagen gegen rassistische Kontrollen – und weitere Kampagnen. 2016 musste sich das OVG Koblenz erneut mit Racial Profiling befassen. Diesmal stellte es klar, dass Polizeikontrollen, die an die Hautfarbe einer Person anknüpfen, verfassungswidrig sind, weil sie gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes verstoßen. 2018 entschied das OVG Münster, dass Kontrollen auch dann unzulässig sind, wenn die Hautfarbe ein ausschlaggebendes Motiv neben anderen darstellt. 2022 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die BRD, weil deutsche Behörden eine mutmaßlich rassistische Polizeikontrolle aus dem Jahr 2012 nicht wirksam aufgeklärt hatten. Aktivist*innen und Anwält*innen bezeichneten diese Urteile als »Meilensteine« im Kampf gegen Racial Profiling – an der Rechtslage und der Arbeit der Polizei ändern sie jedoch bislang nichts.

Die Systematik leugnen

Die Bundespolizei darf an Bahnhöfen, an Flughäfen und in Grenznähe Menschen ohne konkreten Anlass befragen, durchsuchen oder deren Identität feststellen. Ziel dieser Kontrollen ist es, »unerlaubte Einreisen« zu unterbinden und grenzüberschreitende Kriminalität aufzudecken. Jedes Jahr führt die Bundespolizei zwischen zwei und drei Millionen solcher Kontrollen durch, hinzu kommen seit 2015 noch rund zwei Millionen stationäre Grenzkontrollen jährlich an der deutsch-österreichischen Grenze. Zu welchem Anteil nach rassistischen Kriterien kontrolliert wird, wird behördlich nicht erhoben. Das macht es den Regierenden leicht, die Systematik von Racial Profiling zu leugnen.

Erfahrungsberichte von Betroffenen und Aussagen einzelner Beamt*innen legen allerdings nahe, dass Polizist*innen in erster Linie Personen kontrollieren, die ihnen aufgrund ihres vermeintlich »nicht deutschen« Aussehens verdächtig erscheinen. Das liegt nicht an den Einstellungen oder der mangelnden Sensibilität der Beamt*innen, sondern am Auftrag der Bundespolizei selbst: Sie soll an den Grenzen Menschen ohne das passende Visum aufgreifen. Menschen, die vor Krieg oder Verfolgung geflohen sind oder ihre Heimat verlassen mussten, weil es dort aus anderen Gründen keine Perspektive mehr für sie gibt. Solche Migrationskontrollen lassen sich nicht »diskriminierungsfrei« umsetzen – daran kann auch die beste Diversity-Schulung nichts ändern.

Eine ähnliche Praxis gibt es in den Bundesländern, in denen die Polizei befugt ist, bestimmte öffentliche Plätze oder Straßenabschnitte zu sogenannten Gefahrengebieten oder kriminalitätsbelasteten Orten zu erklären. Dort kann sie dann ebenfalls Menschen ohne konkreten Straftatverdacht kontrollieren, was regelmäßig zu rassistischen Maßnahmen führt. Schwerpunkteinsätze der Polizei gehen an den »gefährlichen Orten« oftmals mit Verdrängungsprozessen einher. Um diese Plätze aufzuwerten, sollen Geflüchtete, Jugendliche, Obdachlose oder Drogennutzer*innen von dort vertrieben werden.

Neben strategischer Prozessführung und Kampagnenarbeit dokumentieren Copwatch-Gruppen in vielen Städten Fälle von rassistischer Polizeigewalt. Die Chronik der Berliner KOP etwa umfasst mehr als 330 Einzelberichte seit dem Jahr 2000 und vermittelt eindrücklich, wie systematisch die Berliner Polizei Geflüchtete, Migrant*innen und Schwarze Menschen kriminalisiert. Dieser kontinuierlichen Arbeit ist es zu verdanken, dass heute auch über migrantische Communitys und linke Kreise hinaus bekannt ist, dass Racial Profiling existiert – und Betroffene auf mehr Solidarität hoffen können als noch vor zehn bis 15 Jahren.

