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Pandemie der Ungeimpften

Eine höchst ungleiche Verteilung von Vakzinen lässt weiterhin Millionen Menschen ungeschützt und das Virus frei mutieren

Von L. P.

Man sieht eine Frau in grünem Kleid, mit Maske, die eine Spritze aufzieht.
Weltweit erhielten bis zum 4. Januar 58,6 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis, in Niedriglohnländern liegt der Anteil bei nur 8,5 Prozent. WHO / Blink Media - Nana Kofi Acquah via Wikimedia , CC BY-SA 3.0 IGO

Vor über einem Jahr startete die Impfkampagne in Deutschland, und zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie war ein Ende in Sicht. Die Ankündigung des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), bis zum Sommer solle jede*r ein Impfangebot erhalten, sorgte für Zuversicht. Dieses Versprechen wurde zwar in Deutschland eingelöst, trotzdem ist die Pandemie noch immer nicht vorbei – denn Schutz in Deutschland reicht in einer globalisierten Welt nicht aus. Das ist kein Versagen der Medizin, sondern offenbart die Schwächen internationaler Institutionen, der liberalen Marktwirtschaft und das Fortbestehen neokolonialer Verhältnisse. Mittlerweile gibt es über 30 von der WHO zugelassene Impfstoffe. Die Entwicklung so vieler effektiver Vakzine ist ein Erfolg von Medizin und Pharmaindustrie. Obwohl die Impfung den Weg aus der Pandemie ebnen soll, steigen die weltweiten Infektionszahlen seit Oktober wieder an. Die Todeszahlen stagnieren. 

Das Problem liegt in der ungleichen Verteilung von Impfstoffen. Bis zum 3. Januar wurden 9,25 Milliarden Impfdosen verabreicht. Wäre der Impfstoff gerecht und gleich verteilt worden, hätte jeder Mensch bis jetzt mindestens eine Impfdosis erhalten. Das ist jedoch nicht passiert. Weltweit erhielten bis zum 4. Januar 58,6 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis, in Niedriglohnländern liegt der Anteil bei nur 8,5 Prozent. In Deutschland wurden bis zum 4. Januar im Gegensatz dazu 71 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. 

Die ungleiche Verteilung von Impfstoffen basiert auf der höheren Kaufkraft einkommensstarker Staaten. Die Impfdosen werden entsprechend der Prinzipien des liberalen Marktes verteilt – Regierungen werden zu Käuferinnen und wer mehr Geld hat, kauft mehr Impfstoffe. Die ungleiche Kaufkraft als Resultat neokolonialer Verhältnisse macht die aktuelle Situation nicht nur zu einem Ausdruck kapitalistischer, sondern auch neokolonialer Verhältnisse.

Maue Covax-Bilanz

Diese Entwicklung war aus diesem Grund vorhersehbar. Die Initiative Covid-19 Vaccines Global Access (Covax), die unter anderem von der WHO geleitet wird, arbeitet deshalb daran, jedem Staat Impfstoffe für mindestens 20 Prozent der Bevölkerung anbieten zu können. 

Dieses Ziel ist noch nicht erreicht. Auf dem afrikanischen Kontinent leben beispielsweise rund 1,2 Milliarden Menschen, durch Covax wurden rund 90 Millionen Impfdosen gespendet – genug für die erste Impfung von 13 Prozent der Bevölkerung. Insgesamt haben in Afrika 14 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfung erhalten. Die ungleiche Verteilung bleibt trotz Covax bestehen. 

Covax selbst kritisierte die schlechte Umsetzung der Impfstoff-Lieferungen. »Die meisten der bisherigen Spenden wurden ad hoc, ohne lange Vorankündigung und mit kurzer Haltbarkeitsdauer bereitgestellt«, heißt es in einer Pressemitteilung. Die Impfstoffe, die beispielsweise die deutsche Regierung bereitgestellt hat, waren größtenteils Vektorimpfstoffe und sind hierzulande mittlerweile Ausschussware

Die Gesamtbilanz von Covax liest sich nicht besser. Bisher wurden weniger als eine Milliarde Impfstoffe umverteilt, das sind rund zehn Prozent der produzierten Vakzine und nicht ausreichend, um in jedem Land eine Impfquote von mindestens 20 Prozent zu erzielen. Die restlichen 90 Prozent der verfügbaren Impfstoffe wurden basierend auf den Regeln des Marktes verteilt. 

