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Polizei und Politik in Rostock: Das »Versagen« war gewollt

Aus dem ak-Extra zu dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, November 1992

Schwarzweißaufnahme einer Fensterreihe an einer Wand, mehrere Scheiben sind eingeschlagen, die Wand ist verkohlt
Zerschlagene Fenster, verkohlte Wände: Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen nach dem Pogrom. Foto: Umbruch Bildarchiv

Das Pogrom wurde in der Presse drei Tage vorher in großer Aufmachung angekündigt. Ausführlich zitierten die örtliche »Ostseezeitung« und die »Norddeutschen Neusten Nachrichten« eine »Interessengemeinschaft Lichtenhagen«, die in Anrufen ein »heißes Wochenende« vor dem Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen androhte. »Wenn die Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das, und zwar auf unsere Weise.« Ort und Stunde wurden genannt: »In der Nacht vom Samstag auf Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf.« (NNN, 19.8.) Die städtischen Verantwortlichen kündigten demgegenüber an, sie wollten »zusammen mit Polizei und Ordnungsamt nach einer Lösung suchen«, um »eine Eskalation zu vermeiden«. Von »aufgebrachten Bürgern«, von einer »Bürgerwehr« ist die Rede, sorgfältig vermieden wird eine Benennung der »Interessengemeinschaft« als rechtsradikal oder rassistisch. Eine klare Stellungnahme für die Bedrohten unterbleibt. Von seiten der Polizei herrscht in den Tagen vor dem Pogrom Funkstille. Nicht ein Schimmer der eigentlich selbstverständlichen Aussage, man werde jeden Angriff auf die Asylbewerber verhindern. Keine Ankündigung von Polizeipräsenz und Schutzmaßnahmen, keine Warnungen an die Bevölkerung, sich von zu befürchtenden Ausschreitungen fernzuhalten (wie dann eine Woche später vor der großen Antifa-Demonstration), keine erkennbaren Fahndungsmaßnahmen nach den Urhebern der Drohungen (übrigens bis heute nicht).

Der Tenor der Presseberichte ist eindeutig: »Lichtenhäger Kessel brodelt – Anwohner fordern Schließung des Asylbewerberheims« machen die – vom westdeutschen Verleger Burda herausgegebenen – »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« am Freitag einen Artikel auf, der die Pogromdrohungen noch einmal wiederholt und als direkte Mobilisierung für den darauffolgenden ersten Tag des Pogroms zu werten ist. Im selben Artikel druckt das Blatt einen aufgebrachten Leserbrief ab, um zu unterstreichen, »wie erbost die Lichtenhäger über die Zustände im und um das Heim … sind, vor dem seit Wochen zahllose Roma kampieren«. Die Stadtverwaltung sieht noch immer keinen Grund zur Stellungnahme, »der Rostocker Innensenator reagierte mit Ratlosigkeit«.

Die Art der öffentlichen Behandlung durch Presse, Polizei und Stadt im Vorfeld signalisierte den Organisatoren des Pogroms und ihren Sympathisanten und Unterstützern zweierlei: Erstens, daß ihr »berechtigtes Anliegen«, die verhaßten Fremden endlich verschwinden zu sehen, von niemandem in Frage gestellt wird. Zweitens, daß sich niemand vor die Angegriffenen stellen wird und mit nennenswertem Einsatz von Polizeikräften nicht zu rechnen ist.

Entlarvend auch die späteren Erklärungen: Die Stadtverwaltung soll seit Monaten befürchtet haben, »daß der Haß in Lichtenhagen zur Gewalt führen werde«. Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer (CDU), behauptet, man habe die Warnungen »sehr ernst genommen» und beim Verfassungsschutz und Staatsschutz nachgefragt. Man habe auch damit gerechnet, »daß einige der Demonstranten zu Gewalthandlungen schreiten«. (Spiegel, 31.8.)

Das Pogrom beginnt

Am Samstag (22.8.) rottete sich ab dem Nachmittag eine auf 1.000 bis 2.000 Personen anwachsende Menge vor der ZAST (Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber) zusammen. 150 bis 200 – nach anderen Quellen bis zu 500 – Skinheads, aber auch Jugendliche aus Lichtenhagen und viele 30 bis 40jährige Erwachsene, greifen mit Steinen, Leuchtspurmunition, Brandflaschen und »selbstgebastelten Sprengsätzen« (Hamburger Abendblatt/HA) die Unterkunft an. Bis in den vierten Stock hinauf werden die Scheiben zertrümmert. Mehrere Autos der Polizei und der vietnamesischen Anwohner werden abgefackelt, auch ein Balkon in der zweiten Etage der ZAST fängt Feuer. Die BewohnerInnen setzen sich zur Wehr. Schon zu diesem Zeitpunkt ist unübersehbar, daß bei den Angreifern Nazis den Ton angeben: Die Beifallsstürme, die bei jedem Treffer auf das Heim losbrechen, werden von den Parolen »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus« und »Sieg Heil« begleitet.

Die Polizei ist am Samstag zunächst mit gerade 30 bis 35 Mann vor Ort, in Sommerkleidung und ohne Ausrüstung. Später werden sie durch weitere Kräfte aus Güstrow auf 50 Mann verstärkt. Erst gegen 22 Uhr werden Kraftfahrer nach Schwerin losgeschickt, um dort zwei Wasserwerfer zu holen. Die wenigen Beamten vor der ZAST haben keine Chance gegen die gut organisierten Nazis; sie werden von ihren Vorgesetzten ganz offensichtlich verheizt, einer der Eingesetzten erleidet lebensgefährliche Verletzungen. Die Schlacht zieht sich über 13 Stunden hin. Erst um zwei Uhr nachts treffen die beiden Wasserwerfer aus Schwerin ein. Bereitschaftspolizei und ein Sonderkommando aus Waldegk erhöhen die Zahl der eingesetzten Polizisten im Laufe der späten Nacht auf 150.

In dieser Nacht wurden (nach unterschiedlichen Angaben) zwischen 8 und 10 der Angreifer festgenommen. Sie waren allesamt bereits am folgenden Nachmittag wieder auf freiem Fuß.

Der Minimaleinsatz der Polizei steht in krassem Kontrast zur Erklärung des Leiters des mecklenburgischen Landeskriminalamts und damals noch amtierenden Rostocker Polizeichefs, Siegfried Kordus: »Wir hatten Erkenntnisse über Vorbereitungen und waren darauf vorbereitet, daß rechte ausländerfeindliche Trittbrettfahrer den Protest der Lichtenhäger nutzen werden, um die ZAST anzugreifen.« (OZ, 24.8.) Was auch immer die Einsatzplanung bestimmt haben mag – keinesfalls war es das Ziel, einen effektiven Schutz der Angegriffenen zu garantieren. Für das Klima bezeichnend ist die Geschichte eines Rostockers: Er wollte in dieser Nacht vier Roma, die zur ZAST zurückwollten, zu ihrem Schutz auf die Polizeiwache bringen. Doch bevor die Polizei die Menschen vor dem lynchbereiten Mob zu schützen bereit war, ließ sie »sich x-mal bitten« (OZ, 24.8.).