Bisherige »Reformen« scheinen vor allem dem Zweck zu dienen, das Image der Polizei aufzubessern.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich an der Praxis der Polizei nichts zum Besseren gewandelt hat – eher im Gegenteil. Maren Burkhardt, die als Rechtsanwältin jahrelang Betroffene von Racial Profiling vertreten hat, betont, dass die reaktionäre Bearbeitung der sogenannten Flüchtlingskrise in den letzten Jahren zu einer Stärkung der Akzeptanz von Polizeimaßnahmen an der Grenze geführt hat. So rufen die Binnengrenzkontrollen, die seit 2015 an der deutsch-österreichischen Grenze stattfinden, kaum noch Kritik hervor, obwohl sie unzweifelhaft gegen EU-Recht verstoßen. Vorübergehende Grenzschließungen während der Corona-Pandemie haben ihrerseits zur Normalisierung von Grenzkontrollen beigetragen. Teile der CDU und der Polizeigewerkschaften fordern mittlerweile unverhohlen, auch an den Grenzen zu Polen und Tschechien stationäre Kontrollen einzuführen, um dort Migrant*innen an der Einreise hindern zu können. Auf Länderebene sieht es nicht besser aus: In vielen Bundesländern wurden in den letzten Jahren die Polizeigesetze verschärft und die Polizeien mit neuer Infrastruktur, erweiterten Befugnissen und mehr Ressourcen ausgestattet.

Quittungen für Belästigungen

Weder der langjährige Aktivismus gegen Racial Profiling noch der Aufwind, den Polizeikritik infolge der weltweiten Proteste nach der Ermordung von George Floyd erfuhr, ließen sich also nutzen, um eine gesetzliche Einschränkung polizeilicher Befugnisse zu erzwingen. »Reformen« bleiben bislang weitgehend auf eine symbolische Ebene begrenzt und scheinen vor allem dem Zweck zu dienen, das Image der Polizei aufzubessern. Auf die Spitze bringt das ein Ende 2022 bekannt gewordener Leitfaden mit Empfehlungen für eine »diskriminierungssensible Sprache« der Berliner Polizei. Diese kann zwar weiterhin Geflüchtete, Obdachlose und anderweitig marginalisierte Menschen »anlasslos« schikanieren, ist aber zugleich angehalten, den eigenen Sprachgebrauch zu reflektieren und Selbstbezeichnungen Betroffener zu verwenden.

Auch mit der bevorstehenden Novelle des Bundespolizeigesetzes sind keine echten Verbesserungen zu erwarten. Der im Frühjahr vom Bundesinnenministerium vorgelegte Gesetzentwurf sieht zwar vor, ein Quittungssystem einzuführen. Das bedeutet, dass Betroffene von der Bundespolizei eine Bescheinigung über ihre Kontrolle einfordern können, die auch Angaben zum Grund der Maßnahme enthält. Die Wirkung solcher Kontrollquittungen ist aber umstritten. Es gibt Studien, die nahelegen, dass diese zum Rückgang verdachtsunabhängiger Kontrollen führen können. Gleichzeitig ist Racial Profiling damit nicht aus der Welt. Darauf weist auch das Institut für Menschenrechte in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung hin und fordert die ersatzlose Streichung der Befugnis zu anlasslosen Kontrollen.

Dieser Schritt wird jedoch bislang weder im Bund noch in den Ländern ernsthaft diskutiert – das gilt unabhängig davon, welche Parteien an den jeweiligen Regierungen beteiligt sind. Der Kampf gegen Racial Profiling ist somit noch lange nicht vorbei.

Katharina Schoenes

ist aktiv zu institutionellem Rassismus und arbeitet im Bundestagsbüro der Linksparteiabgeordneten Clara Bünger.