Wäre der Impfstoff gerecht und gleich verteilt worden, hätte jeder Mensch weltweit bis jetzt mindestens eine Impfdosis erhalten.

Diese Entwicklung zeigt einmal mehr, dass die Annahme, die unsichtbare Hand des Marktes würde Probleme am effizientesten lösen, falsch ist. Anders als Adam Smith einst behauptete, fördert es nicht immer das Allgemeinwohl, wenn alle ihren eigenen Interessen nachgehen. 

Das Vorgehen westlicher Regierungen ist epidemiologisch zu kurz gedacht, und internationalen Institutionen mangelt es an Durchsetzungskraft. Die hohen Impfquoten in einzelnen Ländern tragen nur bedingt zum Ende der Pandemie bei, wenn das Infektionsgeschehen an anderen Orten ungehindert weitergeht und dadurch potenziell gefährlichere Virusvarianten entstehen, die den bisherigen Impfschutz umgehen können. Das schadet nicht nur Staaten, die keinen ausreichenden Zugang zu Impfstoffdosen haben, sondern auch Staaten mit hoher Impfquote. 

Grenzen dicht

Fehlende globale Kooperation wird jedoch nicht nur bei der Verteilung von Impfstoffen deutlich. Als die Entdeckung der neuen Virusvariante Omikron öffentlich wurde, erließen westliche Regierungen Einreiseverbote für Menschen aus dem südlichen Afrika – und das, obwohl die neue Virusvariante zu diesem Zeitpunkt bereits in europäischen Staaten wie Großbritannien und Belgien nachgewiesen worden war. Die innereuropäischen Grenzen blieben geöffnet, Reisebeschränkungen galten nur für Südafrika, Botswana, Lesotho, Eswatini, Namibia, Zimbabwe, Malawi, Mozambique, Sambia und Angola. Mit Ausnahme von Südafrika und Botswana wurde die neue Virusvariante zu diesem Zeitpunkt jedoch in keinem der afrikanischen Länder entdeckt. 

»Was sich jetzt abspielt, ist unvermeidlich, weil die Welt es versäumt hat, in gerechter, dringender und schneller Weise zu impfen«, sagt Dr. Ayoade Alakija, Co-Vorsitzende der African Union’s Vaccine Delivery Alliance (dt. Allianz der Afrikanischen Union zur Lieferung von Impfstoffen), in einem Interview mit BBC. »Es ist das Ergebnis der Hortung von Impfstoffen durch die einkommensstarken Länder der Welt, und es ist, offen gesagt, inakzeptabel. Diese Reiseverbote beruhen auf politischen Erwägungen und nicht auf Wissenschaft.« Einreiseverbote seien keine Lösung des Problems, stattdessen verdeutlichten sie die noch immer koloniale Beziehung zwischen Europa und Afrika. Sie seien »eine Kurzschlussreaktion, damit wir die Menschen in unseren Ländern davon überzeugen können, dass wir die ungeimpften Afrikaner fernhalten«, so Alakija. 

Um ein solches Szenario zu vermeiden, hatten Indien und Südafrika bereits am 2. Oktober 2020 einen Antrag zur Aussetzung der Patente von Impfstoffen und Medikamenten beim Rat für geistiges Eigentum der Welthandelsorganisation eingereicht. Der Rat diskutierte den Antrag, konnte sich jedoch nicht einigen.

»Es ist ein Skandal, denn wir wussten, dass wir an diesen Punkt kommen würden. Wir wussten, dass der fehlende Verzicht auf geistiges Eigentum und die mangelnde Zusammenarbeit uns zu einer gefährlicheren Variante bringen würde«, sagt Alakija. Doch obwohl genau dieser Fall nun eingetreten ist, weichen die Industrienationen nicht von ihrem Standpunkt ab. 

Die Pandemie führt somit nicht nur die fehlende internationale Solidarität vor Augen. Es wird auch deutlich, wie wenig Einfluss Regierungen und internationale Institutionen auf private Konzerne und die Dynamiken des freien Marktes haben. Die noch immer hohen Fallzahlen und die neuen Virusmutationen zeigen jedoch, dass weder auf nationale Strategien noch auf den freien Markt Verlass ist. Die Pandemie kann nur solidarisch mit dem Rest der Welt beendet werden, auf eine globale Krise gibt es keine nationale Antwort.