Selbst wenn man unterstellt, die Einsatzleitung vor Ort und die leitenden Polizeioffiziere im Schweriner Innenministerium wären am Samstag von der Militanz der Angriffe überrascht gewesen: Schon im Verlauf dieses ersten Abends wäre es ohne weiteres möglich gewesen, Unterstützung vom BGS anzufordern. Mit den großen »Puma«-Transporthubschraubern, mit denen genau eine Woche später bei der Antifa-Demonstration regelrechte Luftlandemanöver ausgeführt wurden, wäre innerhalb weniger Stunden Entsatz in Lichtenhagen gewesen.

Nazis machen mobil

Ab Sonntag (23.8.) mobilisiert die gesamte Neonazi- und Skinheadszene Norddeutschlands nach Rostock, z.T. unter Einsatz von Computernetzen und Mailboxen. Massiert sind Autos mit Hamburger, Berliner, Lübecker und Leipziger Kennzeichen in Lichtenhagen zu sehen. Die Einsätze der Nazis werden über CB-Funk organisiert, unter anderem aus einem Auto heraus, das dem Hamburger Neonaziführer Christian Worch gehört.

Das BKA sieht »keine Hinweise auf ein organisiertes Vorgehen der Gewalttäter« (FR, 27.8.), und der Hamburger VS-Chef Uhrlau bezweifelte sogar öffentlich, daß organisierte Gruppen mitgemacht hätten. Dagegen haben nach Feststellung des »Antifa-Info« (Nr. 20a) insbesondere Leute aus der »Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front» (GdNF) in Lichtenhagen mitgemischt. »Faschisten aus FAP, NF usw., sowie aus verschiedenen europäischen Ländern, darunter aus dem GdNF-Netz aus Österreich, waren ebenfalls angereist. Infrastruktur zur Unterstützung des Pogroms war vorhanden. Polizeifunk wurde abgehört, in einem Auto von Rechtsradikalen fanden Polizisten Störfunkgeräte.«

Namentlich als Teilnehmer werden in verschiedenen Quellen genannt: Christian Worch (»Nationale Liste« und in Nachfolge Michael Kühnens Zentralfigur der Neonaziszene), Ewald Bela Althans (politischer Kopf der »Gesinnungsgemeinschaft«), Christian Malcoci (vom Vorstand der »Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene«), Michael Büttner (»Deutsche Alternative« Cottbus), Gerhard Endress (als Organisator von Wehrsportübungen und derzeitiger Führer der Neonaziszene in Österreich bekannt, wurde eher zufällig in Rostock festgenommen), Erik Rundquist von der schwedischen VAM (Weißer arischer Widerstand), der DVU-Chef Gerhard Frey und der Neonazi-Terrorist Arnulf Priem. (nach konkret 10/92 und Berliner Ztg, 27.8.) Die Rostocker Kripo bestätigte, daß »die Schläger von Lichtenhagen neben physischer Unterstützung auch ›waffenähnliche Ausrüstungen‹ von gewaltbereiten Jugendlichen aus Westdeutschland bekommen hätten«. (SZ, 28.8.)

Der örtliche DVU-Chef Arno Artz nutzte die Stimmung, um in der Nähe des Heimes rassistisches Propagandamaterial zu verteilen. Hinterher wird er erzählen, daß er »seit dem Wochenende in jeder Nacht den Kontakt zu den Bürgern auf den Straßen von Lichtenhagen gesucht« hat. (HA, 27.8.) Lokale DVU-Mitglieder sollen es gewesen sein, die am Samstag die Logistik für die angekündigte »Kundgebung« vor der ZAST in die Hand nahmen und schon am Samstag vormittag auf dem Platz vor der ZAST auftauchten. (konkret 10/92)

Am Sonntag begannen bereits am frühen Nachmittag über 100 Jugendliche mit Angriffen auf das Heim. Das Ganze nahm mehr und mehr Volksfestcharakter an, »es fehlte nur mehr ein Kettenkarussell, eine Pommesbude und Zuckerwatte, die verkauft wird. … Es war alles auf den Beinen, von zehn bis siebzig Jahre alt, und hat gegafft bzw. unterstützt.« (TATblatt 14/92)

Im Verlauf des Sonntagabends stürmten »Kinder und Jugendliche« (OZ, 24.8.) das der ZAST unmittelbar benachbarte Wohnheim für vietnamesische Gastarbeiter und verwüsteten Zimmer. Dieses (von der überregionalen Presse meist unterschlagene) Vorspiel zur Brandschatzung des Heimes am folgenden Abend beweist ebenso wie Steinwürfe am Abend zuvor, daß der Angriff auf die Vietnamesen keineswegs unerwartet kam.

Mindestens 500 Personen rechnet die Polizei in dieser Nacht zum harten Kern der Angreifer, zwischen 3.000 und 5.000 »Anwohner und Anwohnerinnen« bilden die beifallklatschende Kulisse, aus der heraus die Angreifer agieren und in die sie sich immer wieder zurückziehen können. Der Ablauf entspricht dem Vortag: Eine defensiv agierende Polizei läßt den Bürgermob sich ziemlich ungestört austoben. Molotowcocktails werden auf der Straße wenige Meter vor der Polizeiabsperrung abgefüllt oder kistenweise aus Autos herbeigeschleppt.

An diesem Abend waren nach unterschiedlichen Angaben zunächst 350 bis 400 Polizisten eingesetzt, zum Schluß 600 bis 800. Erst nach Mitternacht kamen auswärtige Kräfte des BGS und der Hamburger Bereitschaftspolizei hinzu. Es war also wieder – wie am Tag zuvor, aber nun ohne jede mögliche Ausrede – sowohl zu wenig als auch zu spät auswärtige Unterstützung angefordert worden. Die Hamburger waren zudem ohne ihre modernen Wasserwerfer nach Rostock geholt worden – worüber sich der Hamburger Innensenator später öffentlich beschwerte. (HA, 27.8.)

Vergebliches Warten auf das Codewort

Aber das organisierte Gewährenlassen der Brandsatzwerfer beginnt früher und geht weiter. Auch da, wo die Polizei zeitweise das Übergewicht hatte, wurden wirksame Einsätze verhindert. Das beweisen Gespräche, die kurze Zeit nach den Ereignissen ein Reporter der »Süddeutschen Zeitung» mit rund einem Dutzend der eingesetzten Polizisten geführt hat. Er beschreibt die einhellige Verbitterung der Beamten darüber, daß ihnen jetzt das Versagen der Polizei in die Schuhe geschoben werde. Sie hätten es den Nazis gerne gezeigt, »aber wir durften es nicht«. »Sie erzählen von einem Plan, der am Sonntag, dem zweiten Krawalltag, verwirklicht werden sollte. Er lief unter dem Codenamen ›Die Sonne scheint‹. An diesem Tag seien reichlich Polizeikräfte dagewesen, ›da hieß es, wir sollen die Randalierer einkesseln. Und die Spezialtrupps hätten dann einen nach dem anderen rausgeholt. Wenn wir so vorgegangen wären, hätten wir schon am Sonntag Ruhe gehabt.‹ Sie erzählen, wie sie stundenlang darauf gewartet haben, daß über Funk das Signal ›Die Sonne scheint‹ gegeben würde, aber es passierte nicht.« Die »Süddeutsche» befragte dazu den zeitweiligen Leiter der Polizeieinsätze, Jürgen Deckert: »Es ist richtig, daß die Aktion ›Die Sonne scheint‹ geplant war. Ich selbst habe dieses Konzept entwickelt. Und es ist auch richtig, daß es nicht in die Tat umgesetzt wurde.« Warum nicht, dazu wollte Deckert nichts sagen – gegen ihn würden Anzeigen laufen. (SZ, 21.9.)

»Störer« des Pogroms festgesetzt

Dagegen machte die Polizei am Sonntag sehr effektiv Jagd auf autonome Gruppen, die zum Schutz der Flüchtlinge in die Ostseestadt gereist waren. Die AntifaschistInnen machten spät in der Nacht, nach dem Abflauen der Auseinandersetzungen, eine Demo durch Lichtenhagen. Im Anschluß daran wurden über 60 von ihnen durch das Hamburger MEK festgenommen. Ein großer Teil der 140 »Krawallmacher«, deren Festnahme die Polizei nach dieser Nacht stolz meldete, waren also AntifaschistInnen. Bundesinnenminister Seiters verbreitete in der Folgezeit – ebenso dumm wie frech – unter Berufung auf diese Festnahmen, in Rostock sei es zum erstenmal zu einer »Zusammenarbeit von Autonomen und Rechtsradikalen« gekommen.

Die Festnahme der AntifaschistInnen erfolgte zunächst ohne Angabe von Gründen, erst am Tag darauf wurde ihnen eröffnet: wegen Landfriedensbruch und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Die Gefangenen wurden alle erkennungsdienstlich behandelt und verhört, einige bei der Festnahme mißhandelt. 30 von ihnen mußten von 3 Uhr nachts bis 9 Uhr morgens mit Handschellen gefesselt im Hof der Gefangenensammelstelle stehen. Die anderen 30 wurden trotz Protest in einer Turnhalle zusammen mit 35 Faschisten festgehalten. Ein Berliner soll dabei von Nazis zusammengeschlagen worden sein. Die meisten der Antifas wurden im Lauf der folgenden Tage freigelassen, die letzten jedoch erst am darauffolgenden Wochenende. (nach einer Presseerklärung der Gefangenen sowie Antifa-Info)

Eine zweite Festnahmeaktion gegen Antifas erfolgte in der Nacht zum Mittwoch. Zwischen 22 und 30 GegendemonstrantInnen wurden wieder in der Turnhalle zusammen mit etwa 20 Neonazis festgehalten. Die Festgenommenen haben nach Angaben des Rostocker Ermittlungsausschusses 30 Stunden lang nichts zu essen bekommen. Gegen vier GegendemonstrantInnen war am Freitag bereits Haftbefehl wegen »schweren Landfriedensbruchs« erlassen; bei einer Hamburgerin habe hierfür bereits die Tatsache ausgereicht, daß sie als Beifahrerin in einem Wagen saß, in dem ein Knüppel gefunden wurde. Die Mittwochnacht gegen 2 Uhr aus ihren Autos heraus festgenommenen Antifas saßen am Donnerstag nachmittag immer noch in Polizeihaft. (taz, 28.8.)

Das Landespolizeigesetz, das für »potentielle Straftäter« eine »Vorbeugehaft« von bis zu sechs Wochen vorsieht, fand gegen die am Sonntagabend festgenommen Rechtsextremisten keine Anwendung: Die durften sich einmal richtig ausschlafen und wurden (mit wenigen Ausnahmen) am Montag rechtzeitig zur Randale wieder freigelassen. Die »Berliner Zeitung« (26.8.) berichtet, der ganze Pulk sei gleich vom Gefängnis weg in die S-Bahn gestiegen und wieder nach Lichtenhagen rausgefahren.

Es reicht noch nicht: Politiker und Presse heizen an

Daß sich die Zahl der Randalierer und Beifall klatschenden Zuschauer von Tag zu Tag erhöht habe, sei auch Schuld der Politiker, so der Hamburger VS-Chef Uhrlau: »Nachdem sie erklärt hatten, daß auch am jeweils nächsten Tag weitere Krawalle befürchet würden, hätten sich zahlreiche Rechtsextremisten auf den Weg nach Rostock gemacht.« (HA, 26.8.) Doch noch weit wichtiger dürfte die inhaltliche Bestätigung gewesen sein, die die Fascho-Horden von staatlicher Seite erfahren haben. Die Rechtfertigung der »Proteste« war ein zentraler Bestandteil der offiziellen Stellungnahmen, der auch von den obligatorischen Betroffenheits-Bekundungen und Gewalt-Verurteilungen nicht in den Hintergrund gedrängt werden konnte.

Der Rostocker Innensenator Peter Magdanz (SPD) betonte immer wieder, daß die ZAST bis Anfang September geräumt werden solle, die Ziele des rechten Straßenterrors also schon so gut wie erreicht seien. »Deshalb (!) habe er für die Aktionen vom Wochenende kein Verständnis.« (NNN, 24.8.) Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Kupfer, hatte am Sonntagabend »den Rostocker Bürgern (!) versichert, daß sie vor militanten Unbelehrbaren geschützt werden«. (ebd.) »In Worten, die unangenehm an die Nazizeit erinnern«, wie die »Times« (25.8.) befand, stellte Kupfer fest, das Verhalten der Asylbewerber hätte »Aggressionen bei ihren deutschen Nachbarn freigesetzt«, und äußerte »ein gewisses Verständnis für die Proteste«. Immerhin hatte er selber schon kurz nach seinem Amtsantritt eine »knallharte Änderung« des Grundgesetzartikel 16 gefordert und immer wieder die »Überforderung» Mecklenburg-Vorpommerns durch die Asylbewerberzuweisungen beklagt. Kupfer, der »der Schaffung von Bürgerwehren zur Bewahrung der inneren Sicherheit nicht abgeneigt ist« (SZ, 28.8.), bedauerte vor laufenden Kameras, daß »deutsche Polizisten gegen deutsche Bürger« vorgehen mußten.

Am Montag wies Kupfer alle Vorwürfe zurück, die Polizei habe zu spät und zu wenig massiv auf die Angriffe reagiert, und forderte, dem »unkontrollierten Zustrom vom Asylbewerbern« müsse sehr bald »ein Riegel vorgeschoben werden«. Ministerpräsident Seite behauptete, die Rostocker Bürger seien nicht ausländerfeindlich; »sie seien jedoch nicht bereit, den hier vorliegenden Mißbrauch des Asylrechts, vorwiegend durch Sinti und Roma, hinzunehmen«. Bundesinnenminister Seiters sah »das Hauptproblem« im »unkontrollierten Zustrom von Wirtschaftsflüchtlingen«. Auch SPD-Chef Engholm, der just an diesem Wochenende die »Petersberger Wende» in der SPD durchgepuscht hatte, fand »Ärger in der Bevölkerung über das Verhalten mancher Asylbewerber verständlich«, und SPD-Vize Thierse wollte die Ängste der (deutschen) Menschen ernstgenommen sehen. (nach HA und FAZ, 25.8.)

Unverkennbar war die tiefe innere Befriedigung all derer, die schon immer mit der Forderung nach Änderung des Asylrechts über die Lande ziehen. Die Ereignisse waren ihnen – vom Mitglied der Stadtverwaltung bis hinauf zum Bundesminister – der willkommene Beweis, wie recht sie gehabt hatten. Und sie wollten das Eisen schmieden, solange es heiß war.

Im gegebenen Kontext konnten all diese Stellungnahmen von staatlicher Seite nur als weitere Ermutigung der Rassisten und Nazis verstanden werden. Sie hatten über zwei Tage einen Sieg auf den Straßen errungen, ihre Parolen wurden von den regierenden Politikern uneingeschränkt aufgegriffen – was sollte sie daran hindern, ihren Sieg auszukosten und durch die Vertreibung der noch verbliebenen Ausländer aus Lichtenhagen zu komplettieren? Daß die wirkungslosen Polizeieinsätze von den Verantwortlichen als angemessen bezeichnet wurden, mußte sie darin bestärken, daß sich die Polizei dem auch weiterhin nicht ernsthaft entgegenstellen würde.

Auch die Presse tat alles, um die Stimmung weiter anzuheizen. Allen Ernstes werden Stimmen von Beteiligten zitiert, die behaupten, die Asylbewerber seien an den Auseinandersetzungen schuld, weil sie Gegenstände aus dem Fenster geworfen hätten. Überhaupt hätten »vor allem die Sinti und Roma … durch ihr Verhalten die Nerven der Einwohner aufs Äußerste gereizt«, »nur die Geduld der Einwohner verhinderte bisher Schlimmeres«. Breiter Raum wird den »Stimmen aus dem Volk« eingeräumt, die mit allerlei Geschichten begründen dürfen, warum die Ausländer weg müssen, und weiterem Terror die Legitimation liefern: »Wenn die Politiker nicht imstande sind, in Lichtenhagen für Ordnung zu sorgen, muß sich der gemeine Bürger eben zur Wehr setzen.« (NNN, 24.8.)

Die Brandnacht

»Rostock« ist inzwischen Chefsache geworden. CDU-Bundesinnenminister Seiters reist eigens nach Rostock und trägt spätestens seit diesem Zeitpunkt Verantwortung für das, was in Rostock geschieht und unterlassen wird. »Montag vormittag tagt ein Krisenstab. Rostocks Kommunalpolitiker und auch der Innensenator von Rostock, Magdanz, sind ausgeschlossen. Landesinnenminister Kupfer, Bundesinnenminister Seiters sowie die Polizeiführung Mecklenburg-Vorpommerns stimmen sich ab. Wer genau an diesem Krisenstab teilnahm und was dort besprochen wurde, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht worden.« (Antifa-Info) Der Rostocker Bürgermeister Kilimann berichtet von einer Sondersitzung des Landtagsinnenausschusses, an der Kupfer und er (ebenfalls am Montag vormittag) teilgenommen hätten: Dort »wurde darauf hingewiesen, daß zu sichern wäre, daß sich diese Ereignisse zumindestens in dem polizeilich beherrschbaren Rahmen halten müßten.« (Bürgerschaftssitzung vom 2.9.) Offenbar wurde also im Laufe dieses Vormittags unter den politisch Verantwortlichen Einvernehmen darüber hergestellt, das Pogrom nicht durch die Polizei niederzuschlagen, sondern laufen zu lassen.

Entgegen den noch am Sonntag und Montag wiederholten Erklärungen der Verantwortlichen von Stadt und Land, die ZAST werde wie geplant erst zum 1.9. geräumt, wurden die letzten Flüchtlinge bis Montag abend von dort weggebracht. Diese immerhin hochpolitische Entscheidung traf nach den ersten Pressedarstellungen kein Mitglied der Landesregierung, auch nicht die Leiterin des Heimes, sondern ein mittlerer Mitarbeiter der ZAST. Inzwischen hat sich allerdings im Untersuchungsausschuß des Landtags herausgestellt, daß die Räumung auf Weisung des Innenministers erfolgte. Damit wurden die Forderungen der Nazis und »Bürger» vollauf erfüllt und ihnen demonstrativ zum Sieg über alle auf dem Papier stehenden staatlichen Rechtsgarantien für ausländische Menschen verholfen. Das durch diese »Kapitulation« gegebene Signal war eindeutig: Wo der Staat aufgrund lästiger Grundrechtsgarantien nicht so handeln kann, wie es eigentlich angesagt wäre, hilft Gewalt der »Bürger«. Der durchschlagende Erfolg der Gewalttäter mußte vorhersehbar als Aufforderung zu weiteren – und noch hemmungsloseren – ausländerfeindlichen Ausschreitungen verstanden werden.

Gleichzeitig wurde Lichtenhagen systematisch von Polizeikräften entblößt, die beim Pogrom stören könnten. Mittags wurden, wie Bundesinnenminister Seiters später mitteilte, die BGS-Hundertschaften entlassen. Im Verlauf des Abends, als das Pogrom seinem Höhepunkt zustrebte, wurden 50 MEKler und 250 weitere Polizisten aus Hamburg nach Hause geschickt. (Hamburger Morgenpost (MoPo), 26.8.) Am folgenden Tag sollte in Hamburg eine Demonstration gegen das Massaker im kurdischen Sirnak und eine andere gegen das Rostocker Pogrom stattfinden …

An den Rostocker Schulen, so berichtet die »FR« (26.8.), sei noch am Vormittag zu weiteren »Protesten« vor der ZAST aufgerufen worden. Am frühen Abend sammelten sich Skins und Neonazis, die an diesem Abend eindeutig das Bild bestimmten. Die Zahl der Angreifer betrug diesmal bis zu 1.000, beklatscht von bis zu 5.000 »Zuschauern«.

Um 19.30 Uhr fliegen die ersten Steine auf Polizisten auf der S-Bahnbrücke. Kämpfe finden außerdem vor dem Flüchtlingsheim und auf der Stadtautobahn statt. Keineswegs – wie später die Polizei behauptet – »nach einer relativen Beruhigung der Situation«, sondern während anhaltender Auseinandersetzungen geschieht, was Beobachter zunächst kaum glauben können:

Kurz nach 21 Uhr zieht die Polizei vor dem Haus plötzlich ab. »Innerhalb wenigen Minuten sind rund um das Haus kein Wasserwerfer, kein Polizeiwagen und kein einziger Polizist mehr zu sehen.« (Berliner Ztg, 26.8.) Nur ein Häuflein bleibt zunächst auf der weitab vom Heim gelegenen S-Bahnbrücke zurück, und lediglich auf der Stadtautobahn geht noch eine Polizeikette gegen die Randalierer vor. Nach Aussage des Ausländerbeauftragten werden die Rechtsextremisten im Gegensatz zu den vorherigen Abenden nicht von der ZAST weg, sondern darauf zu getrieben.

Die Angreifer vor dem Flüchtlingsheim sind, so der Eindruck einiger Beobachter, vom Rückzug der Polizei überrascht und halten ihn zunächst für eine Falle. Als sie erkennen, daß die Polizei ihnen freie Hand läßt, gröhlen sie »Sieg«. Parolen wie »Hängt sie», »Lyncht sie«, »Wir räuchern sie aus« lassen an ihren Mordabsichten keine Zweifel. Es fliegen Steine und wenig später Brandsätze. Systematisch werden sie in die Fenster der unteren Stockwerke des Häuserblocks plaziert. »Jeder Molotow-Cocktail wird von der Menge mit ›Sieg Heil‹-Rufen gefeiert. Schließlich feiern sie mit ›So ein Tag, so wunderschön‹.« (Berliner Ztg, 26.8.)

Betroffen sind die beiden Häuser Mecklenburger Allee Nr. 18 – die ZAST, in der sich nur noch einige Wachleute aufhalten – und Nr. 19, in der sich über 100 vietnamesische ehemalige DDR-VertragsarbeiterInnen, der Rostocker Ausländerbeauftragte, ein ZDF-Fernsehteam sowie mehrere Wachleute und Autonome verbarrikadieren. Zwischen beiden Häusern gibt es eine Verbindung im 7. Stock.

Die Feuerwehr hat ein detailliertes Protokoll der Brandnacht vorgelegt, das sich mit den Beobachtungen von Augenzeugen deckt und das verschiedene Schutzbehauptungen der Polizei Lügen straft. Nach diesem Einsatzprotokoll geht der erste Notruf bei der Feuerwehr um 21.38 Uhr ein. Um 21.44 Uhr sind die ersten Einsatzfahrzeuge bei der ZAST, kommen allerdings durch den Pulk der Nazis nicht durch, die die Zugänge abgeriegelt haben. Die Einsatzzentrale der Feuerwehr meldet das um 21.51 Uhr an den Lagedienst der Polizei weiter, fordert Polizeischutz an und weist darauf hin, daß sich die Vietnamesinnen und Vietnamesen noch in dem Haus befinden. Feuerwehrleuten gelingt es, zu dem brennenden Haus vorzudringen und einige wenige Räume im Erdgeschoß nach BewohnerInnen zu durchsuchen. Dann werden sie von mit Eisenstangen und Baseballschlägern bewaffneten Angreifern zum Rückzug gezwungen.

Von da ab beherrschen die Rechtsextremisten völlig unangefochten das Feld. Sie können sich Zeit lassen, um die Räume gründlich zu verwüsten: Hinterher sind in den unteren Stockwerken die Möbel zertrümmert, Toilettenbecken und Elektrozähler herausgerissen. Zu Beginn verteidigen die Bewohner die Treppenaufgänge, bis das sich ausbreitende Feuer auch für die Nazis das weitere Durchkommen nach oben unmöglich macht.

Die Eingeschlossenen ziehen sich vor dem sich ausbreitenden Rauch in den 10., dann in den 11. Stock zurück. Über das Funktelefon der ZDF-Reporter versuchen sie verzweifelt, die Notrufnummern von Polizei und Feuerwehr zu erreichen, immer wieder ohne Erfolg. Schließlich gelingt es einem der Reporter über seine Frau und durch eine Intervention seines Senders, über die Westberliner Polizei den Notruf an die Rostocker Einsatzleitung weiterzugeben. Die Gefahr, im Rauch zu ersticken, wird unterdessen immer bedrohlicher, bis es einigen gelingt, mit einem zufällig aufgefundenen Brecheisen die verschlossenen Dachluken aufzubrechen. Die BewohnerInnen flüchten aufs Dach, wo sie sich aus der Furcht, von den Nazis entdeckt zu werden, flach hinlegen. Ein körperbehinderter Wachmann liegt noch 20 Minuten im Qualm, bis auch er von einem Suchtrupp gefunden wird.

Erst ab etwa 22.40 Uhr läßt sich wieder Polizei sehen, zahlenmäßig wenig und auffallend schlecht ausgerüstet. Es dauert noch bis 22.58 Uhr, bis die Feuerwehr mit den Löscharbeiten beginnen kann.

Damit ist der Abend keineswegs gelaufen: Die Auseinandersetzungen gehen weiter, wobei die Polizei mit geringen Kräften unmittelbar vor dem Haus Position bezieht und sich darauf beschränken muß, in der klassischen Schildkrötenformation hinter ihren Plastikschilden Schutz zu suchen. Beobachter schildern die Situation um etwa 23.30 Uhr: »Alles ist locker, fast entspannt. Das Haus brennt lustig weiter, als hätte es nie eine Feuerwehr in Deutschland gegeben. Niemand, der das Vergnügen der Glatzen stört. Die üben sich weiter im Molliweitwurf.« (taz, 26.8.)

Erst gegen 24 Uhr können die Vietnamesen mit Bussen evakuiert werden. Eine halbe Stunde nach Mitternacht treffen zwei BGS-Hundertschaften per Hubschrauber in Rostock ein. Bis etwa drei Uhr dauert es, bis diese das Umfeld des Flüchtlingsheims von den Rassisten geräumt haben.

Natürlich geht es auch anders

Am Tag darauf, dem Dienstag (25.8.) wird die Einsatzstrategie umgestellt. Der als oberster Einsatzleiter eingesetzte Landespolizeiinspekteur Heinsen verkündete, »jetzt (!) sei die Polizei dazu übergegangen, potentielle Gewalttäter zu beobachten«. (HA, 27.8.) »Mit allen der Polizei zur Verfügung stehenden Mitteln«, so Heinsen, sollten nunmehr »Ausschreitungen im Keim erstickt werden.« (NNN, 27.8.)

Tatsächlich waren bereits am Abend des Dienstag rund 1.600 gut ausgerüstete Polizisten und BGSler samt der zugehörigen Wasserwerfer aufgefahren. Die Bürger, die es sowieso nicht mehr gut fanden, daß mangels Ausländern ihre Autos angesteckt wurden, zogen sich bald zurück. Den in Siegestaumel verfallenen Nazis und Skins wurde in dieser und der darauffolgenden Nacht sehr handgreiflich und nachhaltig klargemacht, wer auf bundesdeutschen Straßen den Verkehr reguliert. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan.

Verharmlosungen, Rechtfertigungen, Lügen

Einen Tag nach dem Höhepunkt des Pogroms überboten sich die Verantwortlichen in dümmlichen oder zynisch-rassistischen Verharmlosungen. Die Feuerwehr bekam bei ihren Löschversuchen keinen Polizeischutz? »Schwierigkeiten in der Koordination« (Innensenator Magdanz, FR, 26.8.). Die Feuerwehr sei »zu einem üblichen Brandeinsatz gefahren«, dies laufe immer ohne Polizeischutz (der amtierende Einsatzleiter Deckert). Lebensgefahr für die Vietnamesen? »Die Polizei sieht das anders. ›Wenn es um den Rauch geht, hätten die doch bloß auf den Balkon zu gehen brauchen‹, meint Polizeisprecher Bernd Teichmann, und spricht im übrigen von einer ›Verkettung unglücklicher Umstände‹.« So habe just an diesem Abend der Wasserwerfer ein riesiges Leck gehabt. »Ihr Wagen geht doch auch mal kaputt – oder?« (HA, 26.8.) Für Innenminister Kupfer war alles bestens gelaufen, schließlich sei »keinem Asylbewerber auch nur ein Haar gekrümmt« worden. (taz, 29.8.)

Während der kritischen Stunden waren sowohl der polizeiliche Einsatzleiter Kordus als auch Innenminister Kupfer nicht erreichbar. Kordus behauptete, er habe seinen Posten verlassen, um »Eigenaufklärung« zu betreiben. Danach sei er nach Hause gefahren, um sich ein frisches Hemd zu holen. Die Behauptung des SPD-Fraktionschefs Ringsdorff, der ihn dort angerufen hatte, er habe geschlafen, weist Kordus weit von sich. Von Kupfer wurde exakt die gleiche Geschichte vom Hemdenwechsel aufgetischt, um seine mehrstündige Abwesenheit vom Schauplatz zu erklären.

Aber das sind Lappalien, an denen nur ihre zynische Kaltschnäuzigkeit von Interesse ist, wo es um 150 Menschenleben ging. Deren Überleben war ausschließlich darauf zurückzuführen, daß sie sich dank glücklicher Umstände selbst helfen konnten. Noch in der Nacht erklärte der Rostocker Polizeisprecher, »die Polizei sei von einem bereits im Laufe des Tages völlig geräumten Gebäude ausgegangen und habe deshalb nicht eingreifen wollen« (NNN, 26.8.).

Der erste Teil dieser Aussage ist eine unverfrorene Lüge: Tatsächlich hatte an diesem Tag schon um ca. 18 Uhr die PDS/LL-Bundestagsabgeordnete Andrea Lederer eben diesen Polizeisprecher, Bernd Teichmann, telefonisch darauf hingewiesen, daß sich ca. 150 vietnamesischen Bürgerinnen und Bürger in dem angegriffenen Haus aufhalten. »Herr Teichmann hat mir bestätigt, daß er sowie die Polizeidirektion, von der Anwesenheit der Vietnamesinnen und Vietnamesen Kenntnis habe«; die Polizei verfüge ebenfalls über noch unbestätigte Informationen, wonach weitere Angriffe zu erwarten seien und werde den Polizeischutz für die VietnamesInnen aufrechterhalten. (nach der Presseerklärung der Abgeordneten, vgl. ak 346) Auch der amtierende Einsatzleiter der Polizei, Deckert, war schon am späten Nachmittag von mehreren Seiten darauf hingewiesen worden, daß sich die VietnamesInnen in dem Heim aufhalten. Innensenator Magdanz und Bürgermeister Zöllick kannten diesen Umstand ebenfalls sehr genau. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Eingeständnis des Polizeisprechers, die Polizei habe nicht eingreifen wollen, eine ganz neue und viel dramatischere Qualität.

Dazu paßt die Tatsache, daß die Polizei über Stunden für die Eingeschlossenen telefonisch nicht erreichbar war. Von Innenminister Kupfer wurde das mit der – frei erfundenen – Behauptung quittiert, mit einem Funktelefon seien die Notrufnummern eben nicht anwählbar. Eine andere Schutzbehauptung lautete, die Telefone seien belegt gewesen. Dem stehen mehrere Presseberichte entgegen, wonach das TV-Team »fast zwei Stunden lang immer wieder die Polizei-Notrufnummern 110 und 112 (wählte) – niemand in der Zentrale nahm den Hörer ab«. (Abendzeitung, 26.8., vgl. auch BZ und FR) In jedem Fall müßte es für die Notruftelefone einen oder mehrere laut Dienstplan Zuständige geben. Über jeden eingehenden Notruf und die veranlaßten Maßnahmen wird zudem routinemäßig Protokoll geführt. Eine Aufklärung dieses Punktes wäre also relativ einfach. Daß sie nicht erfolgt, deutet auf ein starkes Vertuschungsinteresse.

Weitere Eigentümlichkeiten sind zu vermelden: Der Einsatzleiter des privaten Sicherungsdienstes, der ehemalige Kriminalpolizist Pauleweit, berichtete, wie auch an den Tagen und Nächten zuvor hätten sich vier Kriminalbeamte auf den Balkons des Heims aufgehalten, ausgerüstet mit Ferngläsern und Funksprechgeräten, und die Eskalation der Vorgänge beobachtet. Weil sie angeblich um ihr hinter dem Haus abgestelltes Auto bangten, hätten sie um 21 Uhr »das Gebäude mit einem Mal verlassen«. (Spiegel, 2.11.)

Just von diesem Abend fehlen auch alle Videoaufnahmen der Polizei: Der CamCorder des Beweissicherungs- und Dokumentationstrupps der Hamburger Polizei (der einzige?) sei durch einen Steinwurf außer Gefecht gesetzt worden, und auch der Dokutrupp der mecklenburgischen Polizei konnte kein Filmmaterial vorlegen. (Spiegel, 14.9.)

Auch sonst ist es um die Beweissicherung schlecht bestellt: Es sei »der größte Teil der in den drei Tagen erfolgten 231 Festnahmen keineswegs ›aktenmäßig‹ verarbeitet worden, ›wie es sich gehört‹«, so Oberstaatsanwalt Slotty. Polizeiliche Zeugenvernehmungen und »Personen-Abklärungen» existieren nicht, weil dafür keine Zeit gewesen sei. »Für peinlich genaue Ermittlungen fehlen nun sämtliche Voraussetzungen«, so Slotty, und es sei »zweifelhaft», ob sich die Hintergründe der bürgerkriegsähnlichen Krawalle »jemals genau aufdecken lassen«. (FR, 27.8.)

Vielleicht ist ja genau das erwünscht – wenn etwa das Gerücht wahr sein sollte, das sich in Rostock hartnäckig hält: daß nämlich »bei dem sogenannten Schichtwechsel am Montagabend, kurz bevor die ZAST brannte, eine Art Verhandlung zwischen der Polizei und Rechtsextremisten stattgefunden hat, bei der vereinbart worden ist, daß diese ins Haus durften«. Die PDS/LL im Bundestag hatte genau danach eine Anfrage gestellt, worauf die Bundesregierung kurz und knapp antwortete, ihr lägen dazu »keine Erkenntnisse vor«. (BT-Drucksache 12/3230)

Die Behauptung jedenfalls, der Rückzug der Polizei sei erfolgt, um erschöpfte Kräfte auszutauschen, ist aus mehreren Gründen abwegig: Zum ersten tauscht ein Polizeiführer natürlich keine Einheit aus, indem er sie herauszieht und dann anderthalb Stunden gar nichts tut, sondern er führt zuerst frische Kräfte heran, und erst dann und unter deren Deckung wird die erschöpfte Einheit aus den Auseinandersetzungen herausgelöst. Zum zweiten standen den Berichten zufolge auch gar keine frischen Kräfte zur Verfügung: Am frühen Abend waren laut »HA« (26.8.) ca. 600 Mann im Einsatz, dann wurden die Hamburger (ca. 300) herausgezogen und nach Hause geschickt. Blieben nach Adam Riese noch etwa 300 Mann. Die waren bereits vor Ort, und man konnte sie einsetzen oder eben nicht. Irgendwelche anderen auswärtigen Kräfte waren nicht im Anmarsch, weil keine angefordert worden waren. (Der BGS wurde erst wesentlich später gerufen.) Tatsächlich wurde also schlichtweg für fast zwei Stunden den Nazis das Feld überlassen.

Dabei standen die verfügbaren Kräfte nicht irgendwo, sondern es »hielten sich rund 250 Beamte mit Wasserwerfer am Reservestützpunkt auf«. (Bild, 26.8.) Dieser Reservestützpunkt lag am anderen Ende des brennenden Häuserblocks. Eine Vielzahl von Presseberichten und eidesstattlichen Erklärungen von Zeugen bestätigen, daß in unmittelbarer Nähe des Hauses mehrere Hundertschaften der Polizei bereitstanden. »›Von wegen zu wenig Leute‹, ereifert sich ein Polizist in der Kantine der Einsatzzentrale. ›Wir stehen hier seit vier Stunden rum und frieren.‹ … Fein säuberlich aufgereiht stehen auf dem Hof mindestens 20 Mannschaftswagen. Die Plastik-Rüstungen der Spezial-Kämpfer liegen zwischen den Autos auf dem Boden.« (Berliner Ztg., 26.8.; s.a. Welt, 7.9.) Auch noch um 24 Uhr, als die wenigen Polizisten, die die Feuerwehr schützen sollten, über Funk verzweifelt Verstärkung anfordern, sieht der taz-Berichterstatter auf dem Hof der Einsatzzentrale mindestens hundert Beamte untätig herumsitzen.

Die »Süddeutsche« fragte in dem schon zitierten Bericht auch nach dem »Skandal-Montag«. »Die Polizisten erzählen, daß die meisten der Kollegen der Ansicht seien, der verkorkste Einsatz sei aus irgendwelchen Gründen gewollt gewesen. ,Warum‹, spekuliert einer, ›weiß keiner so recht. Vielleicht sollte es einfach die große Katastrophe geben.‹ Einer sagt, wie sehr er sich gewundert habe, ›als wir plötzlich vom Heim weggezogen wurden‹. Ein anderer meint, schon den ganzen Tag über seien so ›merkwürdige Dinge‹ über Funk gelaufen, die keiner verstanden habe. Ein dritter, der in einer Hundertschaft nahe des Schauplatzes postiert war, weiß noch, wie sie alle den Kopf geschüttelt haben, als sie das brennende Haus gesehen haben, ›aber nicht los durften. Das darf doch nicht wahr sein.‹«

Ost-Polizei überfordert?

Wie viele andere auch hat das »Handelsblatt» (26.8.) eine wohlfeile Erklärung für das allseitige »Versagen« der Polizei zur Hand: sind eben Ossis, »… eine Polizeitruppe, die sich noch im Aufbau befindet, die mit altertümlicher Technik ausgerüstet ist und kaum über Erfahrung in der Bekämpfung von radikalen Kräften verfügt. Der Sicherheitsapparat in den neuen Ländern funktioniert noch lange nicht.«

Schlechte Ausrüstung und mangelnde Erfahrung – das mag für die Polizeieinheiten aus Rostock selbst zutreffen, die in viel zu geringer Zahl den Nazis entgegengeschickt wurden. Das trifft aber nicht für die Hamburger Einsatzhundertschaft zu, nicht für die Eliteeinheit MEK und nicht für die BGS-Truppen, die ebenfalls vor Ort waren. Und das trifft ebensowenig zu für all diejenigen Polizeieinheiten, die in Bereitschaftspolizei- und BGS-Kasernen in der gesamten BRD abrufbereit standen – und an deren Einsatz die Rostocker und mecklenburgisch-vorpommersche Polizeiführung ganz offenkundig nicht interessiert war.

An auswärtiger Unterstützung tatsächlich angefordert wurden: am Sonntag zwei Einsatzhundertschaften und zwei Einsatzzüge des BGS (die offenbar bis zum Abend des Montag wieder komplett nach Hause geschickt worden waren). Zwei BePo-Hundertschaften sowie das MEK (ca. 50 Mann) der Hamburger Polizei fuhren ab, als das Flüchtlingsheim brannte. Außerdem soll Sonntag nacht eine schleswig-holsteinische Hundertschaft in Rostock gewesen sein. »In der ganzen BRD«, jammerte der polizeiliche Einsatzleiter Kordus am Abend des Brand-Montags, »gibt es keine Unterstützungskräfte mehr.« (Berliner Ztg, 26.8.92) Die Unverfrorenheit dieser Lüge erhellen schon einige wenige Zahlen: Der BGS allein hat in den alten Ländern 22.000 Mann, in der ex-DDR zusätzlich 8.300 Stellen. Die sofort abrufbare oder kurzfristig mobilisierbare kasernierte Bereitschaftspolizei in den Bundesländern verfügt über weitere 26.000 Mann.

Tatsächlich wurde entweder überhaupt nicht oder nur in sehr geringem Umfang um Unterstützung nachgesucht. Die Bundesregierung erklärte, sie habe den Anforderungen nach BGS »in vollem Umfang entsprochen«. Berlin, wo bekanntermaßen zahlreiche straßenkampferfahrene Einheiten stehen, wurde gar nicht angefragt. In Düsseldorf ging das erste Hilfeersuchen am Dienstag (25.8.) ein und betraf lediglich die 60 Mann des nordrhein-westfälischen SEKs. »Alle weiteren Anforderungen der Mecklenburger, so ein Sprecher des Düsseldorfer Innenministeriums, bezogen sich dann bereits auf die Samstags-Demonstration.« (taz, 1.9.) Zur Antifa-Demo am Samstag, dem 29.8., hatte die Landesregierung allein aus NRW 500 Mann samt SEK erbeten und erhalten. Insgesamt wurden gegen die AntifaschistInnen 3.400 Mann und weitere SEKs aus Bayern, Baden-Württemberg, NRW, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein sowie Mecklenburg-Vorpommern selbst aufgeboten. »Zuvor hatte man sich bei allen Bundesländern erkundigt, wieviel Verstärkung sie liefern könnten.« (taz, 2.9.) Auch 13 Hubschrauber und 16 Wasserwerfer wurden angefordert und standen ganz selbstverständlich zur Verfügung. Der Kontrast zu den »Vorbereitungen» auf das angekündigte Pogrom könnte schlagender nicht sein.

Wohlmeinende Gemüter könnten nun zu bedenken geben, daß vielleicht Polizeiführer aus der VoPo-Zeit einfach die einschlägigen Dienstvorschriften, Verfahrensweisen und Amtswege des eingespielten bundesdeutschen Apparats noch nicht kannten. Doch ein kurzer Blick auf die Biografien der verantwortlichen Polizeioffiziere lehrt ein Schlechteres:

Die Bürgerkriegseinsätze der Polizei gegen die Anti-AKW-Bewegung Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, die offenbar für die ganze Truppe eine prägende Erfahrung darstellten, wurden vom damaligen schleswig-holsteinischen Innenminister Barschel geleitet. Viele der von Barschel schon damals und auch später als Ministerpräsident installierten und geförderten politischen Seilschaften haben sich unter der SPD-Regierung in Kiel Pionieraufgaben beim Aufbau des mecklenburg-vorpommerschen Staatsapparats gesucht. Entsprechender Korpsgeist darf ihnen unterstellt werden.

Jeder der aufgezählten westdeutschen Polizeiführer hatte intensive Schulungen über die Beherrschung von »Großlagen« durchlaufen, jeder von ihnen hatte praktische Erfahrung damit, welche Repressionspotentiale gegen linke Proteste in der BRD zur Verfügung stehen und wie sie eingesetzt werden. Und keiner von ihnen soll rechtzeitig auf die Idee gekommen sein, zum Telefonhörer zu greifen und ein paar Hundertschaften auswärtige Bereitschaftspolizei und BGS anzufordern?

Es kann ja wirklich Zufall sein, aber auffällig ist es schon: An jenem Abend hatten allein die »Brokdorf-Veteranen« (Deckert vor Ort, die Landespolizeiführung in Schwerin) das Sagen, während die eigentlich verantwortlichen Personen, Kordus und Kupfer, wegtauchten und auch der sozialdemokratische Oberbürgermeister Rostocks, Kilimann, der Sonntag nacht aus dem Urlaub gekommen war, die Stadt bereits wieder verlassen hatte.

»… hervorragende Arbeit geleistet«

Noch auffälliger ist die Deckung der Verantwortlichen von oben. Trotz des unübersehbaren und auch in der Presse breit diskutierten »Versagens« der Polizei – selbst der neue Rostocker Polizeipräsident Hempel sprach von »schweren Fehleinschätzungen«, »dieser Einsatz sei so unglaublich, so fehlerhaft gewesen, daß man kaum mehr an Schlamperei glauben könne« (SZ, 21.9.), die konservative Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund meinte, die »Einsatzplanung schreit zum Himmel« (Welt, 3.9.), – wurden keinerlei personelle Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Kordus durfte kurz darauf seinen versprochenen Posten als LKA-Chef antreten. Vom örtlichen Polizeiführer über den Innenminister bis zum Ministerpräsidenten des Landes stellte sich jeder vor seine jeweils Untergebenen. Deckert: »Einsatzziel voll erreicht«, Kordus: »schwere Fehler bei der Lenkung des Einsatzes habe es nicht gegeben«, gleichlautend Kupfer: »keine schwerwiegenden Fehler«. Ministerpräsident Seite: Kupfer habe »hervorragende Arbeit geleistet«. (FAZ, FR, taz, 26.8., konkret 10/92)

Wenn man weiß, wie gern in solchen Situationen Bauernopfer gebracht werden, könnte das verwundern. Vielleicht bieten die Worte des Einsatzleiters Deckert einen Erklärungsansatz: Die »Süddeutsche« (21.9.) hatte ihn gefragt: »Stimmt es denn, was man in den Gängen des Rostocker Rathauses erzählt, daß von der Landesregierung in Schwerin, vermutlich aus der Umgebung von Innenminister Kupfer, ›starker Einfluß‹ auf den Einsatz genommen wurde? Ob er denn auch schon von dem ungeheuren Verdacht gehört habe, daß eine Katastrophe im Asylbewerberheim sogar beabsichtigt gewesen sei? ›Kein Kommentar‹, sagt Jürgen Deckert, und fügt hinzu: ›Es gibt ja nun die beiden Untersuchungsausschüsse, und ich kann nur hoffen, die sind wirklich daran interessiert, die Wahrheit herauszufinden.‹« Enthält diese dunkle Anspielung eine versteckte Drohung gegen seine Vorgesetzten? Deckert hat immerhin bewußt 150 Menschen dem wahrscheinlichen Tod durch Rauch und Flammen ausgeliefert. Wenn er das ohne Wissen und Befehl seiner Vorgesetzten getan hat, was hätte diese daran hindern können, ihm die Schuld zuzuweisen und ihn zumindest wegen angeblicher Unfähigkeit zu feuern?

Alles spricht dafür, daß die Aussage des Innenministers Kupfer, »die Polizei habe unter Beweis gestellt, daß sie in der Lage gewesen sei, den Auftrag umzusetzen, den sie von ihm und von der Einsatzleitung bekommen habe« (FAZ, 26.8.), in ihrer vollen Tragweite der Wahrheit entspricht.

Hieb- und stichfeste Beweise für die staatliche Inszenierung des Rostocker Pogroms fehlen bisher. Aber es scheint uns schlechterdings unmöglich, ein halbwegs stichhaltiges Szenario zu konstruieren, in dem alle Fehleinschätzungen, Pannen und Ausfälle altgedienter Polizeiprofis, in dem die Unstimmigkeiten, Widersprüche und offenen Lügen in der offiziellen Darstellung der Abläufe erklärt und die zahlreichen offenen Fragen aufgelöst werden. Eine Vielzahl von Indizien bleibt, die in keines dieser Szenarien von Unfähigkeit, Dilettantentum oder »Verkettung unglücklicher Umstände« paßt.

Dagegen stellt sich eine bezwingende Logik der Ereignisse her, wenn wir von dem stillen Einverständnis oder einer ausdrücklichen Absprache der Verantwortlichen ausgehen, daß mit dem Pogrom von Rostock ein Durchbruch in der Asylgesetzfrage erzielt werden kann: durch ein in der BRD noch nie dagewesenes politisches Fanal, ein Flammenzeichen von brennenden Häusern und Menschen vor einer »Sieg Heil« brüllenden Volksmenge.